Leben ist Entwicklung und Weitergabe Vom ersten Moment der Zeugung an bis hin zu unserem Tod entwickeln wir Menschen uns ständig fort. Jeder weiß das und muss das für sich selbst akzeptieren lernen. Es gibt keinen Stillstand. Und so gehen auch die vielen verschiedenen Rollen im Leben, die abhängig sind vom Stand unserer jeweiligen Entwicklung, zumeist ungefragt auf uns über und sind nicht diskutierbar. Vom Baby werden wir zum Kleinkind, dann Schulkind und Jugendlicher. Mal sind wir kleines Geschwisterchen, mal großes. Vom jungen Erwachsenen werden wir zum Partner, vom Kind im Haus vielleicht selber zu Vater oder Mutter, später dann auch zu Oma oder Opa. Wie schaffen wir es, diese Veränderungen anzunehmen und in den meisten Fällen auch noch zu genießen? Wieder liegt es in unserer Natur. Wir wollen immer weiter, Neues erkunden, Neues ausprobieren und mehr schaffen. Wir wollen wachsen, äußerlich und innerlich und freuen uns auf Herausforderungen. Woher aber nehmen wir den Mut dazu? Schauen wir unsere Kinder an! Sie werden mit der so wichtigen Eigenschaft Neugier geboren. Vom ersten Moment an erforschen sie unermüdlich alles, was in ihren Möglichkeiten liegt. Das allein aber macht noch keinen Mut. Es macht allenfalls Schrammen und Beulen. Jetzt aber kommen wir Erwachsene ins Spiel. Wir passen auf unsere Kinder auf, wenn sie beginnen die Welt zu erobern. Wir versuchen, sie vor Unfällen zu bewahren, und auch wenn wir nicht verhindern können, dass sie mal hinfallen oder sich verletzen, immer stehen wir als große, schützende oder tröstende Macht hinter ihnen, die zeigt: Sei ruhig weiter 28
neugierig, denn etwas wirklich Schlimmes kann dir nicht passieren! Das Urvertrauen in diese ersten, engen Bezugspersonen, in den Fallschutz, den sie bieten das macht Mut! Und so gehen Kinder weiter. Wir reichen ihnen die Hand, wenn sie mal wieder hinfallen, und lassen doch erneut los, immer wieder, bis sie so sicher sind, dass sie endgültig auf eigenen Füßen allein die Welt erobern wollen. Und dass sie das tun, ist gut so. Sie müssen eigene Wege gehen lernen, auch wenn es nicht die goldenen Königswege sein mögen. Wer weiß das schon vorher. Wir sind auch nicht immer die Wege gegangen, die unsere Eltern für die besten hielten. Eine ganz wichtige Erfahrung müssen wir Erwachsenen bis dahin jedoch unseren Kindern mitgegeben haben. Ein Baby kommt auf die Welt und will zunächst alles haben und dürfen, aber um Himmels Willen nichts dafür tun. Als Parasiten am Leib unserer Mutter werden wir Menschen gezeugt und wir blieben es unser Leben lang, wenn wir nicht durch Erziehung lernen würden, dass wir von dieser Welt nur so viel bekommen können, wie wir in der Lage sind, dieser Welt zu geben. Dies ist jedoch ein langsames und schrittweises Lernen, denn diese Erkenntnis erlangen wir nicht über Nacht. Aus Elternsicht bedeutet das leider: Auch die besten Eltern dieser Welt dürfen nicht von ihren Kindern erwarten, dass diese glücklich darüber sind, erzogen zu werden. Wäre Kinderzufriedenheit das oberste Ziel der Kindererziehung, würden wir unsere Kinder zu lebensunfähigen Ego-Monstern heranwachsen lassen, die in unserer Gesellschaft der wechselseitigen Abhängigkeiten keinen Platz finden könnten, außer vielleicht als Testspieler für Ego-Shooter- Spiele. 29
Erst dadurch, dass wir in unserer Kindheit lernen, alles in Beziehungen ist ein Tauschgeschäft, nehmen wir zumeist doch so gerne im späteren Leben auch die Rolle einer Mutter oder eines Vaters ein. Wir wissen aus unserer eigenen Erfahrung, dass wir das, was wir in die Beziehung zu unseren Kindern hineinstecken, genauso zurückerhalten können. Und wir wissen, es bedeutet erst einmal sehr viel mehr Geben als Nehmen, die Rollen von Mutter und Vater auszufüllen, haben doch Kinder, wie erwähnt, zunächst so erschreckend parasitäre Eigenschaften. Schon nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bohren sie sich ungefragt in den Kreislauf der Mutter wie eine Zecke und sie spürt es oft an der morgendlichen Schwangerschaftsübelkeit, die sie dann auch noch mit dem glücklichen Schatz, ich bin schwanger beantworten soll. Kaum sind Kinder auf der Welt, beanspruchen sie rund um die Uhr die völlige Aufmerksamkeit der bestenfalls beiden vorhandenen Eltern, die sie jederzeit wickeln, füttern, waschen oder liebhalten müssen, um nicht von ohrenbetäubendem Gebrüll tyrannisiert zu werden. Was aber bedeuten die Rollen von Mutter und Vater noch? Nehmen wir einmal an, Mütter spielen gerade am Anfang des Lebens ihrer Kinder die entscheidende Rolle für die Gefühle von Wärme, Nähe, Geborgenheit und Urvertrauen. Die Bindung, die dadurch in der Schwangerschaft und Säuglingszeit zwischen ihnen entsteht, ist ein so festes Band, dass Mütter emotional nicht ersetzbar werden, nicht einmal vom Vater, der bestenfalls emotional ergänzen kann. Für den Rest ihres Lebens vermag diese Verbundenheit zwischen Mutter und Kind bestehen zu bleiben und gegenseitig Stütze und Halt zu bieten, die sich den weiteren Veränderungen im Leben problemlos anpassen kann. 30
Ich habe selbst als junger Vater einen Eindruck davon bekommen, wie dieses Band entsteht, während wir selber wiederum bestenfalls entlastendes Beiwerk sind. Wir Väter können unsere Partnerinnen zur Schwangerschaftsgymnastik begleiten und lernen, die Bauchmuskeln zu trainieren, um dabei den Sinn des Hechelns in den Presswehen zu verstehen. Wir können und sollten auch im Kreißsaal an der Seite des Bettes sitzen, die Hand der Partnerin halten, ihr gegebenenfalls helfen, sich in den Wehenpausen zu entspannen und ihr das Gefühl geben, nicht allein der ängstigenden und furchtbar schmerzhaften Entbindungssituation ausgeliefert zu sein. Und wir können den frischgebackenen Müttern unserer Kinder die anfänglichen Mühen erleichtern, indem wir die Kleinen waschen, wickeln, liebhalten, füttern und kilometerweise nachts um zwei Uhr um den Wohnzimmertisch tragen, wenn sie mal wieder mitten in der Nacht nicht schlafen können. Aber wo ist unsere Existenzberechtigung als Vater? Auch diese Frage kann ich nur mit einer Hypothese beantworten. Nach der Geburt können wir die ersten Blickkontakte mit unserem neugeborenen Stückchen Unsterblichkeit aufnehmen, von dem wir schon den göttlichen Funken der Lebensschaffung mit unserer Partnerin haben teilen dürfen. Und wir wissen, wir sind dadurch für den Rest unseres Lebens an unser Kind gebunden worden, für das wir uns verantwortlich zeigen müssen. Diese Verantwortung liegt darin, unserem Sprössling die Grundlagen für Gefühle wie Selbstwert, Selbstvertrauen und Stolz zu geben. Sie zucken jetzt vielleicht zusammen bei diesem leider so schrecklich missbrauchten Wort Stolz. Natürlich bin ich mir der historischen Problematik dieses Wortes bewusst und nach den grauenvollen Verirrungen des Nationalsozialismus muss 31
schon deutlich gemacht werden, was ich mit Stolz meine und was nicht. Wir Väter haben die Möglichkeit und die Pflicht, unseren Kindern zu helfen, selbstbewusste und mit sich im Einklang lebende Persönlichkeiten zu werden, und wir können uns so darüber hinwegtrösten, dass unsere Kinder im Allgemeinen ihre Gefühle eher mit ihren Müttern teilen, während sie uns Vätern zeigen, welche Stärken sie bei sich finden. Natürlich ist jetzt der Einwand berechtigt, viele Familien lebten nicht mehr im Bausparkassen-Modell: Papa, Mama, Kind, Eigenheim zusammen. Ich will nun wirklich keiner Mutter einreden, sie müsse bei einem Mann bleiben, den sie nicht mehr ertragen kann, nur um die Entwicklung ihrer Kinder nicht zu behindern. Keinem Kind ist geholfen, wenn es erleben muss, wie seine Eltern im Dauerstreit leben, die Mütter zwischen Depression, Alkohol und/oder Valium ihr Dasein fristen, die Väter sich in die Arbeit, ins Fremdgehen oder ebenfalls zum Alkohol flüchten. Und hinterher muss das Kind hören, seine Eltern haben all das nur erduldet, damit es ihm gut geht. Eine geschiedene Mutter, die ein einigermaßen zufriedenes Leben führt und neue Partnerschaften lebt, ist für ein Kind besser als eine chronisch unzufriedene, die bei jeder Gelegenheit durchblicken lässt, es würde allen besser gehen, wenn die Kinder nicht wären. Egal aber, ob getrennt lebend oder nicht, Väter sollten ihre Bedeutung für ihre Kinder nicht unterschätzen. Ich erkläre ihre Rolle gerne an einem Beispiel aus dem Sport: Wir Väter sind wie die Wertungsrichter beim Eiskunstlaufen. Wir sitzen etwas abseits vom Geschehen, aber unsere Kinder schauen immer wieder zu uns. Wir müssen dann als Erster die Wertungstafeln mit der Höchstnote hochhalten und unseren Kindern zeigen: Du bist das beste Kind, das 32