Bindungsdiagnostik in der mittleren Kindheit in der Erziehungsberatung

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Transkript:

Bindungsdiagnostik in der mittleren Kindheit in der Erziehungsberatung In diesem Artikel wird die Bedeutung der Bindungsdiagnostik für die Erziehungsberatung beschrieben. An Hand eines konkreten Konzeptes einer Bindungsdiagnostik in der mittleren Kindheit (Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung 5-bis 8-jähriger Kinder GEV-B) wird aufgezeigt, wie mit dieser diagnostischen Erhebung Elternberatung qualifiziert bereichert werden kann. Zunächst wird die Konzeption des Diagnostikinstruments beschrieben, um dann deren Anwendung anschaulich an einem Fallbeispiel zu verdeutlichen. Kaum ein anderes Konzept hat die Entwicklung der Erziehungsberatung in den letzten Jahres so sehr beeinflusst wie die Bindungstheorie. Insbesondere durch einen starken Ausbau der Frühen Erziehungsberatung, die die Beratung von Eltern in den ersten drei Lebensjahren von Säuglingen und Kleinkindern umfasst, ist die wesentliche Bedeutung der Bindung zwischen den Eltern zu ihren Kindern für die positive Entwicklung von Kindern herausgearbeitet worden. Ein wichtiges Konzept stellt die Entwicklungspsychologische Beratung von Eltern von Säuglingen und Kleinkindern dar, die mit Hilfe von Videoaufzeichnungen die Interaktion der Eltern mit ihren Kindern untersucht und die Eltern darauf aufbauend unterstützt, einen feinfühligen Umgang mit ihren Kindern zu entwickeln. In den letzten Jahren wurden allerdings auch für ältere Kinder und ihre Eltern Verfahren entwickelt, bei denen die Bindungsqualität von Kindern untersucht wird. Das Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung 5- bis 8-jähriger Kinder (GEV-B) 2009 erschien eine Veröffentlichung der beiden Professorinnen Gabriele Gloger-Tippelt und Lilith König, die das Geschichtenergänzungsverfahren für 5- bis 8-jährige Kinder entwickelt haben, das im Hinblick auf die Bindungsstrategien der Kinder ausgewertet werden kann. Dieses Diagnostikverfahren geht davon aus, dass Kinder in diesem Alter ein inneres Arbeits- und Repräsentationsmodell von Bindung entwickelt haben, das eine Vorstellung darüber abbildet, wie wesentliche Bindungspersonen auf Bindungsbedürfnisse von Kindern reagieren. Es wird angenommen, dass Kinder im kindlichen Spiel diese Bindungsstrategien zum Ausdruck bringen und aus dem gespielten Verhalten abgelesen werden kann, welche inneren Vorstellungen von Elternbildern die untersuchten Kinder entwickelt haben. Aus diesen inneren

Bindungsmodellen der Kinder können Rückschlüsse auf das Verhalten der Eltern ihren Kindern gegenüber gezogen werden. Aus einer bestimmten Bindungsstrategie kann ebenfalls die Art der Emotionsregulation des Kindes abgeleitet werden. Im Geschichtenergänzungsverfahren werden den Kindern kleine Geschichten angespielt, in denen relevante emotionale Situationen anklingen (z.b. Umgang mit Angst, Umgang mit Trennungssituationen, Umgang mit Wiedersehensfreude). Die Kinder spielen die Geschichten weiter. Aus dem Spiel der Kinder wird abgeleitet, wie sie auf diese Spielsituationen reagieren und wie sie mit den daraus resultierenden Gefühlen umgehen. Abgeleitet von der Bindungstheorie geht das GEV-B davon aus, dass vier wesentliche Bindungsstrategien unterschieden werden können. Eine sichere Bindungsstrategie zeichnet sich durch eine fürsorgliche Elternreaktion auf emotional schwierige Situationen von Kindern aus. Eltern lassen Gefühle von Kindern wie Angst, Schmerz, Freude zu und gehen emotional zugewandt auf die Bedürfnisäußerungen der Kinder ein. Sicher gebundene Kinder können auch schwierige Gefühle frei äußern und nehmen Hilfestellungen der Eltern an. Bei einer unsicher-vermeidenden Bindungsstrategie würden Kinder Emotionen nur abgeschwächt oder gar nicht zeigen und nicht erwarten, dass Elternpersonen auf diese Äußerungen von Kindern eingehen. Über Gefühle wird einfach hinweggegangen, als wären sie nicht bedeutsam. Eine unsicher-ambivalente Bindungsstrategie wird darin deutlich, dass Kinder emotionale Situationen sehr dramatisch darstellen und es zu einer Gefühlsüberflutung kommt, die von Erwachsenen nicht ignoriert, aber auch nicht behoben werden kann. Diese Gefühlsüberflutung führt bei Kindern eher zu einer Hilflosigkeit und einem Abhängigkeitsgefühl den eigenen Gefühlen gegenüber. Bei einer Bindungsdesorganisation reagieren Kinder auf emotionale Situationen mit bizarren, eskalierenden und ängstigenden Reaktionen, die bei ihnen nicht zu einer Beruhigung der Situation führen, sondern im Gegenteil zu einer deutlichen Verschlechterung der Situation beitragen. Diese Kinder haben keine Vorstellung davon, dass eine emotionale Situation gut verlaufen kann, sondern sie nimmt unweigerlich eine gefährliche Entwicklung. Viele Kinder mit einer Bindungsdesorganisation haben schwerwiegende traumatische, vernachlässigende oder unsichere Erfahrungen erlebt. Im Geschichtenergänzungsverfahren werden den Kindern vom Diagnostiker 5 kleine Geschichten angespielt, die die Kinder dann weiter und zu Ende spielen sollen. Danach werden die Kinder nach den Gefühlen und den Gedanken der zentralen Spielfigur befragt. Das gesamte Spiel wird auf Video aufgezeichnet.

Bei den 5 Geschichten handelt es sich jeweils um 5 kleine Familiensituationen, bei denen die zentrale Spielfigur in einen emotionalen Konflikt gerät. In der ersten Geschichte verschüttet ein Kind am Tisch seinen Saft. Das untersuchte Kind soll nun weiterspielen, was dann passiert. Reagieren die Eltern fürsorglich und geben ihm neuen Saft oder wird das Kind ausgeschimpft oder sogar vom Tisch weggeschickt. Außerdem wird das Kind befragt, wie das Kind sich am Ende der Geschichte nach diesem kleinen Missgeschick fühlt. In der zweiten Geschichte verletzt sich ein Kind. Dabei wird beobachtet, ob die Eltern das Kind trösten und wie das Kind mit dem Schmerz umgeht. In der dritten Geschichte kommt ein Kind zu den Eltern gelaufen und sagt: In meinem Zimmer liegt ein Monster unter meinem Bett. Die letzten beiden Geschichten greifen eine Trennungs- und eine Wiedersehenssituation zwischen den Eltern und dem Kind auf. Dabei geht es darum, wie die Kinder auf die Trennung reagieren und wie das Wiedersehen verläuft. Die Videoauswertung erfolgt mit einer standardisierten Kodiertabelle, bei der ein jeweiliger Spielverlauf einem bestimmten Bindungsmuster zugeordnet wird. Es werden im Wesentlichen das Verhalten der Eltern in den Spielsituationen und die Gefühlsäußerungen des Kindes ausgewertet. Beim Verhalten der Eltern wird bewertet, ob sie liebevoll und fürsorglich, desinteressiert und abweisend oder sogar strafend reagieren. Beim Spielverhalten der Kinderfiguren wird beobachtet, ob Gefühlsäußerungen sichtbar werden oder nicht, wie situationsangemessen sie gezeigt werden und ob es eine gute Lösung gibt. Jede der 5 Geschichten wird einzeln ausgewertet und im Hinblick auf einen vorherrschenden Bindungsstil interpretiert. Das Geschichtenergänzungsverfahren ist wissenschaftlich untersucht worden und hat sich als ein zuverlässiges und valides Instrument zur Erfassung des kindlichen Bindungsstils erwiesen.

Ausgehend von dem diagnostizierten Bindungsstil und der darauf folgenden Emotionsregulation können Eltern wichtige Hinweise für die Unterstützung ihrer Kinder gegeben werden. Das folgende Praxisbeispiel soll die Integration der diagnostischen Ergebnisse in die Elternberatung verdeutlichen. Anwendung des Geschichtenergänzungsverfahrens in der Elternberatung Frau T. (anonymisierte Fallbeschreibung) kommt auf Empfehlung der Schule in die Erziehungsberatung, da ihr 7-jähriger Junge sich sozial auffällig in der 1. Klasse verhält. Dennis wird von der Lehrerin als sehr zurückgezogen und sozial isoliert beschrieben. Einmalig hatte Dennis einen Wutanfall, bei dem er ein anderes Kind geschlagen hat. Die Eltern haben sich getrennt, als Dennis 4 Jahre alt war. Die Mutter ist alleinerziehend und hat das alleinige Sorgerecht. Zum leiblichen Vater besteht nur ein sporadischer Kontakt. Dennis hat kaum sichtbar auf die Trennung reagiert und beklagt sich auch nicht über den seltenen Kontakt zum Vater. Die Mutter beschreibt Dennis als ein ruhiges Kind, das sich sehr ausgeprägt selbst beschäftigt und im Umgang sehr pflegeleicht ist. Allerdings hatte er nach einer schwierigen Geburt psychomotorische Entwicklungsschwierigkeiten, so dass er einige Jahre Psychomotorikförderung erhielt. Er ist Einzelkind und verabredet sich selten mit anderen Kindern. Mit der Mutter wird verabredet, dass zur Einschätzung der Situation ihres Sohnes eine Spielstunde mit Dennis erfolgen soll. Das Geschichtenergänzungsverfahren wird dabei eingesetzt, um einen Hinweis auf das Bindungsverhalten und die Emotionsregulation zu erhalten. Dennis ist in der Spielsituation ein zurückhaltender aber freundlicher Junge, der sich gut auf das Spielen mit dem GEV-B. einlässt. In der Geschichte mit dem verschütteten Saft, reagiert Dennis so, dass die Spielfigur Jan den Saft schnell wegwischt und sich selbst neuen Saft einschenkt. Im Spiel scheint das Missgeschick keine starken Gefühle auszulösen. Auf die Frage, wie die Spielfigur sich fühlt, sagt Dennis hingegen schlecht. Es wird deutlich, dass die Spielfigur sich Selbstvorwürfe macht, da etwas misslungen ist. Bei den weiteren Geschichten spielt Dennis ebenfalls schnell und scheinbar unberührt die Geschichten zu Ende. Bei der Trennungsgeschichte beispielsweise gehen die Kinder schnell ins Bett als die Eltern weggefahren sind. Bei der Rückkehr der Eltern gibt es fast keine Begrüßungsgesten und keine Wiedersehensfreude. Die Auswertung des GEV-B ergibt, dass Dennis vermeidend mit emotionalen Konfliktsituationen umgeht. Er zeigt wenig Bedürfnis nach Unterstützung durch die Elternfiguren. Die Eltern reagieren ebenfalls sehr distanziert. Insgesamt bestehen

Hinweise auf eine unsicher-vermeidende Bindungsstrategie und einen vermeidenden Umgang mit Emotionen. In der Elternberatung wird gemeinsam mit der Mutter die erste Geschichte, die per Video aufgezeichnet wurde, angeschaut. Nach der Antwort von Dennis, dass es der Spielfigur schlecht geht, fängt die Mutter an zu weinen. In diesem Moment wird die innere Not ihres Kindes für die Mutter stark spürbar. Es wird deutlich, wie sehr er sich Selbstvorwürfe macht. Die Mutter erzählt dann sehr betroffen von ihrer eigenen Geschichte. Ihre beiden Eltern waren Alkoholiker, so dass sie schon sehr früh selbstständig werden musste und wenig umsorgt wurde. Vom Vater von Dennis wurde sie geschlagen. Während der Beziehung und direkt nach der Trennung ging es ihr persönlich sehr schlecht. Auf Grund ihrer eigenen Geschichte will sie Dennis unbedingt eine geborgene Kindheit ermöglichen, so dass es sie sehr betroffen gemacht hat zu sehen, dass ihr Sohn starke innere Konflikte erlebt, die er aber nicht ausdrückt. Wir besprechen, dass Dennis eventuell nach der schwierigen Familiensituation der Trennung sich und seine Bedürfnisse zurückgestellt hat. Vielleicht wollte er auch die Mutter schonen, in dem er sich sehr angepasst und pflegeleicht verhalten hat. Da Dennis seine eigenen Bedürfnisse nicht klar mitteilt, wird mit der Mutter besprochen, auf welche Weise sie seine Bedürfnisse wahrnehmen oder ansprechen kann, so dass Dennis lernt, dass es gut ist, wenn man offen seine Gefühle zeigt und er erfährt, dass Erwachsene da sind, die auf seine Gefühle eingehen. In dieser Fallgeschichte wird deutlich, wie gut das GEV-B geeignet ist, einen nachvollziehbaren Eindruck von der Dynamik eines Kindes bezüglich seiner wichtigen Bindungspersonen und seines Umgangs mit Emotionen zu gewinnen. Das Geschichtenergänzungsverfahren eignet sich ebenfalls dafür, Eltern eine differenzierte Rückmeldung über ihre Kinder zu geben. Ausgehend von den Rückmeldungen kann man mit den Eltern erarbeiten, auf welche Weise sie ihr Kind im Umgang mit Bindungsbedürfnissen und bei der Emotionsregulation unterstützen können. Literatur: Berg, M. (2013) Bindungswissen und Bindungsdiagnostik in der Erziehungsberatung, ZKS-Verlag, Weitramsdorf-Weidach Berg, M. (2017) Die Anwendung des Geschichtenergänzungsverfahrens zur Bindung (GEV-B) in der Beratungspraxis aus Götting, G./ Bromann,C. u.a. (Hrsg) Zeit geben Bindung stärken, Juventaverlag, Weinheim Gloger-Tippelt, G./ König, L. (2009) Bindung in der mittleren Kindheit Das Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung 5- bis 8-jähriger Kinder (GEV-B), Beltz Verlag, Weinheim