Benjamin Jörissen Jörg Zirfas (Hrsg.) Schlüsselwerke der Identitätsforschung

Ähnliche Dokumente
Bernd Nitzschke (Hrsg.) Die Psychoanalyse Sigmund Freuds

Georg Ruhrmann Jutta Milde Arne Freya Zillich (Hrsg.) Molekulare Medizin und Medien

Otger Autrata Bringfriede Scheu. Soziale Arbeit

Thomas Geisen. Arbeit in der Moderne

Gunther Graßhoff. Zwischen Familie und Klassenlehrer

Marina Brandes. Wie wir sterben

William K. Frankena. Ethik. Eine analytische Einführung 6. Auflage

Andreas Hadjar (Hrsg.) Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten

Armin Klein (Hrsg.) Gesucht: Kulturmanager

Gentechnik geht uns alle an!

Ralf Bohnsack Iris Nentwig-Gesemann Arnd-Michael Nohl (Hrsg.) Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis

Anjes Tjarks. Familienbilder gleich Weltbilder

Andrea Hausmann. Kunst- und Kulturmanagement

Christine Riegel Thomas Geisen (Hrsg.) Jugend, Zugehörigkeit und Migration

Emotionen, Sozialstruktur und Moderne

Thomas von Winter Ulrich Willems (Hrsg.) Interessenverbände in Deutschland

Sandra Rademacher. Der erste Schultag

Zeitmanagement in der beruflichen Bildung

Deutsch für Ärztinnen und Ärzte

Ulrich Gebhard. Kind und Natur

Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Stereotype?

Wenn Eltern sich streiten

Soziale Arbeit in Theorie und Wissenschaft. Herausgegeben von E. Mührel, Emden, Deutschland B. Birgmeier, Eichstätt, Deutschland

Diskutieren Sie aufbauend auf Lothar Krappmanns Überlegungen die Frage, was es heißen kann, aus soziologischer Perspektive Identität zu thematisieren?

Nikolaus Werz. Reinhard Nuthmann (Hrsg.) Abwanderung und Migration in Mecklenburg und Vorpommern

Bettina Heberer. Grüne Gentechnik. Hintergründe, Chancen und Risiken

Pädagogik und Gesellschaft

Felix Huth. Straßenkinder in Duala

Praxiswissen Online-Marketing

Alice Sendera Martina Sendera. Skills-Training bei Borderline- und Posttraumatischer Belastungsstörung. 4. Auflage

Alfred Böge I Walter Schlemmer. Lösungen zuraufgabensammlung Technische Mechanik

Aktuelle Herausforderungen in der Wirtschaftsförderung

Berufswahl und Bewährung

Simone Pfeffer. Krankheit und Biographie

Peter tom Suden. Die elektronische Rechnung in Handels- und Steuerrecht

Uwe Flick. Triangulation

Birgit Baur-Müller. Westliche Heilpflanzen in der chinesischen Medizin. Von der Musterdiagnose zur Rezeptur

Iris Winkler. Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht

Springer Spektrum, Springer Vieweg und Springer Psychologie.

Zukunftsorientierte Unternehmenssteuerung in der Energiewirtschaft

Akteure der Außenpolitik. Herausgegeben von T. Jäger, Köln, Deutschland

Was Coaching wirksam macht

Familienforschung. Herausgegeben von A. Steinbach, Duisburg, Deutschland M. Hennig, Mainz, Deutschland O. Arránz Becker, Köln, Deutschland

Werner Poguntke. Keine Angst vor Mathe

Weiterbildung Schmerzmedizin

Islam und Politik. Herausgegeben von K. Schubert, Münster, Deutschland

Georg Simmel, Rembrandt und das italienische Fernsehen

Kathrin Fahlenbrach Ingrid Brück Anne Bartsch (Hrsg.) Medienrituale

Politikwissenschaft für die Soziale Arbeit

Grundlagen der doppelten Buchführung

Band II Heinz-Hermann Krüger Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft

William K. Frankena. Ethik. Eine analytische Einführung. 6. Auflage. Herausgegeben und übersetzt von Norbert Hoerster

Berufswege von Alumni einer Filmhochschule

Veronika Tacke (Hrsg.) Organisation und gesellschaftliche Differenzierung

Stefan Kühl. Projekte führen. Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung

Gerd Czycholl. Theoretische Festkörperphysik Band 1. Grundlagen: Phononen und Elektronen in Kristallen 4. Auflage

Soziologische Theorien

Einführung in die Konfrontative Pädagogik

Masken und Maskierungen

Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz

1 Was ist die Aufgabe von Erziehung? Erziehung als Reaktion auf die Entwicklungstatsache Der Erziehungsbegriff Klaus Beyers...

Coaching in der Sozialwirtschaft

Frühförderung mit Kindern psychisch kranker Eltern

Kompendium der medikamentösen Schmerztherapie

Dominik Petko (Hrsg.) Lernplattformen in Schulen

Gunter Groen Franz Petermann. Wie wird mein. Kind. wieder glücklich? Praktische Hilfe gegen Depressionen

Jugend, Migration und Sport

Gravitation und Physik kompakter Objekte

Ideengeschichte der Physik

Bewusstsein nach Freud,Adler und Jung

Förderung der Autonomieentwicklung im Umgang mit Kinderliteratur in der Grundschule

Springer essentials sind innovative Bücher, die das Wissen von Springer DE in kompaktester Form anhand kleiner, komprimierter Wissensbausteine zur

Behinderung und Migration

Qualitative Sozialforschung

Führung im Klassenzimmer

Roland Sturm. Politik in Großbritannien

Springer-Lehrbuch. Weitere Bände in dieser Reihe

Resilienz im Erwachsenenalter

Hans-Jürgen Lange (Hrsg.) Kriminalpolitik

Führung und Mikropolitik in Projekten

Grundwissen Theologie Offenbarung. Bearbeitet von Klaus von Stosch

Über den Reflexionsbegriff und die Funktion der Reflexion in der Moralität und Sittlichkeit bei Hegel

Kati Förster (Hrsg.) Strategien erfolgreicher TV-Marken

Dezentrale Energiewende

Patrick Da-Cruz Stephan Cappallo (Hrsg.) Gesundheitsmegamarkt Indien

Klinische Untersuchung der Stütz- und Bewegungsorgane

Christian Palentien. Kinder- und Jugendarmut in Deutschland

Erbschaftssteuer im Kontext

Schule und Gesellschaft Band 58

Inhalt. 1 Psychoanalytische Einzel- und Gruppen psychotherapie: Das Modell der Über tragungsfokussierten Psychotherapie (TFP).. 3

Kurzstudie BESTSELLER. Roman Büttner. Das Phänomen Fast Food. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zur Erfindung des schnellen Essens

Werner Poguntke. Keine Angst vor Mathe

Grundwissen Pädagogik

Die Europäische Union erfolgreich vermitteln

Individualität, Geschlechterverhältnis und Liebe

Herausgegeben von Professor Dr. Nikolaus Franke Universität Wien, Wien, Österreich

Mike Kühne. Berufserfolg von Akademikerinnen und Akademikern

Beobachtung von Säuglingen und Kleinkindern - Ausgewählte Methoden der Kindheits- und Jugendforschung

Das psychoanalytische Konzept der»nachträglichkeit«

Transkript:

Benjamin Jörissen Jörg Zirfas (Hrsg.) Schlüsselwerke der Identitätsforschung

Benjamin Jörissen Jörg Zirfas (Hrsg.) Schlüsselwerke der Identitätsforschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten VS Verlag für Sozialwissenschaften GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson dere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15806-8

Inhalt Vorwort 7 Jörg Zirfas Identität in der Moderne. Eine Einleitung... 9 Günter Gödde Sigmund Freuds Strukturmodell in Das Ich und das Es und seine Bedeutung in historischen und aktuellen Diskursen 19 Juliane Noack Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus... 37 Birgit Althans Zur anthropologischen Notwendigkeit des Verkennens. Jacques Lacans Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion 55 Michael B. Buchholz Über den Individualismus hinaus. Die Entwicklung des Selbstempfindens bei Daniel N. Stern und einige Befunde der Säuglingsforschung 69 Benjamin Jörissen George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Perspektive des Sozialbehaviorismus... 87 Matthias Junge Die Persönlichkeitstheorie von Talcott Parsons... 109 Michael v. Engelhardt Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 123 Alfred Schäfer & Christiane Thompson Theodor W. Adorno: Negative Dialektik..... 141

Dieter Geulen Jürgen Habermas: Identität, Kommunikation und Moral..... 161 Hermann Veith Das Konzept der balancierenden Identität von Lothar Krappmann... 179 Joachim Renn Reflexive Moderne und ambivalente Existentialität Anthony Giddens als Identitäts-Theoretiker 203 Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 223 Jörg Zirfas Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa.... 241 Leopold Klepacki Klaus Mollenhauer: Schwierigkeiten mit Identität. Über Pädagogik als Umgang mit dem Möglichen... 259 Stephan Münte-Goussar Ich ist viele. Sherry Turkles Identitätstheorie.. 275 Dorle Klika Wolfgang Welsch: Identität im Übergang... 297 Michael Göhlich Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Kontexte und Spuren einer postkolonialen Identitätstheorie... 315 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. 331

Vorwort Der hier vorgelegte Sammelband Schlüsselwerke der Identitätsforschung beabsichtigt, eine Lücke in der bisherigen Lehr- und Forschungslandschaft zu schließen. Er richtet sich an eine Leserschaft, die sich mit den basalen Konzeptionen der Identität vertraut machen möchte. Seit Jahrzehnten schon stellt der Begriff der Identität in wechselnden Lesarten einen zentralen Bezugspunkt der Diskurse über Individualität und Subjektivität, über Zugehörigkeit und Gemeinschaft, nicht zuletzt auch über Sozialisation und Bildung in einer immer komplexer werdenden Welt dar. Er ist Gegenstand höchst unterschiedlicher disziplinärer Zugänge, seien es philosophische, soziologische, kulturwissenschaftliche, phänomenologische, pädagogische, psychologische, politologische, etc. Entsprechend findet man jeweils spezifische Akzentuierungen des Identitätsgedankens, wenn etwa kulturelle, politische, soziale, geschlechtliche oder auch zeitliche und räumliche Aspekte von Identität thematisiert werden. Sowohl in den diversen disziplinären Zugängen als auch in den jeweiligen thematischen Akzentuierungen werden häufig bedeutende Identitätsmodelle implizit vorausgesetzt, dabei aber zumeist kaum erläutert und diskutiert. An dieser Stelle möchte dieser Band Abhilfe schaffen. Anhand einschlägiger Autorinnen und Autoren und ihrer Schlüsselwerke führt er in die Grundideen der Identitätsdebatte ein und gibt somit einen Überblick über maßgebliche theoretische Ansätze der Identitätsforschung in der Moderne. Um einen leichteren Zugang zu der jeweiligen Theorie zu ermöglichen, weisen die einzelnen Artikel jeweils eine bestimmte Struktur auf: nach Einleitung und Biographie wird das jeweilige Schlüsselwerk rekonstruiert und dann im Kontext der weiteren Werke des Autors diskutiert. Den Abschluss bilden Weiterentwicklungen, kritische Einschätzungen und Standortbestimmungen der jeweiligen Identitätstheorie. Wir danken an dieser Stelle den beteiligten Autorinnen und Autoren, die sich auf das Projekt eingelassen und sich mit großem Engagement der Aufgabe gestellt haben, komplexe theoretische Zusammenhänge auf verständliche und erschließbare Weise darzustellen. Weiterhin bedanken wir uns bei Franziska Eisel und Sebastian Ruck für das gründliche Korrekturlesen, bei Herrn Ruck insbesondere auch für die sorgfältige Erstellung der Druckvorlage. Schließlich möchten wir Frau Stefanie Laux vom VS Verlag danken: Sie hat bei diesem Buchprojekt sehr viel Geduld bewiesen. Berlin und Erlangen im Oktober 2009 Benjamin Jörissen und Jörg Zirfas

Identität in der Moderne Eine Einleitung Jörg Zirfas Man wusste nie sicher, wer wer war. Oder wer man selber war. Per Olov Enquist, Ein anderes Leben Deine Identität liegt einfach dort, wo du beschließt, mit dem Denken aufzuhören. Philipp Roth, Gegenleben Nach wie vor bildet die Frage nach der Identität nicht nur im Alltag vieler Menschen, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine zentrale Frage. Im Grunde genommen stecken in dieser einen Frage immer schon zwei Fragen, nämlich die nach dem: Wer bin ich? und die nach dem: Wer bist du? Wer nun Antworten auf diese Fragen sucht, wird feststellen müssen, dass er sehr unterschiedliche Erwiderungen auf sie finden kann: So wird aus einer psychologischen Perspektive die Bedeutung von Selbstbildern erklärt, aus philosophischer Betrachtungsweise die Relevanz von Fremdheit für das Eigene betont, aus pädagogischer Sicht die Entwicklungsmöglichkeiten von Identität betrachtet, aus sozialwissenschaftlichem Blickwinkel die sozialen Voraussetzungen für Identitätskonzepte rekonstruiert oder vor dem Hintergrund der Kulturwissenschaften der symbolische oder auch der machtspezifische Zusammenhang von Identitätsmustern und Lebenslagen analysiert. Teilweise bauen diese Perspektiven aufeinander auf, teilweise überschneiden sie sich, und gelegentlich widersprechen sie sich auch, vor allem wenn es darum geht, eine gelungene oder richtige Form von Identität zu behaupten. Unausgesprochen steht hinter allen diesen wissenschaftlichen Erklärungsversuchen die These, dass die Frage nach der Identität für moderne Menschen eine immer noch notwendige Frage darstellt. Identität kann dabei sehr unterschiedlich verstanden werden: als (kognitives) Selbstbild, als habituelle Prägung, als soziale Rolle oder Zuschreibung, als performative Leistung, als konstruierte Erzählung usw. Dabei wird deutlich, dass Identität nicht nur etwas mit den Individuen und ihren Kompetenzen, sondern zentral auch etwas mit sozialen und kulturellen Lebenslagen zu tun hat. Und gerade die Moderne stellt Menschen vor 9

Jörg Zirfas besondere Herausforderungen. So lassen sich Identitätsfragen auch als Symptome für kulturelle Umbruchsituationen verstehen. Es scheint schwieriger geworden zu sein, eine konsistente Antwort zu finden auf das, was ich bin und auf das, was der andere ist. Die sozialen Rahmenbedingen haben sich gerade im letzten Jahrhundert radikal geändert, etwa durch die Lebenserwartung, die sich fast verdoppelt hat, durch den technologischen und ökonomischen Fortschritt, der den Menschen immer größere Flexibilität abverlangt, durch diverse soziale Bewegungen (Studenten-, Frauen-, familiäre Bewegungen etc.), die neue Ordnungen der traditionellen Bindungs- und Zugehörigkeitsverhältnisse nach sich gezogen haben, durch Globalisierungsprozesse auf inter- und transkultureller Ebene, die einen neuen Umgang mit Eigenem und Fremden nahe legen, durch die Bildungsentwicklungen, die mit life long learning und Selbstmanagement verbunden sind und schließlich auch, bezogen auf Deutschland, durch die Wiedervereinigung, die eine veränderte politische, soziale und kulturelle Landschaft zur Folge hatte. Identitätsfragen lassen sich daher als Begleiterscheinungen des kulturellen und sozialen Wandels, oder auch als Folgen einer Flexibilisierung von Lebensformen bzw. als Reaktionen auf politische und mediale Umbrüche verstehen. Und die moderne Identität erscheint gerade dort als besonders differenzierte, reflexive und individuelle Identität, wo die Möglichkeiten von divergierenden Normen- und Wertesystemen, von unterschiedlichen Formen der Zugehörigkeit und Verbindlichkeit und von Inkonsistenzen in Rollenmustern und Interaktionsformen etc. vorhanden sind. So ist Identität seit etwa 100 Jahren in aller Munde, gilt sie doch vielen als Selbstversicherung und Zugehörigkeitsüberprüfung in einer tendenziell unsicheren Zeit. Und dementsprechend lässt sich Identitätsforschung (auch) als wissenschaftliche Reaktion auf die für die Menschen tendenziell krisenhaften Umbruchsituationen der Moderne verstehen. Die Überlegungen zur Identitätsentwicklung, die z.b. George Herbert Mead anfangs des letzten Jahrhunderts in Chicago anstellte, wurden vor dem Hintergrund einer neuen Migrationssituation vorgenommen: Eine immer größer werdende Zahl von Einwanderern tangiert eben auch das Selbstkonzept der traditionellen Einwohner einer Region. Identität kann dann als bedroht, risikobehaftet und prekär erfahren werden. Zugehörigkeit muss dann neu ausgehandelt, die Grenzziehung von Eigenheit und Fremdheit neu vorgenommen, Traditionen und Werte neu verteidigt oder verändert, Verinnerlichungs- und Aneignungsprozeduren neu überdacht werden: Soll eine als stabil erscheinende Identität um jeden Preis verteidigt werden oder muss man sich mit einer frei schwebenden, flexiblen Patchwork-Identität zufrieden geben? Wie neu der Begriff der Identität in den alltäglichen, aber auch in den wissenschaftlichen Debatten ist, lässt sich daran festmachen, dass er im Grimmschen Wörterbuch von 1854 zwar an zehn Stellen in den jeweiligen Begriffsde- 10

Identität in der Moderne finitionen Verwendung findet, aber nicht als eigenständiger Begriff vorkommt. Der ihm heute nahe stehende Begriff der Ichheit, der hier erklärt wird mit: 1. empfindung und betonung des eigenen ich, egoismus; 2. das geistige im menschen, das wesen des reinen ich s; 3. person, persönlichkeit, fasst eher eine abstrakte Individualität (ein auch im Wörterbuch nicht auftauchender Begriff), als den Begriff der Identität (Grimm/Grimm 2006: Bd. 10, 2032). Identität taucht aber, durchaus korrekt, als Erläuterung beim Eintrag Selbigkeit auf. Denn Identität leitet sich vom Lateinischen idem ab, bedeutet also Dasselbige oder eben Selbigkeit. In diesem Sinne hat der Begriff eine weit zurückreichende Tradition, die bis in die griechische Antike und die Begriffe autos und to auton reicht. In der Philosophie und der Theologie über die Jahrhunderte hinweg in logischer, analytischer oder auch ontologischer Weise verwendet, ist der Begriff gerade im 20. Jahrhundert nicht nur in der Umgangssprache, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften oftmals als hermeneutischer und praktischer Schnittpunkt von individuellen Selbstkonzepten auf der einen und sozialen Erwartungen und Erfordernissen auf der anderen Seite verstanden worden. So heißt es im Wörterbuch : SELBIGKEIT, f. identität: aus der ursprünglichen einerleiheit der vernunft in allen und der selbigkeit der zu bildenden natur vor allen ergiebt sich als abgeschlossenes ganzes ein bildungsgebiet, wo ein werk von einem einzelnen angefangen von einem anderen als völlig dasselbe fortgesetzt werden kann (ebd., Bd. 16: 438). Identität als Selbigkeit garantiert in diesem Sinne Unveränderlichkeit, Vollkommenheit, Einheit, Rationalität und Kontinuität. Diese Attribute werden zwar auch heute noch mit dem Identitätsgedanken in Verbindung gebracht; doch wird deren Relevanz und deren Implikationen für ein zeitgenössisches Konzept von Identität zunehmend in Zweifel gezogen. Nun stellen sich auch moderne Menschen natürlich nicht immer und überall die Frage, wer sie eigentlich sind, nicht jedes Malheur stürzt sie in eine Identitätskrise und sie befinden sich auch nicht permanent auf der Suche nach dem authentischen Selbst. Doch wer sich gelegentlich fragt, wer er ist, bzw. was vermutlich häufiger vorkommt von anderen gefragt wird, wer er denn sei, wird feststellen, dass diese Frage sich nicht so leicht beantworten lässt. Welche Kriterien sind für die Identität bedeutsam: der Beruf, das Geschlecht, die Familie, die Religion, die Sprache oder alle zusammen? Wer bin ich in meinen Augen oder in den Augen anderer? Bin ich heute noch derjenige, der ich früher war? Oder habe ich mein eigentliches Selbst überhaupt noch nicht gefunden? Wer immer die Frage nach der Identität stellt, wird dies tun, indem er sich mit sich selbst und mit anderen vergleicht und er wird i.d.r. feststellen, dass es hier wie dort eine ganze Reihe von Unterschieden gibt. Abstrakter formuliert: Identität verweist auf 11

Jörg Zirfas die mit der Moderne unmittelbar verknüpfte Problemlage der Anerkennung von Differenz und Kontingenz: Wer sich die Frage nach der Identität stellt, wird feststellen, dass sein Selbstbild der Veränderung und Entwicklung unterliegt, dass es immer auch anders sein könnte, und dass es einen Unterschied macht, ob ich mich selbst im Spiegel oder aus dem Blickwinkel der anderen betrachte. Identität ist somit ein Differenzierungs- und Vermittlungsbegriff in einem: Er signalisiert die internen Unterschiede im Selbst wie die externen Differenzen zwischen sich und dem anderen und er verweist auf die Leistungen, die zu erbringen sind, um ein gewisses Maß an internen, d.h. selbstbezüglichen wie externen, d.h. sozialen Integrationen aufrechtzuerhalten. Die in diesem Band thematisierten Autorinnen und Autoren bilden einen zentralen Teil der modernen Identitätsdebatte ab. Neben der Psychologie und der Psychoanalyse, der Soziologie, der Kulturphilosophie und den Kulturwissenschaften, sind auch die Pädagogik und die Politologie vertreten. Damit wird ein weites Feld der human-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Identität abgesteckt. Der Band nimmt gleichwohl zwei nämlich eine inhaltliche und eine historische Grenzziehungen vor: Nicht explizit thematisiert werden: erkenntnistheoretische, analytische und anthropologische Theorien der Philosophie, medizinische und neurobiologische Debatten, naturwissenschaftliche und technologische Diskussionen als auch literarische bzw. künstlerische Behandlungen der Identität auch wenn deren Erkenntnisse in den einzelnen Rekonstruktionen gelegentlich Erwähnung finden. Zweitens begrenzt der Band die Beschäftigung mit den Identitätsmodellen auf das 20. Jahrhundert und klammert zudem die historischen Vorläufermodelle der jeweiligen Identitätstheorien aus, die ebenfalls nur benannt, aber nicht umfassend dargestellt werden können. Die Begründung der Auswahl der Autoren und Texte erfolgt unter den Gesichtspunkten der Bedeutsamkeit des jeweiligen Modells für den Identitätsdiskurs in den Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Diese Form der Begründung kann niemals kategorisch erfolgen, sondern allenfalls auf Plausibilität hoffen. So wird der eine oder andere Leser bestimmt eine andere Auswahl bevorzugen und einige der hier nicht vorgestellten Identitätstheorien für unerlässlich halten. In diesem Sinne hätten auch die Identitätsmodelle folgender Autorinnen und Autoren durchaus eine Diskussion verdient. Wir denken hier (in alphabetischer Reihenfolge) an: Jan Assmann, Zygmunt Bauman, Simone de Beauvoir, Ulrich Beck, Gernot Böhme, Pierre Bourdieu, Judith Butler, Emile Durkheim, Alois Hahn, Heiner Keupp, Julia Kristeva, Niklas Luhmann, Herbert Marcuse, Lutz Niethammer, Paul Ricouer, David Riesman, Alfred Schäfer, Richard Sennett, Charles Taylor, Georg Simmel, Anselm Strauss, Annette Stross, Max Weber, Friedrich Wellendorf. Und selbst diese Liste lässt sich verlängern. 12

Identität in der Moderne Gleichwohl erhebt der Band den Anspruch, dass man mit ihm die Identitätsdebatte der Neuzeit in ihren wesentlichen Positionen nachvollziehen kann. Sodann sollten die unterschiedlichen disziplinären Zugänge dieser Wissenschaften als auch die teilweise wechselseitigen Bezüge der Theorien zur Geltung kommen; Disziplinarität wie Interdisziplinarität im geistes- und sozialwissenschaftlichen Rahmen lassen sich umso besser nachvollziehen, je dichter der Diskurs ist, in dem die verschiedenen Ansätze verknüpft sind. Querverweise der Autoren im Band ermöglichen so leichter das Erkennen von Zusammenhängen und Differenzen der jeweiligen Konzepte. Der Aufbau des Bandes folgt im Wesentlichen chronologischen Gesichtspunkten, da sich so beim kontinuierlichen Lesen der Beiträge am besten die Zusammenhänge auch zwischen den jeweiligen Theorien erschließen lassen. So lässt sich nachvollziehen, dass die Debatte um Identität zu Beginn und Mitte des letzten Jahrhunderts vor allem durch die Psychologie bzw. Psychoanalyse, den symbolischen Interaktionismus und die Soziologie geprägt war. Im allgemeinen Fokus der Identitätsforschung stand die Identität als Schnittpunkt von sozialen Erwartungen und psychischer Einzigartigkeit. In den genannten Disziplinen stehen die kognitiven Repräsentanzen der eigenen Person (Freud), die Entwicklung eines Selbstkonzepts (Lacan, Stern), Rollenfindung und -gestaltung und der Zusammenhang von personalem und sozialem Selbst im Mittelpunkt (Mead, Parsons). Oder aber man analysierte unter dem Titel Identität die Notwendigkeit reziproker sozialer Beziehungen zum Aufbau von Identität und damit die Integrationsleistungen des Individuums (Krappmann) und entwarf prinzipielle, oft normative Konzeptionen von Identität (Habermas). Rollenkonzepte und die Problematik einer Identitätsdiffusion wurden ebenso untersucht (Erikson) wie die stigmatisierenden Effekte von Identitätszuschreibungen (Goffman) So erscheint schließlich das Konzept einer negativen Identität als logische Folge auf diese Kritik an Identität (Adorno). In den neueren Debatten steht Identität nicht mehr primär im Fokus von psychischer Repräsentanz und sozialen Anforderungen. Identität wird in der Spätmoderne im Rahmen der Genderforschung, der Cultural Studies, der Biographie- und Medienforschung oder auch der Bildungstheorie aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und Disziplinen mit je unterschiedlichen Zielsetzungen diskutiert: Identität erscheint dezidiert im Plural. Die neueren Untersuchungen betonen die Normierungen und Normalisierungsprozesse durch Identitätszuschreibungen (Foucault), die Verwicklungen von Identität und Alterität (Derrida), die mit dem Modell Identität verbundenen (bildlichen) Möglichkeiten und Grenzen (Mollenhauer), die soziale Reflexivität von Identität (Giddens) sowie ihre Fragilität und Transversalität (Welsch). Schließlich verdichten sich die Hinweise darauf, dass Identität eine notwendige und doch prekäre Konstruktionslei- 13

Jörg Zirfas tung darstellt, die immer stärker im Internet ausgehandelt und erspielt wird (Turkle) und dass der Kultur insgesamt eine enorme Bedeutung für die Gestaltung von Identität zukommt (Bhabba). Diese verschiedenen disziplinären Ansätze der Identitätsforschung lassen es nicht zu, von der Identität bzw. von der Theorie der Identität zu sprechen. Gleichwohl soll hier der Versuch unternommen werden, formale Grundkonzeptionen von Identität zu identifizieren, die in den je unterschiedlichen Zugängen inhaltlich sehr spezifisch gefüllt werden: Identität als anthropologisches Modell: Hiermit ist gemeint, dass Identität auf Gedanken, Bilder, Gefühle, Gedächtnis, soziale Bezüge und Handlungen abheben muss. Selbstkonzepte, Selbstwertgefühle, Narrationen, Kollektivvorstellungen und Handlungskonzepte gehen in diese Form von Identität mit ein. Identität als strukturelle Form: Identität als Kern, Einheit, Kohärenz, Konstanz, Kontinuität, Integrität, Authentizität, Konsistenz etc. bezeichnen ebenso spezifische Fassungen des Selbst wie die vielfältige, patchwork- oder quiltartige, fragmentarisierte, flexibilisierte, diffuse, unübersichtliche etc. Ich-Identität. Identität als Norm: Eng mit der strukturellen Fassung von Identität ist ihre normative Positionierung als gelungene oder richtige Identität. Identität wird hier in Zusammenhang gebracht mit (einem Gewinn an): Autonomie, Gesundheit, Glück, Zivilität, Normalität, Harmonie, Balance, Kommunikationsfähigkeit, Reife, Erwachsensein etc. Von hier aus lassen sich natürlich deviante Formen von nicht gelungener Identität entwerfen, die mit Diffusion oder Fixierungen verbunden sind, und analog: Heteronomie, Krankheit, Unglück etc. signalisieren. Identität als Normierung: Mit einem kritischen Blick vor allem auf normative Fassungen von Identität wird hier auf die Schattenseiten der Identifizierungen hingewiesen: auf Normalität als das Unerreichbare, auf den (diskursiven) Identitätsterror, auf die mit den Feststellungen verbundenen Effekte von Disziplinierung und Kontrolle, auf eine ideologische Einheitssehnsucht, auf Hierarchisierungen und Zumutungen der Identität. Identität als Kompetenz: Durchgängig rückt die Identitätsforschung auch in den Blick, dass die Entwicklung und Bewahrung von Identität auf eine ganze Reihe von Kompetenzen und Ressourcen angewiesen ist: klassisch etwa auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten von: Urvertrauen, Perspektivenübernahmen, Empathie, Darstellbarkeit, role-taking, Rollendistanz, Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranzen, Management etc.; modern rücken stärker die ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen (Bourdieu) der Identitätsarbeit sowie der sense of coherence (Antonovsky) in den Blick. Identität als Prozess: In die Identität gehen immer auch zeitliche Vorstellungen von dem ein, was das Individuum in der Vergangenheit war, wie es sich 14

Identität in der Moderne aktuell sieht und wie es in der Zukunft sein wird. Über die (temporalen) Identitätsperspektiven und -entwürfe hinaus ist Identität mit Entwicklungs- und Bildungsvorstellungen verknüpft, mit lebenslangen Identitätsprozessen, mit spezifischen Dynamiken und Rhythmen, mit Krisenzeiten und auch mit Brüchen und Konversionsmodellen. Identität als Krisensymptom: Nicht zuletzt, und in jüngster Zeit in vielen Disziplinen dominant, wird die Frage nach Identität als Kennzeichen einer mit der modernen Kultur in Verbindung gebrachten radikalen Verschiebung der Grundkonstanten gebracht: Stichworte sind hier Pluralität, Risikogesellschaft, Individualisierung, Virtualisierung, Rationalisierung, Unübersichtlichkeit, Enttraditionalisierung, Säkularisierung, Auflösung gemeinschaftlicher Bindungen etc. Wer in dieser Situation die Frage nach der Identität stellt, will zugleich Zugehörigkeitsverhältnisse, Anerkennungsprinzipien, Teilhabemöglichkeiten und Differenzierungspraktiken klären, die heute alles andere als selbstverständlich geworden sind. Identität ist in der Moderne kein Geschenk, sondern eine Aufgabe. Und die andauernde Debatte im Alltag und den Wissenschaften zeigt, dass diese Aufgabe nicht leicht zu bewältigen ist, denn Identität muss immer noch aufgebaut, festgestellt, bewahrt, aufrechterhalten oder verteidigt werden. Die hier dargestellten Theoretiker der Identitätsforschung stellen für die Arbeit am Selbst die notwendigen analytischen und programmatischen Hilfsmittel zur Verfügung. Sie bieten gleichermaßen analytische Begrifflichkeiten wie praktisches Orientierungswissen im Umgang mit der Identität. Literatur Abels, Heinz (2006): Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Assmann, Aleida/Friese, Helga (Hrsg.) (1998): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3. Frankfurt a.m.: Suhrkamp. Barkhaus, Annette/Mayer, Matthias/Roughley, Neil/Thrünau, Donatus (Hrsg.) (1996): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Frankfurt a.m.: Suhrkamp. Benedetti, Gaetano (Hrsg.) (1986): Ein Inuk sein. Interdisziplinäre Vorlesungen zum Problem der Identität. Göttingen: VR. 15

Jörg Zirfas Böhme, Gernot (1997): Identität. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. München/Basel: Beltz, S. 686-697. Dülmen, Richard van (Hrsg.) (2001): Entdeckung des Ich: Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln: Böhlau. Eikelpasch, Rolf/Rademacher, Claudia (2004): Identität. Bielefeld: transcript. Enquist, Per Olov (2009): Ein anderes Leben. München: Hanser. Frey, Hans-Peter/Haußer, Karl (Hrsg.) (1987): Identität. Entwicklungen psychologischer und sozialer Forschung. Stuttgart: Enke. Grimm, Jacob und Wilhelm (2006): Deutsches Wörterbuch. Der digitale Grimm. 5. Aufl. Frankfurt a.m.: Zweitausendeins. Hettlage, Robert/Vogt, Ludgera (Hrsg.) (2000): Identitäten in der modernen Welt. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Jörissen, Benjamin (2000): Identität und Selbst. Systematische, begriffsgeschichtliche und kritische Aspekte. Berlin: Logos. Keupp, Heiner et al. (1999): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Keupp, Heiner/Höfer, Renate (Hrsg.) (1997): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a.m.: Suhrkamp. Marquard, Odo/Stierle, Konrad (Hrsg.) (1979): Identität. (=Poetik & Hermeneutik. VIII). München: Fink. Meyer, Thomas (2002): Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt a.m.: Suhrkamp. Niethammer, Lutz (2000): Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Rager, Günter/Quitterer, Josef/Runggaldier, Edmund (2002): Unser Selbst. Identität im Wandel der neuronalen Prozesse. Paderborn: Schöningh. Roth, Philipp (1991): Gegenleben. München: dtv. Schäfer, Alfred (1999): Unsagbare Identität. Das Andere als Grenze in der Selbstthematisierung der Batemi (Sonjo). Berlin: Reimer. Straub, Jürgen (Hrsg.) (1998): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität 1. Frankfurt a.m.: Suhrkamp. Straub, Jürgen/Renn, Joachim (Hrsg.): Transitorische Identitität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt a.m./new York: Campus. Stross, Annette M. (1991): Identität. Zwischen Fiktion und Konstruktion. Berlin: Reimer. Veith, Hermann (2001): Das Selbstverständnis des modernen Menschen. Theorien des vergesellschafteten Individuums im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.m./new York: Campus. 16

Identität in der Moderne Wiesse, Jörg/Joraschky, Peter (2007): Identitäten im Verlauf des Lebens. Göttingen: VR. Zima, Peter V. (2000): Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen/Basel: Francke. Zirfas, Jörg/Jörissen, Benjamin (2007): Phänomenologien der Identität. Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. 17

Sigmund Freuds Strukturmodell in Das Ich und das Es und seine Bedeutung in historischen und aktuellen Diskursen Günter Gödde Einleitung Die wenigsten Menschen dürften sich klar gemacht haben, betont Freud in einem Rückblick auf die Entwicklung der Psychoanalyse, einen wie folgenschweren Schritt die Annahme unbewusster seelischer Vorgänge für Wissenschaft und Leben bedeuten würde (Freud 1917: 11f.). Erkenntnisleitend für die 1895 gemeinsam mit Josef Breuer veröffentlichten Studien über Hysterie das Urbuch der Psychoanalyse (Grubrich-Simitis 1995) war die Erfahrung, dass im Falle psychischer Konflikte peinliche und unlustbetonte Vorstellungen abgewehrt und verdrängt werden. Unter ungünstigen Umständen entgleiten die vom Ich nicht integrierbaren Anteile zunehmend der Selbststeuerung und können zu einem immer weitere Kreise ziehenden Krankheitsherd werden. Der psychoanalytische Begriff des Unbewussten wurde aus der Lehre von der Verdrängung gewonnen. Seinem opus magnus, der 1990 erschienenen Traumdeutung, hat Freud das Motto vorangestellt: Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo. ( Wenn ich die höheren Mächte nicht beugen kann, werde ich die Unterwelt aufrühren ). Dieses metaphorisch ausgedrückte Macht- und Unterdrückungsverhältnis kann man als Parteinahme für das unterdrückte unbewusste Leben lesen. Die Deutung von Träumen unter Heranziehung der Assoziationen des Träumers eröffnete eine Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben (Freud 1900: 613). Betrachtet man das Unbewusste als pars pro toto für Gefühle, dann hat Freud die Welt der Gefühle in einem bisher unbekannten Maße zugänglich gemacht und ihr eine eigene Logizität und Sinnhaftigkeit zugeschrieben. Das vermeintlich Irrationale und scheinbar Sinnlose psychischer Produktionen erweist sich nicht länger als Privileg des kranken Menschen, vielmehr als berechtigter Teil der conditio humana (Lohmann 2006: 58f.). 19

Günter Gödde Mit seinen Expeditionen ins Unbewusste war Freud maßgeblich daran beteiligt, dass das von der Aufklärung geprägte Bild des vernunftgeleiteten und willensgesteuerten Menschen seinen Platz jenem reicheren, aber auch gefährlicheren und schwankenden Geschöpf, dem homo psychologicus (Schorske 1982: 4) räumen musste. Dabei ging es ihm mit ähnlicher Intention wie Nietzsche darum, metaphysische Grundbegriffe wie Wille, Ich und Bewusstsein zu dekonstruieren (vgl. Gödde 2000: 96ff.). Der Mensch sei nicht Herr im eigenen Hause (Freud 1917: 11f.), weil seine Vorstellungen zum großen Teil dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, sich dem Ich nicht unterwerfen und allen sonst so erprobten Machtmitteln des Willens widerstehen. Im VII. Kapitel der Traumdeutung (Freud 1900: 614-626) entwarf Freud ein topographisches Modell, in dem er den psychischen Apparat in die Systeme des Bewussten, Vorbewussten und Unbewussten aufteilte. In der klinischen Praxis und Weiterentwicklung seiner Theorie erkannte er nach und nach die Grenzen und Inkonsistenzen dieses Modells. Daher entschloss er sich in seiner Schrift Das Ich und das Es (1923) zur Einführung eines strukturellen Modells mit den Instanzen von Es, Ich und Über-Ich. Nunmehr betonte er die vieldeutige Qualität des Unbewussten, die erst recht zutage trat, als man sich mit dessen Bedeutung im Rahmen der aktuellen psychoanalytischen Diskurse wie dem der Selbstpsychologie, der Objektbeziehungs- und der Intersubjektivitätstheorie auseinandersetzte (vgl. Buchholz/Gödde 2005a). Interdisziplinär ist das Unbewusste im Kontext der Säuglings- und Bindungsforschung, der Sozialwissenschaften und cultural studies, der Neurowissenschaften und Quantenphysik weiter entfaltet worden (vgl. Buchholz/Gödde 2005b). 1 Kurzbiographie Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in Freiberg (heute Pribor in Tschechien) geboren und wuchs in Wien auf. Im Jahre 1873 absolvierte er die Matura und entschied sich für ein Medizinstudium. Schon zu Beginn seines Studiums sah er sich mit der Zumutung konfrontiert, dass ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war (Freud 1925: 34). Aus der gleichzeitigen Zugehörigkeit zur jüdischen Kultur und zur christlich-bürgerlichen Gesellschaft ergab sich für ihn schon früh die Notwendigkeit komplizierter Identitätsarbeit. Nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz habe ihn ans Judentum gebunden, sondern viele dunkle Gefühlsmächte, umso gewaltiger, je weniger sie sich in Worten fassen ließen, ebenso wie die klare Bewußtheit der inneren Identität, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion (Freud 1926a: 52). 20

Sigmund Freud Nach Abstechern in die Zoologie und Philosophie erwies sich das Engagement für die Physiologie als richtungsweisend für den jungen Freud. In Ernst Brückes physiologischem Laboratorium widmete er sich ab 1876 histologischen Forschungen an Fischen und Flusskrebsen. Nach Abschluss des Medizinstudiums im Jahre 1881 wäre er am liebsten am physiologischen Institut geblieben, um dort als Forscher eine Universitätskarriere zu machen. Erst nach einer Intervention Brückes entschloss er sich mit Rücksicht auf seine schlechte materielle Lage, die theoretische Laufbahn aufzugeben. Im Rahmen einer dreijährigen praktischen Ausbildung am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (1882-85) spezialisierte er sich auf das Fach Neuropathologie und habilitierte sich auch in diesem Fach. Er war damals noch ein typischer Organmediziner. Im Winter 1885/86 verbrachte er bei dem Neurologen Charcot an der Pariser Salpêtrière einen viermonatigen Studienaufenthalt, der sich als Zäsur in beruflicher und wissenschaftlicher Hinsicht erweisen sollte: als Ausgangspunkt für seine Hinwendung zur Psychotherapie und zur Erforschung des Unbewussten. 1886 eröffnete er eine neurologische Privatpraxis, in der er sich nunmehr tagtäglich vor die Aufgabe gestellt sah, nervöse Erkrankungen zu therapieren. 1887 begann er mit einer an der hypnotischen Suggestionsmethode à la Bernheim orientierten Psychotherapie, die er Ende der 1890er Jahre zur Psychoanalyse weiter entwickelte. Nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1896 setzte bei Freud eine immer dichter werdende Traumarbeit ein, die von 1897 bis 1899 zu einer systematischen Selbstanalyse führte. Rückblickend erwähnt er zwei starke Eindrücke, die bei ihm zur gleichen Wirkung zusammentrafen. Einerseits habe er die ersten Einblicke in die Tiefe des menschlichen Trieblebens gewonnen, manches gesehen, was ernüchtern, zunächst sogar erschrecken konnte, andererseits habe er durch seine aufrührenden Entdeckungen den größten Teil seiner damaligen menschlichen Beziehungen eingebüßt und sich wie geächtet, von allen gemieden gefühlt (Freud 1926a: 51). Mario Erdheim (1981: 858ff.) spricht in diesem Zusammenhang von einer Identitätskrise. Je mehr ein Einzelner in die Machthierarchie integriert sei und mit hohem Sozialprestige besetzte Rollen übernehme, desto schwieriger werde es für ihn, Unbewusstes, das eng mit den eigenen Größen- und Allmachtsphantasien verknüpft ist, zu erkennen. Gerade durch die Erfahrung sozialen Sterbens habe Freud den vorher versperrten Zugang zum eigenen Unbewussten allmählich lockern und durch die Analyse eigener Träume schließlich frei legen können. In der Pionierphase der Psychoanalyse war Freud in der Wiener Medizin, aber auch in der akademischen Psychologie auf heftige Abwehr gestoßen. 1902 kam es zu einer denkwürdigen Audienz beim Kaiser, aus dessen Händen er die Ernennungsurkunde zum außerordentlichen Professor erhielt, worauf er immerhin 17 Jahre hatte warten müssen! Der lang ersehnte Professorentitel änderte 21

Günter Gödde zwar wenig an seiner Außenseiterstellung an der Universität. Er registrierte aber eine spürbare Erhöhung der öffentlichen Aufmerksamkeit, was ihn zu der sarkastischen Äußerung veranlasste: Die Teilnahme der Bevölkerung ist sehr groß. Es regnet auch schon Glückwünsche und Blumenspenden, als sei die Rolle der Sexualität plötzlich von Sr. Majestät amtlich anerkannt, die Bedeutung des Traumes vom Ministerrat bestätigt und die Notwendigkeit einer psychoanalytischen Therapie der Hysterie mit 2/3 Majorität im Parlament durchgedrungen (Freud 1986: 503; Brief an Fließ vom 11.3.1902). Im selben Jahr gründete Freud mit Alfred Adler, Max Kahane, Rudolf Reitler und Wilhelm Stekel die Psychologische Mittwochgesellschaft, die auf die psychoanalytische Theorie und Therapie als gemeinsamen Bezugspunkt zentriert war und ein sich zunehmend vergrößerndes Netzwerk sozialer Beziehungen um Freud als Vaterfigur bildete. 1910 kam es zur Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die als eine Art Kampfverband gegen die feindselige akademische Welt organisiert wurde (Tömmel 1985: 244). Nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich musste Freud 1938 nach London emigrieren. Er starb dort am 23. September 1939 im Alter von 83 Jahren. Gerade durch die am eigenen Leib erlebte Diskriminierung und die sich zunehmend verschärfende Judenverfolgung war er in den Bannkreis des Irrationalen geraten. 2 Das Ich und das Es Diese 1923 publizierte Abhandlung gilt als letzte von Freuds großen theoretischen Schriften. Sie baute auf den Fundamenten des erst postum veröffentlichten Entwurfs einer Psychologie von 1895 (1950), des VII. Kapitels der Traumdeutung und der metapsychologischen Abhandlungen von 1915 auf. Explizit knüpfte Freud aber nur an die Schrift Jenseits des Lustprinzips (1920) an, worin er eine dritte Triebtheorie mit dem Dualismus zwischen Eros und Todestrieb dargelegt hatte. Dem Eros wies er die Aufgabe zu, Naturhaftes mit Geistigem zu verbinden: in der Beziehung zwischen Mann und Frau, in der Familie, in Gruppen- und Massenbildungen, vor allem aber in den höchsten Formen der Kulturarbeit. Demgegenüber wirke der Todestrieb den progressiven Tendenzen der Spannung, Veränderung, Höherentwicklung entgegen. Impliziert die Eros-Todestrieb-Theorie, dass es neben libidinösen auch aggressive und destruktive Triebtendenzen gibt, so folgt daraus für die psychoanalytische Konzeption des Unbewussten, dass stets auch ein Drängen und Verdrängen aggressiver und destruktiver Vorstellungen in Betracht zu ziehen ist. 22

Sigmund Freud In einem Vortrag mit dem Titel Etwas vom Unbewussten, den Freud am 26. September 1922 auf dem VII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Berlin hielt, führte er erstmals zwei Tatsachen an, die beweisen sollten, dass es auch im Ich ein Unbewusstes gibt, das sich dynamisch wie das verdrängte Unbewußte benimmt, nämlich der vom Ich ausgehende Widerstand in der Analyse und das unbewusste Schuldgefühl. Zudem kündigte er seine Arbeit Das Ich und das Es an, die den Einfluss untersuche, den diese neuen Einsichten auf die Auffassung des Unbewussten haben müssen (Freud 1922: 730). 2.1 Bewusstsein und Unbewusstes Im einleitenden Kapitel betont Freud, dass die Annahme eines psychisch Unbewussten die Grundvoraussetzung, ja das erste Schibboleth der Psychoanalyse sei (Freud 1923: 239). Im nächsten Schritt greift er die Unterscheidung zwischen einem (nur) deskriptiven Unbewussten, dem Vorbewussten, und einem dynamischen Unbewussten, bei dem Kräfte der Verdrängung bzw. des Widerstandes dem Bewusstwerden entgegen stehen, auf. In einer längeren Fußnote grenzt er sich von der Feldtheorie des Bewusstseins, wie sie Leibniz vertreten hat, ab. Subsumiert man die unmerklichen Vorstellungen unter das Bewusste, so Freuds Einwand, dann verdirbt man sich die einzige unmittelbare Sicherheit, die es im Psychischen überhaupt gibt: Ein Unbewusstes, von dem man nichts weiß, scheint mir doch um vieles absurder als ein unbewusstes Seelisches (ebd.: 243, Fn. 1). Im Weiteren verlässt Freud das vertraute Terrain und behauptet, dass das Ich nicht mit dem Bewussten gleichzusetzen ist, weil die von ihm ausgehende Aktivität starke Wirkungen äußert, ohne selbst bewusst zu werden, und es zu dessen Bewusstwerdung einer besonderen Arbeit bedarf. Entscheidend für diese Neuorientierung war die Erkenntnis, dass die vom Ich ausgehenden Akte der Verdrängung und des Widerstandes diesem selbst nicht bewusst werden dürfen. Wäre das Ich sich dessen bewusst, dass es ein Bedürfnis, Motiv, Erlebnis usw. verdrängt, dann wäre ja der Erfolg der Verdrängung gefährdet. Statt von einem Konflikt zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten müsse man daher von einem Konflikt zwischen dem zusammenhängenden Ich und dem von ihm abgespaltenen Verdrängten sprechen (ebd.: 244). Konsequent weiter gedacht ergibt sich daraus die Folgerung: Auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil des Ichs, kann ubw sein, ist sicherlich ubw (ebd.: 244f.). 23

Günter Gödde 2.2 Das Ich und das Es Das zweite Kapitel wird mit den Sätzen eingeleitet: Die pathologische Forschung hat unser Interesse allzu ausschließlich auf das Verdrängte gerichtet. Wir möchten mehr vom Ich erfahren, seitdem wir wissen, dass auch das Ich unbewusst im eigentlichen Sinne sein kann (ebd.: 246). Damit hat Freud eine ich-psychologische Forschungsrichtung in der Psychoanalyse angebahnt, bei der das Ich von seinem bisherigen Odium des Rationalen und Oberflächlichen im Verhältnis zu den Tiefen des Unbewussten befreit wurde. Über die vorangegangene Tabuisierung des Ich schrieb Anna Freud einige Jahre später in ihrem programmatischen Buch Das Ich und die Abwehrmechanismen : Irgendwie war bei vielen Analytikern die Meinung entstanden, man sei ein um so besserer wissenschaftlicher und therapeutischer Arbeiter innerhalb der Analyse, auf je tiefere Schichten des Seelenlebens man sein Interesse richte. Jeder Aufstieg des Interesses, also jede Wendung der Forschung vom Es zum Ich wurde als Beginn der Abkehr von der Psychoanalyse überhaupt gewertet (A. Freud 1936: 7). Nach einer Klärung der Beziehungen zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung erhebt Freud das Ich nunmehr zu einer Instanz des psychischen Apparats, die vom System Bewusstsein ausgeht, das Vorbewusste umfasst, aber auch unbewusste Anteile hat. Das umfassendere unbewusst Psychische, in welches das Ich hineinreicht, bezeichnet er im Anschluss an die Terminologie Georg Groddecks als Instanz des Es : Das Individuum ist nun für uns ein psychisches Es, unerkannt und unbewusst, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf, wobei er die metaphorische Sprache fortsetzend hinzufügt: Das Ich ist vom Es nicht scharf getrennt, sondern fließt nach unten mit ihm zusammen (Freud 1923: 247). Das Verdrängte sei wie bisher zwar durch Verdrängungswiderstände vom Ich scharf geschieden, aber durch das Es könne es mit ihm kommunizieren. Zu den Hauptfunktionen des Ich rechnet Freud, dass es den Einfluss der Außenwelt auf das Es zu regulieren und das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen sucht. Demnach repräsentiere das Ich Vernunft und Besonnenheit, das Es hingegen die Leidenschaften. Das Ich wird im Verhältnis zum Es mit einem Reiter verglichen, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, dass der Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit geborgten. Wie dem Reiter oft nichts anderes übrig bleibe, als das Pferd dahin zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre (Freud 1923: 253). Zehn Jahre später, in der 31. Vorlesung zur Einführung in die Psychoana- 24

Sigmund Freud lyse Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit greift Freud dieses Gleichnis von Pferd und Reiter mit ähnlichen Worten wieder auf (Freud 1933: 53). In der ersten Topik war der Mensch noch weitgehend in die parallelen Bereiche von Vorstellung und Körperlichkeit getrennt gedacht. Nunmehr berücksichtigt Freud den Einfluss des Körpers auf die Ich-Entwicklung und betont: Das Ich ist vor allem ein körperliches (Freud 1923: 253). Die Neuorientierung an einem Körper-Ich impliziert, dass sich das seelische Erleben nicht nur aus körperlichen Bedürfnissen entwickelt, sondern auch auf das Körperwesen Mensch bezieht, ja selbst körperhaftes Erleben ist (vgl. Schöpf 1982: 139). Die ich-psychologische Wende im Werk Freuds führte dazu, dass das Ich in seiner Autonomie und Willensfreiheit entmachtet wurde und zugleich in theoretischer und klinischer Hinsicht eine entscheidende Aufwertung erfuhr, die für die weitere Entwicklung der Psychoanalyse von nachhaltiger Bedeutung war. 2.3 Das Ich und das Über-Ich (Ichideal) Das entscheidend Innovative der Schrift Das Ich und das Es kann man darin sehen, dass das Über-Ich als eine sog. Stufe im Ich und damit als dritte Instanz eingeführt wird. Waren die Begriffe Ich-Ideal, Ideal-Ich oder Über-Ich schon in früheren Arbeiten aufgetaucht, so legt sich Freud nunmehr auf die Bezeichnung Über-Ich als Terminus technicus fest, wobei er Ideal- und Verbotsfunktionen unterscheidet. Später hat er das Über-Ich in die drei Funktionen von Selbstbeobachtung, Idealbildung und Gewissen aufgeteilt. Anhand der Phänomene der Melancholie wird aufgezeigt, wie die Besetzung von einem Objekt abgezogen und im Ich wieder aufgerichtet, wie eine Objektbesetzung durch eine Identifizierung abgelöst werden kann. Solche Identifizierungen hätten einen großen Anteil an der Gestaltung des Ichs und der Bildung des Charakters. Zur Entstehung des Ich-Ideals tragen die ersten und bedeutsamsten Identifizierungen des Individuums, nämlich die mit den Eltern, maßgeblich bei. Beim kleinen Jungen laufen die libidinöse Besetzung der Mutter und die Identifizierung mit dem Vater zunächst nebeneinander her, bis durch die aufkommenden sexuellen Wünsche nach der Mutter und die feindselige Konkurrenz zum Vater der Ödipuskomplex entsteht. Die Identifizierung mit dem Vater ist fortan mit aggressiven Impulsen verbunden, d.h. mit dem Wunsch, ihn zu beseitigen und sich bei der Mutter an seine Stelle zu setzen. Von nun an ist das Verhältnis zum Vater ambivalent. Bei der Zertrümmerung des Ödipuskomplexes der die Heftigkeit der erlebten Gefühle und Konflikte in diesem Lebensabschnitt anzeigt 25

Günter Gödde kann es entweder zu einer Identifizierung mit der Mutter oder zu einer Verstärkung der Vateridentifizierung kommen. Beim Mädchen sah Freud zunächst einen analogen Ablauf der ödipalen Entwicklung. Später gelangte er jedoch zu der Ansicht, dass der sog. Kastrationskomplex, der beim Jungen zur Beendigung des Ödipuskomplexes führe, diesen beim Mädchen erst in Gang setze. Auf diese sehr kontrovers diskutierte Frage der weiblichen Entwicklung kann hier aber nicht näher eingegangen werden. Als allgemeinstes Ergebnis der vom Ödipuskomplex beherrschten Entwicklungsphase kann man einen Niederschlag im Ich annehmen, welcher in der Herstellung dieser beiden, irgendwie miteinander vereinbaren Identifizierungen besteht. Diese Ichveränderung behält ihre Sonderstellung, sie tritt dem anderen Inhalt des Ichs als Ichideal oder Über-Ich entgegen (Freud 1923: 262). Die Verdrängung der Wünsche, die aus der ödipalen Situation erwachsen, bedarf besonderer Anstrengung, und das Kind richtet das Verbot, das vom Vater ausgeht, in sich selbst auf. Somit ist das Über-Ich der Erbe des Ödipuskomplexes. Während das Ich wesentlich Repräsentant der Außenwelt, der Realität ist, tritt ihm das Über-Ich als Anwalt der Innenwelt, des Es, gegenüber (ebd.: 264). Die elterlichen Gebote und Verbote leben unter dem Einfluss von Erziehern, Lehrern und anderen Autoritäten wieder auf und üben als Gewissen eine moralische Zensur aus. Wenn das Ich den Forderungen des Über-Ichs nicht gerecht wird, reagiert es mit Schuldgefühlen. Je stärker die verbotenen Impulse waren und je beschleunigter ihre Verdrängung erfolgte, desto strenger wird das Über- Ich als Gewissen über das Ich herrschen. 2.4 Die beiden Triebarten Zwischen den drei Instanzen von Es, Ich und Über-Ich und dem Triebdualismus von Eros und Todestrieb lassen sich, so Freud, aufschlussreiche Beziehungen herstellen. Da es zwischen den beiden Triebarten zu einer Mischung, aber auch zu einer Entmischung kommen kann, eröffne sich, ein Einblick in ein großes Gebiet von Tatsachen, welches noch nicht in diesem Licht betrachtet worden ist (ebd.: 270). In diesem Zusammenhang interessiert sich Freud besonders für den Mechanismus der Umwandlung von Liebe in Hass. Klinischer Beobachtung könne man entnehmen, dass der Hass nicht nur der unerwartet regelmäßige Begleiter der Liebe ist (Ambivalenz), nicht nur häufig ihr Vorläufer in menschlichen Beziehungen, sondern auch, dass Hass sich unter mancherlei Verhältnissen in Liebe und Liebe in Hass verwandelt (ebd.: 271). 26

Sigmund Freud Zu dieser Umwandlung bedürfe es einer verschiebbaren Energie. Unklar sei aber, woher sie stammt, wem sie zugehört und was sie bedeutet. Nach Freuds Hypothese entstammt diese Energie dem narzisstischen Libidovorrat und ist sublimierter Eros (ebd.: 273). Die erotischen Triebe seien ja überhaupt plastischer, ablenkbarer und verschiebbarer als die Destruktionstriebe. Bei den erotischen Besetzungen werde eine besondere Gleichgültigkeit in Bezug auf das Objekt entwickelt vergleichbar der Anekdote, wonach einer der drei Dorfschneider getötet werden soll, weil der einzige Dorfschmied ein todeswürdiges Verbrechen begangen hat. Diese Energieverschiebung kann als eine Sublimierung eingeordnet werden, wie sie regelmäßig durch die Vermittlung des Ichs vor sich geht. Eine wichtige Leistung des Ichs im Verhältnis zum Eros kann man darin sehen, dass es sich der Libido der Objektbesetzungen bemächtigt, sich zum alleinigen Liebesobjekt aufwirft, die Libido des Es desexualisiert oder sublimiert, [ ]. Der Narzissmus des Ichs ist so ein sekundärer, den Objekten entzogener (ebd.: 274f.). Dass sich die beobachtbaren Triebregungen zumeist als Abkömmlinge des Eros erweisen, kann man sich so erklären, dass die Todestriebe im wesentlichen stumm sind und der Lärm des Lebens meist vom Eros ausgeht! Und vom Kampf gegen den Eros! (ebd.: 275). 2.5 Die Abhängigkeiten des Ichs Im abschließenden Kapitel unterstreicht Freud die Bedeutung von Identifizierungen für die Ich-, aber auch für die Über-Ich-Entwicklung. Dem Einfluss des Über-Ichs misst er für bestimmte klinische Phänomene eine entscheidende, das Leiden bestimmende Rolle bei. So liege der negativen therapeutischen Reaktion ein unbewusstes Schuldgefühl zugrunde, das im Kranksein seine Befriedigung findet, für den Patienten aber stumm bleibt und sich nur als schwer reduzierbarer Widerstand zeigt. Bei der Zwangsneurose sei das Schuldgefühl zwar überlaut, werde aber vom Ich abgewiesen, da es sich gegen die Zumutung sträubt, schuldig zu sein. Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass das Über-Ich mehr vom unbewussten Es gewusst [hat] als das Ich (ebd.: 280). Anders sei es bei der Melancholie, in der sich das Ich offen als schuldig bekennt. Dieses Phänomen lässt sich damit erklären, dass das Objekt, dem der Zorn des Über-Ichs gilt, durch Identifizierung ins Ich aufgenommen worden sei (ebd.: 281). Aus solchen klinischen Beobachtungen leitet Freud die Schlussfolgerung ab, dass ein großes Stück des Schuldgefühls normalerweise unbewusst sein müsse, weil die Entstehung des Gewissens innig an den Ödipuskomplex geknüpft ist, welcher dem Unbewussten angehört. Daher spricht einiges für den 27