Jürgen Schweikart und Jonas Pieper Sozialstruktur und kleinräumige Disparitäten in der ambulanten Gesundheitsversorgung Berlins Prozesse und Muster, nach denen sich Ärzte im Raum verteilen, sind sich überall auf der Welt weitgehend ähnlich. In allen untersuchten Ländern wird von einer höheren Arztdichte in städtischen und wohlhabenderen Gebieten berichtet (Dussault & Fanceschini 2006). Dieser Prozess ist weitgehend unabhängig von deren Wirtschaftskraft. Seit der Reform der Berliner Bedarfsplanungsbereiche im Jahr 2003, können bereits niedergelassene Ärzte und neu zugelassene Arztpraxen ihre Lage innerhalb von ganz Berlin frei bestimmen (Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen 2003). Bei Wanderungen von Medizinern ist ein deutlicher Trend weg aus sozial schwachen Gebieten in die wohlhabenderen Stadtteile zu beobachten (Abel et al. 2013). Es wird untersucht, inwieweit sozio-ökonomische Faktoren räumliche Muster der ärztlichen Versorgung Berlins erklären. Zwei Versorgungsindikatoren werden entwickelt um auf kleinräumiger Basis die ambulante Versorgungssituation zu quantifizieren. Der Indikator Gleitende Einzugsbereiche ermittelt ausgehend von den Berliner Wohnblöcken Einzugsbereiche von 15 Gehminuten und berechnet für jedes dieser Gebiete deren Einwohner-Arzt-Relationen für verschiedene Facharztgruppen. Als Basisdaten werden die Einwohnerregisterstatistik auf Blockbasis vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, adressgenau geokodierte Arztdaten von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin und Straßendaten vom OpenStreetMap-Projekt verwendet. Mithilfe der derzeit gültigen Verhältniszahlen, definiert durch die Bedarfsplanung für Berlin, werden auf Basis der Einwohner-Arzt-Relationen die kleinräumigen Versorgungsgrade für die Einzugsbereiche der Wohnblöcke bestimmt (Schweikart et al. 2010). Der Indikator Dichte-Relation berechnet basierend auf den mit Einwohnerdaten angereicherten Flächenzentroiden der Berliner Wohnblöcke mittels Kerndichte (Kernel Density Estimation) ein Dichteraster der Bevölkerung. Mit derselben Methode werden Dichteraster der untersuchten Arztgruppen auf Basis ihrer Standorte berechnet. Durch Normierung und Raster-Kalkulation wird für jede Arztgruppe eine Dichte-Relation erstellt, die das Verhältnis zwischen Arztdichte und Bevölkerungsdichte angibt. Die kleinräumige Basis auf der diese Informationen vorliegen ist die einzelne Rasterzelle (50 x 50 m). Die Informationen sind kontinuierlich und nicht anhand von administrativen Grenzen oder Einzugsbereichen berechnet (Pieper & Schweikart 2011). Sowohl die Ergebnisse des ersten Indikators auf Blockbasis, als auch die des zweiten Indikators auf Basis von Rasterzellen, werden für höhere räumliche Ebenen aggregiert und gemittelt. Auf der Ebene der 447 Berliner Planungsräume werden sie mit Daten aus dem handlungsorientierten Sozialstrukturatlas Berlin 2013 in Beziehung gesetzt (Senatsverwaltung für Gesundheit und Gesundheit Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Dokumentation 20. Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2015 Seite 1 von 16
Soziales 2013). Es wird untersucht, ob ein Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der beiden Indikatoren für sieben Arztgruppen (Augenärzte, Chirurgen, Gynäkologen, Internisten, Kinderärzte, Orthopäden und Psychologen) und den drei Datensätzen aus dem Sozialstrukturatlas (Sozialindex I, Arbeitslosenquote und vorzeitige Sterblichkeit) besteht. Für die Untersuchung eines statistischen Zusammenhanges werden Korrelationskoeffizienten nach Pearson bestimmt. Für die Untersuchung eines räumlich-statistischen Zusammenhanges (räumliche Autokorrelation) werden Clusteranalysen mittels Local Moran s I durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass es keinen Zusammenhang der Sozialstrukturdaten mit dem Versorgungsindikator Gleitende Einzugsbereiche gibt. Dieses Ergebnis ist eine Folge der Konstruktion des Versorgungsindikators, die die räumliche Erreichbarkeit der Arztstandorte innerhalb von 15 Gehminuten als entscheidendes Kriterium zur Bewertung der Versorgungsqualität beinhaltet. Die Erreichbarkeit von Ärzten steht aber stark mit der Bevölkerungsdichte im Zusammenhang. Die Bevölkerungsdichte unterliegt einem Zentrum-Peripherie-Gefälle. Periphere Gebiete mit niedriger Bevölkerungsdichte sind häufig von Einfamilienhausbebauung und günstiger Sozialstruktur geprägt. In diesen Gebieten sind die Wege zum Arzt zwangsläufig länger, da weniger Ärzte nötig sind, um die Bevölkerung zu versorgen und die Wege zu ihnen durch die Siedlungsstruktur länger sind. Im Gegensatz dazu zeigen die Ergebnisse der Korrelationsanalyse zwischen den Dichte- Relationen und den Sozialstrukturdaten bei allen Arztgruppen hochsignifikante Zusammenhänge. In Gebieten mit günstiger Sozialstruktur ist das Verhältnis zwischen Arztdichte und Bevölkerungsdichte ebenfalls günstig. Die Dichte-Relationen hängen weniger von der Erreichbarkeit ab und geben das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Ärzte-Angebot weiträumiger wieder. Am deutlichsten ist der Zusammenhang zwischen dem Sozialindex I und der Arztgruppe der Psychologen. Die Ergebnisse der Clusteranalyse mittels Local Moran s I deuten ebenfalls auf einen starken Zusammenhang zwischen der Sozialstruktur und der Verteilung der Ärzte hin. Es werden eindeutig zusammenhängende Cluster von benachbarten Planungsräumen definiert, die von hoher Sozialstruktur bei günstigen Dichte-Relationen geprägt sind. Sie befinden sich vor allem in den Stadtteilen Charlottenburg, Steglitz und Zehlendorf. Demgegenüber stehen zwei große zusammenhängende Cluster von Planungsräumen, die von niedriger Sozialstruktur bei ungünstigen Dichte-Relationen geprägt sind. Sie befinden sich in den Stadteilen Wedding und Neukölln. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Gesundheitsversorgung nicht ohne Berücksichtigung der Siedlungsstruktur/Bevölkerungsdichte ausgewertet werden kann. So kann generell nicht gefolgert werden, dass in Gebieten mit günstiger Sozialstruktur die kleinräumige Versorgung besser ist und Ärzte schneller erreicht werden. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass Stadtgebiete mit günstiger Sozialstruktur im Allgemeinen eine höhere Dichte-Relation bei allen untersuchten Arztgruppen aufweisen. Sowohl Gesundheit Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Dokumentation 20. Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2015 Seite 2 von 16
Arztdichte, als auch Sozialstruktur hängen stark mit der Bevölkerungsdichte zusammen. Bewohner der weniger dicht besiedelten Stadtrandgebiete mit günstiger Sozialstruktur haben daher bedingt durch die Siedlungsstruktur weitere Wege. In stadtstrukturell ähnlichen Gebieten mit vergleichbarer Bevölkerungsdichte haben sich aber in denjenigen mit günstiger Sozialstruktur mehr Ärzte im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte niedergelassen. Literatur / Quellen: Abel, A., Anker, J. & Köhler, R. (2013): Senat will Ärzte gerechter auf Berliner Bezirke verteilen. In: Berliner Morgenpost, Artikel 120781062 vom 10.10.2013. Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (Hrsg.) (2003): Bekanntmachung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über eine Änderung der Richtlinien über die Bedarfsplanung sowie die Maßstäbe zur Feststellung von Überversorgung und Unterversorgung in der Vertragsärztlichen Versorgung (Bedarfsplanungs-Richtlinie-Ärzte). Vom 24. März 2003. Veröffentlicht im Bundesanzeiger 2003, S.14781. Dussault, G & Franceschini, M. C. (2006): Not enough there, too many here: understanding geographical imbalances in the distribution of the health workforce. Human Resources for Health 2006, 4:12. Pieper, J. & Schweikart, J. (2011): Sozialstruktur und ambulante Gesundheitsversorgung im urbanen Raum am Beispiel Berlins. In: Strobl, J., Blaschke, T. & Griesebner, G. (Hrsg.): Angewandte Geoinformatik 2011. Heidelberg, S. 294 299. Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Hrsg.) (2013): Handlungsorientierter Sozialstrukturatlas Berlin 2013. Ein Instrument der quantitativen, interregionalen und intertemporalen Sozialraumanalyse und -planung. 284 S. Schweikart, J., Pieper, J. & Metzmacher, A. (2010): GIS-basierte und indikatorgestützte Bewertung der ambulanten ärztlichen Versorgungssituation in Berlin. In: Kartographische Nachrichten 2010, 6. Kontakt Prof. Dr. Jürgen Schweikart Beuth Hochschule für Technik Berlin Fachbereich Bauingenieur- und Geoinformationswesen Luxemburger Straße 10 13353 Berlin Tel: +49 30 4504 2038 schweikart@beuth-hochschule.de Gesundheit Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Dokumentation 20. Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2015 Seite 3 von 16
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