1 Rede, Stefan Wenzel, Volkstrauertag So, 16.11.08, 11.30 Opernhaus Hannover beginnen möchte ich mit einem kurzen Text von Zvi Hermon: Es gibt Worte, die einmal gelesen, einmal gehört, unauslöschlich im Gedächtnis eingebrannt bleiben. Sie sind wie eine Begleitmusik, die immer wieder im Bewusstsein mitklingt. Solche Worte auszusprechen ist heilend, weil sie uns helfen formlose, dunkle, bedrohende und bedrückende Gefühle von ihrem Ursprung her zu verstehen und sie dadurch zu bewältigen. < Abschied das ist immer ein bisschen wie sterben > Ich wusste schon längst in meinem Herzen, das jedes Mal, wenn man von einem Menschen den man liebt, Abschied nimmt, oder man Abschied nimmt, weil eine Liebe erlischt, auch immer ein Stück von einem selbst, ein Stück von der eigenen Seele stirbt. So war es auch bei dem ersten Erlebnis, an das ich mich klar erinnere, schreibt Hermon. Er war genau drei Jahre alt, als sein Vater von ihm Abschied nahm, um in den Krieg zu ziehen - im Februar 1915. Zvi Hermon war der letzte Rabbiner der alten Göttinger Synagoge. Er verließ Deutschland im Jahr 1938 kurz bevor die Synagoge von der NSDAP in Brand gesteckt wurde. Wenig später begannen die Nationalsozialisten den Krieg, der Europa in Schutt und Asche legte und Millionen Menschen die Väter und Mütter, die Großeltern, die Kinder, die Freunde oder die Nachbarn raubte. Hitlers Machtübernahme begann mit der Entmachtung des Parlaments und der Inhaftierung und Ermordung von Abgeordneten des Reichstages. Erste Konzentrationslager für politische Gefangene entstanden schon im Jahr 1933. Es folgte die Entrechtung und später die systematische Ermordung von Deutschen jüdischen Glaubens, von Menschen jüdischen Glaubens aus vielen anderen Ländern Europas, von behinderten Menschen, von Sinti und Roma und von politisch anders Denkenden.
2 wie sie wissen hat der heutige Gedenktag eine wechselvolle Geschichte. Der kriminelle Wahn der Nationalsozialisten machte auch vor diesem Tag nicht halt. In den Jahren 1934 bis 1945 wurde für den Volkstrauertag die zynisch-menschenverachtende Bezeichnung Heldengedenktag gewählt. Er fand jährlich im März statt. Anfang der fünfziger Jahre wurde der Volkstrauertag in der Bundesrepublik erneut eingeführt, um aller Opfer der beiden Kriege und der Opfer der Gewaltherrschaft zu gedenken. Ausdrücklich unterstütze ich dabei die Forderung von Prof. Rolf Wernstedt, der in einer aktuellen Broschüre des Volksbundes schreibt, dass dabei Verbrechen, Versagen und Verantwortlichkeiten nicht verschwiegen werden dürfen. heute werden an vielen Orten in Niedersachsen Kränze und Blumen an den Orten niedergelegt, die an die gefallenen Soldaten der beiden Weltkriege erinnern. Ich habe bei mir im Dorf, einem Ort mit 1000 Einwohnern in der Gemeinde Gleichen bei Göttingen, häufig an diesen Veranstaltungen teilgenommen, aber es hat mich immer befremdet, dass auf dem Mahnmal nur die gefallenen Soldaten aufgeführt sind. Die beiden Zwangsarbeiter, die im Dorf bei einem Granatenbeschuss ums Leben kamen, fehlten ebenso, wie der englische Soldat, der in der Nähe des Dorfes abgeschossen wurde. Auch für einen Maurer, SPD-Mitglied, der Ende 1943 plötzlich deportiert wurde und vier Wochen später in einem Arbeitserziehungslager der Gestapo in Lahde an der Weser an Misshandlungen durch die NSDAP starb, wie der damalige Pfarrer in einem alten Kirchenbuch vermerkte, gab es keinen Ort des Gedenkens. Der Ortsrat hat daher vor einiger Zeit beschlossen neben dem Mahnmal für die gefallenen Soldaten einen Stein zu setzen, der an die zivilen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erinnert. Das ist in Niedersachsen eher die Ausnahme. Ähnliche Projekte gibt es bislang in Peine und wohl auch in Stade, wo der Ort für die zivilen Opfer in Sichtweite der Gedenkstätte für die Gefallenen ist. an vielen anderen Orten klafft der Anspruch aller Opfer der Gewaltherrschaft zu Gedenken in Rede und Symbolik leider noch auseinander.
3 Aber es stellt sich auch die Frage: Will man in jedem Fall der Opfer der Gewaltherrschaft an dem Ort gedenken, wo auch Täter liegen oder liegen können? Eine schwierige Frage auf die bislang keine einfache Antwort gefunden wurde. Unsere MitbürgerInnen jüdischen Glaubens gedenken der Opfer der Schoah und der Ghetto- Widerstandskämpfer insbesondere am Jomhaschoah, dem 27. Nissan des jüdischen Kalenders, ein Datum, das an den Aufstand im Warschauer Ghetto erinnert. Außerdem gedenken wir gemeinsam am 27. Januar und am 9. November der Opfer des Holocaust. auch für das Gedenken an die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, die in Deutschland ums Leben gekommen sind, gibt es vielfach keinen Ort des Gedenkens. Während der nationalsozialistischen Herrschaft viele Millionen Männer, Frauen und Kinder in das deutsche Reich zur Arbeit verschleppt worden. In Hannover arbeiteten etwa 60.000 Menschen, die in 500 Lagern untergebracht waren. In Stadt und Landkreis Göttingen arbeiteten etwa 34.000 Menschen. Im Bereich Braunschweig waren 137 000 Menschen in über 800 Lagern untergebracht. Bei den Reichswerken Hermann Göring in Salzgitter allein mehr als 13 000 Menschen - das waren 72 Prozent der Gesamtbelegschaft. Ein Viertel aller Beschäftigten waren zum Ende des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. In den niedersächsischen Dörfern sprach man polnisch, russisch, ukrainisch, serbisch, französisch, italienisch und holländisch. Für das Land Niedersachsen gibt es aber bislang keine zusammenhängende Darstellung der Schicksale von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Einige Organisationen, Landkreise, Städte und Gemeinden haben für ihren lokalen Bereich das Thema jedoch aufgearbeitet. Im Land Niedersachsen gibt es aber noch eine Vielzahl weißer Flecken, in denen dieser Teil der lokalen Geschichte noch ausgeblendet wird. auch die 22.000 Deserteure, die im 2. Weltkrieg zum Tode verurteilt wurden, gehören schon zu lange zu den vergessenen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Sie haben sich einem verbrecherischen Krieg entzogen. Ihre Angehörigen wurden dafür geächtet. Auch nach dem Krieg fanden sie nur selten Anerkennung. Nur wenige Gedenksteine erinnern an ihren Mut. Gerade eine Parlamentsarmee wie die Bundeswehr sollte ihr Andenken in Ehren halten.
4 auch 60 Jahre nach Kriegsende ist unsere Erinnerungskultur eine Suche nach angemessenen Wegen und Formen geblieben. Noch gibt es Zeitzeugen unter uns, die uns den Wahnsinn des Krieges im eigenen Land aus eigener Erfahrung schildern können. Kein Geschichtsbuch und kein Film können diese unmittelbaren und direkten Eindrücke ersetzen. Aber es wird eine Zeit kommen, wo die Schrecken des Krieges und der Gewaltherrschaft nicht mehr durch Zeitzeugen vermittelt werden kann. Deshalb ist es wichtig, dass Jugendarbeit und Jugendbildungsprojekte Erinnerungsarbeit leisten. Dazu hat der Volksbund in den letzten Jahren interessante Projekte und Anregungen geliefert und Bildungsstätten aufgebaut. Hier liegt eine zentrale Herausforderung für die Zukunft. Die konkrete Beschäftigung mit den Schicksalen der Verstorbenen ist praktischer Geschichtsunterricht. Die Frage warum junge Menschen im Alter von 18 oder 19 Jahren in der Ukraine oder in Russland unterwegs waren, führt zur Auseinandersetzung mit dem politischen Hintergrund mit Ursachen von Krieg und Gewaltherrschaft. Der systematischen Entrechtung, Demütigung und Diskriminierung von Minderheiten. Rechtsextremistische Organisationen versuchen, gerade junge Menschen für ihre Ideologie zu gewinnen. Wenn wir wollen, dass junge Menschen aus der Geschichte lernen, müssen sie ihre lokale Geschichte kennen. Hier hat auch die Auflösung der Landeszentrale für politische Bildung eine schmerzhafte Lücke hinterlassen. Die lokale Aufarbeitung der Geschichte und die Auseinandersetzung mit Formen totalitärer Herrschaft ist zugleich ein Beitrag zur aktiven Auseinandersetzung mit neuem und altem rechtsextremen Gedankengut. Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur schärfen das Bewusstsein für Gefährdungen des Frieden und für Gefährdungen unserer Demokratie. Dabei muss uns immer bewusst sein, dass das Erreichte immer aufs Neue verteidigt werden muss. Nichts ist selbstverständlich. Das gilt auch für die Sorgfalt im öffentlichen Diskurs und den Versuch aktuelle politische Ereignisse mit historischen Vergleichen aufzuladen. Die unbedachte Verwendung von eindeutig besetzten Begriffen kann äußerst schmerzhafte Erinnerungen wachrufen. Wenn man die Kürzung von Managergehältern mit der Reichspogromnacht in Verbindung bringt, braucht man sich über sehr deutliche Reaktionen nicht zu wundern. Das Beispiel zeigt, wie schnell die Dimension historischer Ereignisse relativiert werden kann.
5 Das Beispiel zeigt, wie wichtig eine lebendige Erinnerungskultur ist. Und das Beispiel zeigt auch, wie viele Generationen es dauert, bis die Wunden an Seele und Geist heilen, die Krieg und Gewaltherrschaft hinterlassen. Seit 1945 lebt Mitteleuropa im Frieden. Länger als je zuvor. In anderen Teilen der Welt sieht das leider ganz anders aus. Dabei wächst die Welt immer mehr zusammen und wir dürfen uns keine Minute auf dem Erreichten ausruhen. Im Gegenteil. Das Massaker in Srebreniza, der Völkermord in Ruanda, der Krieg im Irak betreffen auch uns. Angesichts moderner Massenvernichtungswaffen, Proliferation von Atomwaffen und asymmetrischer Kriege, angesichts einer immer engeren weltweiten Vernetzung können, wir uns auf unserer kleinen Insel des Friedens nicht ausruhen. Dabei sollten wir uns vor denen hüten, die behaupten sie könnten das Böse vernichten. Kann man das Böse überhaupt vernichten? Ich glaube nicht! Aber wir können unsere Kinder und Jugendlichen Achtsamkeit lehren. Unsere Kinder und Jugendlichen lernen heute im Fernsehen und im Computerspiel was Krieg und Terror bedeutet. Dort findet brutale Gewalt scheinbar schmerz- und folgenlos statt. Konflikte werden in dieser Welt oft auf archaische Weise gelöst, indem der Gegner medial vernichtet wird. Die Rattenfänger von Rechts treffen vielfach auf eine Jugend, die zu oft allein gelassen wird in scheinbar grenzenloser Freiheit. Auch das Phänomen der abwesenden Väter ist kulturhistorisch sehr jung. das müssen wir ernst nehmen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass emanzipatorische Bildung und Erziehung zur Verantwortung im Mittelpunkt stehen. Wir dürfen nicht länger dulden, dass acht Prozent unserer Jugendlichen ohne Schulabschluss und ohne Perspektive von der Schule entlassen werden.
6 Wir müssen uns noch viel vehementer dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft von einem Geist geprägt wird, der für Gerechtigkeit, Toleranz und Weltoffenheit, für gegenseitigen Respekt und für interkulturelle Verständigung steht. Für jeden Einzelnen von uns gilt dabei der Satz von Mahatma Gandhi: Be the change, you want to see in the world. (Sei die Veränderung, die Du dir für diese Welt wünschst) Herzlichen Dank fürs Zuhören!