THESEN. Simon Isztray

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Transkript:

THESEN Simon Isztray Ästhetik und Philosophie stehen in den Werken Nietzsches von Anfang an in einem engen Zusammenhang. Eugen Fink sagte über die Geburt der Tragödie, dass Nietzsche in diesem Werk die Aesthetik in das Organon der Philosophie verwandle. Die Tragödie als philosophisches Problem wurde zum ersten Mal in der Ästhetik des deutschen Idealismus behandelt. Der erste Text, der die Tragödie als philosophisches Problem betrachtete, war das letzte Stück der Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus von Schelling, die er 1795 schrieb. Peter Szondi machte auf den Unterschied zwischen Schellings Philosophie der Tragischen und der Poetik der Tragödie, wie sie in Aristoteles Poetik erscheint, aufmerksam. Die erste maßgebliche philosophische Darstellung des Problems der Tragödie und des Tragischen finden wir bei Platon und Aristoteles, die die Grundbegriffe des abendlandichen Denkens bestimmen. Die Poetik der Tragödie wurde von Schelling, Hegel und Hölderlin wieder aufgegriffen, die dann eine Philosophie des Tragischen erschufen. Man kann so formulieren, dass man zwar die Philosophie des Tragischen von der Poetik des Tragischen unterscheiden kann, aber die Philosophie des Tragischen stand mit der Poetik des Tragischen immer in einer engen Verbindung. Nietzsche erbte beide und wollte sie zugleich auch überwinden. Nietzsches Ästhetik hat die alte Streit zwischen der Kunst und der Philosophie wieder zum Leben erweckt. Die Philosophie des Tragischen (und Poetik des Tragischen), wie sie in der Geburt der Tragödie erscheint, verwandelt sich in den darauffolgenden Werken in eine tragische (oder dionysische) Philosophie. Die Doktorarbeit stellt diese Verwandlung dar. Meine Untersuchungen umfassen diejenige Werke Nietzsches, die zwischen der Geburt der Tragödie und Also sprach Zarathustra entstanden. Die Rede über die Geburt der Tragödie kündet auch die Geburt der Philosophie, und der Ästhetik im Werk Nietzsches an. In dieser Schrift zeigt sich Nietzsche zum ersten Mal als Philosoph und wird auch das klar, dass Nietzsches Philosophie zugleich eine eigenartige Ästhetik ist, die von Nietzsche in einem Brief als eine sonderbare Metaphysik der Kunst bzw. in der Schrift Versuch einer Selbstkritik als Artisten-Methaphysik bezeichnet wurde. In der Geburt der Tragödie treffen wir zum ersten Mal die eigentümlichen philosophischen und ästhetischen Themen Nietzsches, wie z. B. das Begriffspaar apollinisch-dionysisch, die Kunst als Lebensmodell, seine Musik-, Drama-, und Lyriktheorie, sowie das komplexe

Verhältnis der Kunst und der Erkenntnis. Die Geburt der Tragödie ist aber auch eine einzigartige Schrift unter den Werken Nietzsches. Die Hauptmotiven werden in den späteren Werken umgewertet, und auch die rhetorische Struktur dieses ersten Werks unterscheidet sich von den darauffolgenden, die eindeutig von einer aphoristischen Struktur geprägt sind. Die zentrale These des Werks, nämlich dass nur als aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt ist, kommt in den späteren Werken nicht mehr vor. Die Geburt der Tragödie war kein Prolegomenon, wie auch auch kein theoretischer Grund, auf dem Nietzsche die spätere Werke aufbaute. Die Geburt der Tragödie war vielmehr eine Explosion, die Kräfte, kritische Strategien, theoretische Möglichkeiten freilegte, die auch die späteren Werke prägten. Lacoue-Labarthe sah es so, dass Die Geburt der Tragödie das einzige echte Buch Nietzsches und Nietzsche nach der Geburt der Tragödie kein traditionelles Buch mehr geschrieben habe. Dieses Buch ist auch durch seine Unabgeschlossenheit charakterisiert: viele Gedanken des Werks sind ohne die hinterlassenen Fragmenten und Schriften nicht zu verstehen. Zum Verständnis des Buchs sind auch die in der Basler Zeit entstandenen Schriften unentbehrlich. Die Forschungen von Philippe Lacoue-Labarthe und Sarah Kofman (und auch die von Paul de Man) über den Stellenwert des ersten Werks Nietzsches haben bis heute nichts an ihrer Bedeutung verloren. Diese Forschungen haben einerseits auf das Verhältnis zwischen der Geburt der Tragödie und der gleichzeitig enstandenen nachgelassenen Fragmenten, anderseits auf die sogenannte rhetorische Wende nach der Geburt der Tragödie, also auf die rhetorisch orientierte Sprachtheorie Nietzsches hingewiesen. Paul de Mans dekonstruktives Lesen hatte nicht weniger vor, wie jenes traditionelle Konzept zu destruieren, demzufolge Die Geburt der Tragödie anders als die späteren Werke, auf einem solchen Modell basiere, in dem die Autorität des dionysischen Prinzips gegen die des apollonischen Prinzips garantiert sei. Paul de Mans dekonstruktive Strategie strebt sich, eine rhetorisch selbstbewußte Lesart zu sein. De Man steht kritisch der Interpretation Lacoue-Labarthes gegenüber.: Lacoue-Labarthe setze nämlich voraus, dass Nietzsche Die Geburt der Tragödie über einen rhetorischen Umweg ( détour ) überwinden wollte. Diese Wende wird von de Man nicht anerkannt. Er sieht vielmehr so, die Struktur der Geburt der Tragödie sei ähnlich konstruiert, wie z. B. die der Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Also Lacoue-Labarthe und Paul de Man behandele ich auch zusammen, und zwar folgenderweise aufgebaut: 1. Die Ästhetik der Geburt der Tragödie und der gleichzeitig entstandenen und erst posthum veröffentlichten Fragmente, 2. Die Geburt der Tragödie und die Schriften über die Rhetorik, zunächst der 2

Rhetorik-Vortrag und der Text Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 3. Die Geburt der Tragödie und die Interpretation der griechischen vorplatonischen und platonischen Philosophie, die ebenfalls eines der wichtigsten Themen der Basler Periode Nietzsches darstellt. Die Nietzsche-Rezeption der 70er Jahren steckt also die Rahmen meiner Interpretation ab: Ich untersuche die Ästhetik, die Rhetorik und die Methaphysik-Kritik Nietzsches in ihrer Beziehung zueinander. Aber meine Auslegung unterscheidet sich in wesentlichen Punkten, vor allem in der Beurteilung des Dionysischen von der dekonstruktiven Lesart. Ich streite jedoch nicht die von der Dekonstruktivismus aufgezeigte Untrennbarkeit des Apollonischen und Dionysischen, ihre wechselseitige Abhängigkeit, demzufolge das Dionysische nicht als metaphysiches Prinzip, als über dem Apollonischen und der Rhetorik stehenden Autorität existiert. Das Dionysische ist zwar kein methaphysisches Prinzip, kein Grund und auch keine Identität, trotzdem ist er ein grundlegender Begriff im Werk Nietzsches. In jener Periode, in der Zarathustra entstand aber auch in den Spätwerken Nietzsches rückt, auch wenn in verwandelter Form, Dionysos und das Dionysische wieder in den Vordergrung. In den Spätwerken Nietzsches scheint die Bedeutung des Gegensatzes von dem Apollonischen und dem Dionysischen zu verschwinden, Nietzsche nennt die Einheit der beiden Prinzipien Dionysische. Selbst die Philosophie erweist sich hier als eine dionysische Tätigkeit, auch der Philosoph wird zu einem Dionysos Philosophos. Auch das Tragische tritt in den Spätwerken wieder in den Vordergrung: Nietzsche spricht hier zum Beispiel über das tragische Pathos Zarathustras. Ich halte Paul de Mans Versuch, die Rhetorik-Auffassung Nietzsches mit dem Ironie-Begriff Friedrich Schlegels zu vergleichen, für begründet, ich bestreite jedoch, dass die im Mittelpunkt stehende ästhetische Kategorie Nietzsches im Gegensatz zu Kierkegaard die Ironie wäre. Sie ist m. E. vielmehr das Tragische. (Wobei nicht vergessen werden darf, dass das Wort Incipit tragoedia auch als Incipit parodia ausgelegt werden kann, wie es Nietzsche selbst ironisch betonte.) Die vorliegende Doktorarbeit versucht die Artisten-Metaphysik, die rhetorische Sprachthorie sowie die Methaphysik-Kritik, wie es in der Interpretation der griechischen Philosophie in den 1870er Jahren zum Vorschein kommt, zusammen darzustellen. So betrachte ich nicht nur Die Geburt der Tragödie, sondern die sich gegenseitig ergänzenden Perspektiven dieser Schriften als den eigentlichen Anfang des Lebenswerkes. Die ersten beiden Kapitel der Doktorarbeit untersuchen die Wechselwirkung dieser Perspektiven. Anhand der Analyse gewisser philosophischen und ästhetischen Probleme versuchen die darauffolgenden beiden Kapitel 3

(III.-VI.) die verschiedenen gedanklichen Wege Nietzsches von den in der Basler Periode verfassten Werken zu der Periode, in der das Zarathustra-Buch geschrieben wurde, nachzuzeichnen. Das letzte Kapitel (VII.) widmet sich der Auslegung des Zarathustra-Buchs. Es handelt sich also nicht um eine monographisch konzipierte Auslegung der entsprechenden Werke Nietzsches, sondern vielmehr einen Versuch, um gewisse wichtige Probleme zu behandeln. Die Auffassung Nietzsches über die vorplatonische Philosophie spielt in der Doktorarbeit ebenfalls Schlüsselrolle. Nietzsche sah die Philosophiegeschichte durch einen Unterschied zwischen den Perioden vor und nach Platon bestimmt zu sein. Er bezeichnete die Philosophen von Thales bis Sokrates als eine Genialen-Republik. Die Periode der miteinander diskutierenden Genien endete mit Sokrates, und mit Platon setzte die neue Phase der Philosophie ein. Platon sei der erste großartige Mischcharakter gewesen, während die Philosophen vor Platon, reinen Typen gewesen seien. Eine noch markantere Trennlinie stelle die Tatsache dar, dass die griechischen Philosophen seit Platon der hellenischen Kultur und deren bisherige Einheit des Stils gegenüberständen. Die vor Platon wirkenden Philosophen seien die Beschützer der hellenischen Kultur gewesen, ihre Tätigkeit strebte nach einer Heilung und Reinigung im Großen. Die Kultur des tragischen Zeitalters der Griechen hält Nietzsche für eine neue und verbesserte Physis. Nietzsche bespricht ausführlich das Wirken Heraklits und Empedokles, die er als die wahren philosophischen Zeitgenossen der Blüteperiode der attischen Tragödie betrachtet. Der Heraklit-Auslegung Nietzsches widmet sich das vierte Kapitel der Dissertation, und zwar durch eine Untersuchung solcher Begriffe Nietzsches, wie Wechsel, Sein und Werden. Dieses Kapitel versucht auch den Einfluss von Heraklit auf die Metaphysik-Kritik Nietzsches aufzuzeigen, Die Annahme dieses Einflusses basiert darauf, dass Nietzsches Metaphysik-Kritik bezieht sich auf die Trennung des Werdens von dem Sein. Das siebte Kapitel behandelt Nietzsches Verständnis von der vorplatonischen Philosophie und der Bedeutung der Figur Empedokles. Die Interpretation der griechischen Philosophie, wie es Nietzsche durchführte, erwies sich als Ansatz zu einer allgemeinen Kritik der Metaphysik, die sich dann in der Basler Periode entfaltete. Nietzsche meinte so, dass wir, die modernen Menschen nicht nach dem Wahrheitswert der Systeme der griechischen Philosophen fragen, sondern wir betrachten diese als Kunstwerk, als ästhetisches Phänomen. Die kantische Vernunftskritik lässt die Lehre der vorplatonischen Philosophen als logische, ethische oder ästhetische Anthropomorphismen erkennen. Den Begriff des Anthropomorphismus treffen wir auch in der Rhetorik Nietzsches. 4

Der Begriff des Anthropomorphismus bezeichnete im engeren Sinne ursprünglich das Weltdbild und den Sprachgebrauch des archaischen Menschen : Z. B. die Sternbilder der Astrologie und die Metamorphosen von Ovid stellten die Naturkräfte in menschlicher Form dar. Nietzsche erweitert die Reichweite des Anthropomorphismus, für ihn bezeichnet dieser Begriff den allgemeinen Charakterzug der Sprache und des Denkens. Dieses Konzept des Anthropomorphismus steht im engen Zusammenhang mit seiner Methaphysik-Kritik. Hier reicht es nur darauf hinzuweisen, dass der schematisierende Sprachgebrauch der Philosophie und der Wissenschaft von Nietzsche auch als Anthropomorfismus aufgefasst wird. Der Irrtum der Philosophen bestünde folglich darin, dass sie die Gegenstände ihrer Erkenntnis für ein Objekt halten. Der nach der Wahrheit Forschende vergisst also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst. Die Doktorarbeit geht ausführlich in die Entstehung des Begriffs des Anthropomorphismus in Nietzsches Rhetorik, sowie in seine weitere Entwicklung in der atheistischen Metaphysik-Kritik der Fröhlichen Wissenschaft ein. Über der Interpretation der Schrift Die Geburt der Tragödie hinaus bildet eine längere Abhandlung über Zarathustra den anderen Schwerpunkt der Doktorarbeit. Die Zarathustra- Interpretation fasst die Ergebnisse der Analysen im Hinblick auf die Ästhetik, Metaphysik- Kritik und Sprachphilosophie zusammen. Sie folgt dem Vorschlag Gadamers: Das Werk ist als das Drama Zarathustras zu lesen. Untersucht werden dementsprechend nicht nur die Lehren Zarathustras, sondern auch sein dramatischer Weg, die Inszenierung des Dramas. Damit will jedoch nicht behauptet sein, dass Zarathustra bloß ein literarisches Werk wäre. Dagegen spricht im Übrigen auch das, dass die späteren Werke alle wichtige Themen Zarathustras theoretisch erörtern. Die Lehren Zarathustras sind jedoch untrennbar von seinem dramtischen Weg, von seinem eigentümlichen Schicksal. Als Leitfaden zur Auslegung des Dramas Zarathustras dient der Zusammenhang zwischen Zarathustra und der Figur Empedokles. Nietzsche beschäftigte sich seit dem sogennanten Philosophenbuch, d. h. seit dem Anfang der 1870-er Jahren mit der Figur und mit dem philosophischen System Empedokles. Die Entwürfe eines Empedokles-Dramas (1870-71) sind eindeutige Hinweise darauf, dass Nietzsche nach einer künstlerischen Form bei der Darstellung Empedokles strebte und lassen auch den Einfluss des Dramas Der Tod des Empedokles von Friedrich Hölderlin erkennen. Die während der Arbeit an dem Buch Also sprach Zarathustra entstandenen Textfragmenten beweisen auch Hölderlins Einfluss 5

ausreichend. Durch die Gegenüberstellung Zarathustras dem Empedokles-Drama Hölderlins hoffe ich das Drama Zarathustras als tragisches Kunstwerk besser erklären zu können. Die Doktorarbeit versucht Zarathustra auch als monologisches Kunstwerk gelten zu lassen. In dem 367. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft wird das moderne Kunstwerk des in der gottlosen Periode wirkenden Künstlers monologisches Kunstwerk genannt. Nietzsche stellt hier die monologische Kunst und die Kunst vor Zeugen der religiösen Perioden gegenüber. Die Kunst der religiösen Perioden sei immer eine Kunst vor Zeugen der Künstler schaffe das Kunstwerk öffentlich, vor einer Gemeinschaft und vor Gott. Im Gegensatzt dazu vergisst der monologische Künstler die Welt: Sein Kunstwerk bezeichnet Nietzsche als die Musik des Vergessens. Seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene lesen wir in dem ersten Kapitel von Zarathustra unter dem Titel Von den drei Verwandlungen, wobei die dritte Verwandlung, das Kind angesprochen wird. Die drei Verwandlungen in Zarathustra symbolisieren die Umwertung aller Werte. Die erste Gestalt der Umwandlungen ist der tragsame Geist, das Kameele, das du-sollst sagt; die zweite ist der Löwe, der ich will sagt, und die dritte ist das Kind, das durch ein heiliges Ja-sagen, das Wort des Schaffens gekennzeichnet ist. Das Kameele stellt den Geist der Rache dar. Es wird von jenen tausendjährigen traditionellen Werten geleitet, die von dem Löwen verneint werden. Aber dieses Nein lautet als ich will, und deshalb in dieser Leugnung des Löwen sich Ja-sagen versteckt. Wollen befreit, lehrt Zarathustra. Der Löwe kann leugnen (anders als das Kameele), aber er kann nicht schaffen der Löwe eröffnet bloß die Möglichkeit des neuen Schaffens, das durch das heiligen Jasagen sich vollzieht das ist die Gestalt des Kindes. Das Kind symbolisiert jenen Moment, in dem seine Welt sich der Weltverlorene gewinnt. Zur Erklärung des Verlierens der Welt und des Gewinnens der eigenen Welt ziehe ich einen Satz von Ecce homo heran: meine Zarathustra [ist] ein Dithyrambus auf die Einsamkeit. Obwohl das hellenische Dithyrambus bekanntlicherweise ursprünglich eine gemeinschaftliche (chorlyrische) Gattung war. Ich meine, dass die Widersprüchlichkeit von Zarathustra als Kunstwerk darin besteht, dass die dritte Verwandlung, das heilige Ja-sagen des Kindes als monologische Kunst keine gemeine Welt, sondern bloß eine eigene Welt schaffen kann. Die Wahrheit Zarathustras ist eine dionysische Wahrheit, nämlich die Wahrheit des Schaffens als Welt-verloren und (eigenes) Welt-gewinnen. Die Doktorarbeit wird mit einer Untersuchung über das Verhältnis der Kunst zu der Wahrheit zum Abschluss gebracht. Anhand der Analyse der diesbezüglichen Thesen Martin Heideggers 6

wird aufgespürt, wie die doppelte Wertung von Kunst und Wahrheit in Zarathustra sich miteinander verbinden, und wie die eigenartige Perspektive dieses Werks dies ermöglicht. Die dionysische Philosophie Zarathustras fällt nicht mit dem Kunst in eins. Ganz im Gegenteil, der Raum der doppelten Wertung öffnet sich zwischen der Kunst und der Wahrheit. Das Schaffen charakterisiert Nietzsche jeweils als Distanz-Schaffen: zwischen der Kunst und der Philosophie, d.h. zwischen der Kunst und der Wissenschaft. 7