der Konkordatskonferenz des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweizer

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Transkript:

RICHTLINIE SSED 17 ter.0 der Konkordatskonferenz des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweizer Kantone betreffend die Hafterstehungsfähigkeit vom 25. November 2016 1. Definition Die Hafterstehungsfähigkeit stellt die Fähigkeit eines Menschen dar, in einer Einrichtung des Freiheitsentzugs oder einer anderen geeigneten Einrichtung, in der ihr die Freiheit entzogen wird, leben zu können, ohne dass der Freiheitsentzug eine besondere und ernste Gefahr für die Gesundheit und/oder das Leben der inhaftierten Person darstellt 1. 2. Grundsätze 1 Die vorliegende Richtlinie regelt die Frage der Hafterstehungsfähigkeit für den Straf- und Massnahmenvollzug an Erwachsenen sowie für den vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug. Sie kann in analoger Weise auch auf den Vollzug von freiheitsentziehenden Zwangsmassnahmen der Strafprozessordnung (Untersuchungs- und Sicherheitshaft) und des Ausländergesetzes (sog. Administrativhaft) angewendet werden. 2 Die medizinische Beurteilung der Hafterstehungsfähigkeit erfolgt durch einen Vertrauensarzt, welcher durch die zuständige Entscheidbehörde bestimmt wird. Aus medizinischer Sicht handelt es sich dabei um eine Begutachtung. 3 Beim Entscheid der Frage betreffend die Hafterstehungsfähigkeit handelt es sich immer um eine Rechtsfrage, d.h. um eine Rechtsgüterabwägung, die nicht durch den Arzt, sondern durch die zuständige Vollzugsbehörde zu erfolgen hat 2. Der Entscheid ist der betroffenen Person mittels Verfügung zu eröffnen. 4 Liegt für die zuständige Vollzugsbehörde ein Fall von Hafterstehungsunfähigkeit vor, kann die Sanktion in einer sog. abweichenden Vollzugsform gemäss Art. 80 StGB vollstreckt werden. Nur im Falle einer sog. totalen Straferstehungsunfähigkeit wird der Vollzug ausnahmsweise aus wichtigen Gründen gemäss Art. 92 StGB unterbrochen. 1 Vgl. dazu MARC GRAF, in: Benjamin F. Brägger (Hrsg.), Das schweizerische Vollzugslexikon, S. 231. 2 Für den Vollzug von rechtskräftigen Strafurteilen, welche auf Freiheitsstrafe oder auf den Vollzug einer stationären Massnahme lauten, ist die Vollzugsbehörde, auch einweisende Behörde oder Vollstreckungsbehörde genannt, zuständig. Für den Vollzug von vorzeitigen Freiheitsstrafen oder Massnahmen ist die Verfahrensleitung nach Strafprozessordnung zuständig.

Seite - 2-3. Prüfung und Entscheid über die Hafterstehungsfähigkeit 3.1. Grundsatz 1 Grundsätzlich wird bei jeder Person davon ausgegangen, dass sie hafterstehungsfähig ist. Die Hafterstehungsfähigkeit wird deshalb nur auf Antrag oder bei Vorliegen klarer Anzeichen einer Hafterstehungsunfähigkeit abgeklärt. 2 Die Frage ob eine Person hafterstehungsfähig ist, stellt eine Rechtsfrage dar 3. Deren Beantwortung erfolgt durch die zuständige Entscheidbehörde, i.d.r. die zuständige Vollzugsbehörde 4. 3 Sie stellt das Resultat einer Rechtsgüterabwägung von medizinischen Faktoren einerseits und dem Straf-, Behandlungs-, sowie Sicherheitsanspruch des Staates andererseits dar. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass freiheitsentziehende Strafen und Massnahmen im Grundsatz ohne Unterbrechung an einem Stück zu vollziehen sind 5. 3.2. Prüfung der Hafterstehungsfähigkeit 3.2.1. Vor dem Vollzugsantritt Stellt die rechtskräftig verurteilte Person vor dem Antritt der Strafe oder Massnahme ein Gesuch um Verschiebung des Vollzugsantritts gestützt auf ein ärztliches Zeugnis, beauftragt die zuständige Vollzugsbehörde ihren Vertrauensarzt mit der medizinischen Begutachtung oder entscheidet aufgrund des eingereichten Zeugnisses. 3.2.2. Während des Vollzuges Stellt sich die Frage der Hafterstehungsfähigkeit während des Vollzuges, informiert die Leitung der Vollzugseinrichtung unverzüglich die zuständige Vollzugsbehörde darüber und bittet diese, die notwendigen Abklärungen zu veranlassen und überträgt ihr die Sache zum Entscheid. 3.3. Beizug und Auftrag der medizinischen Fachpersonen 3.3.1. Grundsatz 1 Zur Beurteilung der Hafterstehungsfähigkeit ist der Beizug medizinischer Fachpersonen als Sachverständige unerlässlich. 2 Je nach Fragestellung wird eine spezialisierte medizinische Fachperson (Psychiater, Allgemeinmediziner, etc.) mit der Aufgabe betraut. Grundsätzlich handelt es sich dabei um einen Vertrauensarzt, welcher durch die Vollzugsbehörde bezeichnet wird. 3 Liegt ein ärztliches Zeugnis des behandelnden Arztes (z.b. Hausarzt oder Anstaltsarzt) vor, kann die Entscheidbehörde zusätzlich einen Vertrauensarzt mit den notwendigen medizinischen Abklärungen beauftragen 6. 3 Vgl. MARC GRAF, in: Benjamin F. Brägger (Hrsg.), Das schweizerische Vollzugslexikon, S. 231. 4 Vgl. dazu Anmerkungen in Fussnote 2. 5 ANDREA BAECHTOLD, in: Benjamin F. Brägger (Hrsg.), Das schweizerische Vollzugslexikon, S. 464; vgl. Art. 92 StGB. 6 Vgl. MARC GRAF, in: Benjamin F. Brägger (Hrsg.), Das schweizerische Vollzugslexikon, S. 232.

Seite - 3-3.3.2. Auftrag 1 Die medizinische Fachperson wird aufgefordert, die im Fragekatalog dieser Richtlinie aufgeführten Punkte zu beantworten (vgl. dazu Anhang 1: Fragenkatalog zur Hafterstehungsfähigkeit). 2 Die medizinische Beurteilung soll sich dabei darauf beschränken, die Folgen einer konkreten Haftform in einer konkreten Anstalt oder Gefängnis/Vollzugseinrichtung auf die körperliche und psychische Gesundheit einer inhaftierten Person möglichst konkret sowie in einer für den medizinischen Laien verständlichen Sprache darzulegen. 3 Sie soll Möglichkeiten aufzeigen, wie dem Risiko einer gesundheitlichen Schädigung aus medizinischer Sicht bestmöglich entgegengewirkt werden kann, z.b. durch entsprechende Therapien oder Anpassungen des Haftregimes. Dies bedingt, dass die mit der Begutachtung beauftragte medizinische Fachperson die konkreten Haftbedingungen in der jeweiligen Anstalt kennt 7. 3.4. Entscheid 3.4.1. Grundsatz 1 Die Beurteilung der medizinischen Fachpersonen sind für die zuständige Entscheidbehörde nicht bindend. Die ärztliche Beurteilung des Inhaftierten dient ihr als Entscheidhilfe. 2 Nach Vorliegen der medizinischen Beurteilung des Vertrauensarztes muss die Vollzugsbehörde abwägen, ob die für die betroffene Person aus dem Freiheitsentzug resultierenden gesundheitlichen Risiken höher zu werten sind, als das Interesse des Staates an der Durchsetzung eines ununterbrochenen Vollzugs der Sanktion, dies insbesondere im Lichte einer möglichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch eine gesundheitlich bedingte Unterbrechung der Strafe oder Massnahme. 3 Soll eine verurteilte Person, welche unter erheblichen gesundheitlichen Problemen leidet in eine Institution des Straf- oder Massnahmenvollzuges eingewiesen werden, berücksichtigt die Vollzugsbehörde neben der Frage der Zumutbarkeit der Haftsituation für den Gefangenen selbst auch die Frage der grundsätzlichen Eignung der Institution für den betreffenden Einzelfall sowie die Frage der Zumutbarkeit für die Vollzugsangestellten. 3.4.2. Zuständigkeiten 1 Die zuständige Vollzugsbehörde 8 entscheidet in Fällen von rechtskräftigen Strafen und Massnahmen mittels Verfügung ob, wann, wo und unter welchen Rahmenbedingungen eine Strafe oder Massnahme vollzogen wird. Das Verfahren richtet sich nach dem jeweiligen anwendbaren kantonalen Verwaltungsverfahrensrecht. 2 Befindet sich die betroffene Person im vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug ist die zuständige Verfahrensleitung (Staatsanwaltschaft oder das Gericht) für den Entscheid über die Hafterstehungsfähigkeit zuständig 9. Gesuche, welche fälschlicherweise an die Vollzugsbehörde 7 Kenntnisse in Bezug auf die Vollzugslandschaft im Allgemeinen sind darüber hinaus von Vorteil, namentlich um die Frage beantworten zu können, ob es für die vorgeschlagenen Behandlungen eine geeignete, gesicherte Einrichtung gibt. 8 Im Falle des vorzeitigen Straf- oder Massnahmenvollzuges oder der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft ist die Verfahrensleitung nach StPO für diesen Entscheid zuständig. 9 Bis zur Rechtskraft des Urteils ist die Verfahrensleitung, d.h. die Staatsanwaltschaft oder nach der Anklageerhebung das Gericht (als Einweisungsbehörde) zuständig für alle Regelungen und Entscheide

Seite - 4 - gerichtet wurden, werden von dieser der zuständigen Verfahrensleitung zum Entscheid übermittelt. 3.4.3. Entscheidgrundlagen Bei der Beurteilung der Frage der Hafterstehungsfähigkeit hat die zuständige Vollzugsbehörde nachfolgende Grundsätze zu beachten: a. Rechtskräftige Freiheitsstrafen und Massnahmen werden im Grundsatz ohne Unterbrechung vollzogen. b. Jeder Freiheitsentzug stellt einen Eingriff in die persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse/Freiheiten der betroffenen Person dar. Dieses sog. Strafübel stellt ein inhärentes Element eines jeden Freiheitsentzuges dar, welches im Grundsatz von jeder betroffenen Person hingenommen werden muss. c. Die Äusserungen von Suizidabsichten oder von Absichten der Selbstgefährdung führen nicht per se zur Annahme der Hafterstehungsunfähigkeit der betroffenen Person. Vielmehr ist bei konkreten Suizidandrohungen eine psychiatrische Begutachtung in Erwägung zu ziehen, deren Empfehlungen dann im Rahmen einer allfälligen Hafterstehungsfähigkeitsprüfung zu berücksichtigen sind. d. Gesundheitsrisiken, die auch ausserhalb der Vollzugseinrichtung bestehen und die sich durch den Vollzug nicht verschärfen, führen in der Regel nicht zu einem Aufschub oder einer Unterbrechung des Vollzugs. e. 1 Das öffentliche Interesse an einem ununterbrochenen Vollzug rechtskräftiger Strafen und Massnahmen sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz schränken den Ermessensspielraum der Vollzugsbehörde hinsichtlich einer Verschiebung oder einer Unterbrechung des Straf- oder Massnahmenvollzugs erheblich ein. 2 Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit muss deshalb massgebend bei der Entscheidung, ob ein Freiheitsentzug trotz gesundheitlicher Einschränkungen anzuordnen oder aufrecht zu erhalten ist, berücksichtigt werden. Die Frage der Hafterstehungsfähigkeit hängt somit stark mit den konkreten Gegebenheiten und Haft- und Vollzugsbedingungen in den Gefängnissen und Vollzugseinrichtungen, insbesondere mit der angebotenen medizinischen Versorgung in diesen Einrichtungen zusammen. 3 Die Fragen der Hafterstehungsfähigkeit kann deshalb nicht generell, sondern immer nur bezogen auf eine bestimmte Person innerhalb eines bestimmten Haft- und Vollzugsregimes in einer bestimmten Vollzugseinrichtung abgeklärt werden. Ebenso hängt die Hafterstehungsfähigkeit von der Art und Dauer der zu vollziehenden Sanktion ab 10. f. Ein Aufschub oder eine Unterbrechung des Vollzugs einer rechtskräftigen Strafe bzw. Massnahme auf unbestimmte Zeit kann grundsätzlich nicht gewährt werden. Auch wenn die medizinische Begutachtung darauf schliessen lässt, dass der Freiheitsentzug das Leben oder die Gesundheit des Inhaftierten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in schwerwiegender Art und Weise gefährdet oder wenn damit zu rechnen ist, dass dieser im Freiheitsentzug sterben wird, ist eine Güterabwägung vorzunehmen, wobei neben den medizinischen Gesichtspunkten, die Art und Schwere der begangenen wie Hafterstehungsfähigkeit, Urlaubs- und Besuchsregelung, Vollzugslockerungen, etc. Die Zuständigkeit für die Regelung des Freiheitsentzuges geht erst nach Eintritt der Rechtskraft des Strafurteils an die Vollzugsbehörde über. 10 Vgl. Urteil vom 27. September 2013, 6B_606/2013 mit Verweis auf BGE 108 Ia 69 E. 2c und 2d S. 72 mit Hinweisen; 116 Ia 420 E. 3b S. 423 mit Hinweis; Urteil 6B_377/2010 vom 25. Mai 2010 E. 2.1.

Seite - 5 - Straftat, die Dauer der Strafe sowie die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch die betroffene Person zu bewerten ist. Je schwerer die Tat und Strafe oder die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sind, umso stärker fällt - im Vergleich zur Gefahr der Beeinträchtigung der körperlichen Integrität - der staatliche Straf-, respektive Behandlungsund Sicherheitsanspruch ins Gewicht. g. Eine länger dauernde Unterbrechung oder ein Aufschub des Straf- und Massnahmenvollzugs kann gewährt werden, wenn mit grosser Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass der Freiheitsentzug das Leben oder die Gesundheit der betroffenen Person ernsthaft gefährdet und keine Möglichkeit besteht, dieser Gefährdung durch eine geeignete Unterbringung, Bewachung oder Betreuung entgegenzuwirken (vgl. dazu Art. 80 Abs. 2 StGB). h. Im Falle von grösseren gesundheitlichen Problemen kann die Vollzugsbehörde von den für den Vollzug geltenden Regeln zu Gunsten des Gefangenen abweichend entscheiden (Art. 80 Abs. 1 StGB) 11. 4. Angepasster Vollzug infolge gesundheitlicher Beeinträchtigungen Liegen bei Inhaftierten schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen vor, können nachfolgend angeführte Massnahmen angeordnet und umgesetzt werden, um den Vollzug weiterführen zu können: a. Bestehen im Vorfeld des Straf- oder Massnahmenantritts medizinische Gründe, die gegen einen Antritt der Strafe sprechen, ist anhand einer Vorabklärung zu prüfen, ob durch eine Modifizierung des Strafvollzugsregimes (z.b. Absehen von der Arbeitspflicht) der Straf- oder Massnahmenantritt dennoch erfolgen kann. b. Anpassung des Haft- und Vollzugsregimes innerhalb einer Einrichtung des Justizvollzugs mit Einwilligung der Leitung der Vollzugseinrichtung, z.b. teilweise oder gänzliche Befreiung von der Arbeitspflicht. c. Versetzung in eine im Einzelfall besser geeignete Einrichtung des Justizvollzugs. d. Vorübergehende Verlegung in eine medizinische Einrichtung ohne Bewilligung eines Strafunterbruchs. e. Anordnung einer abweichenden Vollzugsform gestützt auf Art. 80 StGB. Dabei ist beispielweise an die Einweisung in eine privat geführte Institution oder der Vollzug einer freiheitsentziehenden Sanktion mittels Electronic Monitoring denkbar. 5. Hospitalisierung 1 Wird während des Straf- und Massnahmenvollzugs ein Spital- bzw. Klinikaufenthalt notwendig, ist vorab durch die Vollzugsbehörde zu entscheiden, ob die medizinische Intervention ohne Haftunterbrechung, d.h. Vollzug in angepasster Form gemäss Art. 80 Abs. 1 und 2 StGB, auf einer allgemeinen Station eines Spitals oder einer Klinik durchgeführt werden kann, oder ob 11 Vgl. Urteil vom 27. September 2013, 6B_606/2013, Urteil des Bundesgerichts vom 6. Oktober 2014, 6B_593/2014, jeweils mit Hinweisen.

Seite - 6 - diese zwingend in einer gesicherten medizinischen Institution zu erfolgen hat (z.b. in der Bewachungsstation des Inselspitals in Bern oder in speziell gesicherten Spitalzimmern kantonaler Spitäler). 2 Ein Aufenthalt in der Bewachungsstation des Inselspitals in Bern oder in einem speziell gesicherten Spitalzimmer eines öffentlichen Spitals führt nicht zu einer Unterbrechung des Vollzugs. 3 Eine Unterbrechung des Vollzugs wird im Sinne einer ultima ratio Massnahme bewilligt, wenn keine medizinische Institution gefunden werden kann, welche die notwendige Sicherheitsinfrastruktur aufweist und/oder die Bereitschaft hat, die betroffene Person aufzunehmen. 4 Eine allfällige Zwangsmedikation zur Wiederherstellung der Hafterstehungsfähigkeit bei schweren psychischen Erkrankungen darf nur in einem Spital oder einer Klinik durchgeführt werden. Die Anordnung dieser Massnahme richtet sich nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen des für den Vollzug der Sanktion zuständigen Kantons. 6. Genehmigung und Inkrafttreten 1 Die vorliegende Richtlinie wurde auf Antrag der AKP am 25. November 2016 von der Konkordatskonferenz genehmigt und tritt am Tag der Genehmigung in Kraft. 2 Sie wird in die systematische Sammlung der Erlasse und Dokumente des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz (SSED) aufgenommen und im Internet publiziert.

Seite - 7 - Fragenkatalog zur Hafterstehungsfähigkeit an medizinische Fachpersonen: (Anhang 1 der Richtlinie der Konkordatskonferenz des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweizer Kantone betreffend die Hafterstehungsfähigkeit vom 25. November 2016, SSED 17 ter.0) 1. Welche körperlichen Leiden und/oder psychischen Störungen bestehen bei der beurteilten Person (ICD-10)? 2. Welche Auswirkungen hat der Freiheitsentzug angesichts der zu erwartenden Belastungsmomente auf die psychische und/oder körperliche Gesundheit der betroffenen Person in der konkreten Einrichtung 12? 3. Sind irreversible Schädigungen oder gar der Tod des Beurteilten in Haft zu befürchten? 4. Wie hoch schätzen Sie das Risiko für selbstschädigende und/oder suizidale Handlungen ein? Wie sicher kann eine entsprechende Beurteilung erfolgen (Angaben des Betroffenen, Akten, Fremdinformationen)? 5. Können derartige Schädigungen verhindert werden durch: a. Medizinische Massnahmen? Als wie einschneidend für die persönliche Freiheit des Beurteilten sind solche Massnahmen aus medizinischer Sicht zu bezeichnen? Ist die beurteilte Person hinsichtlich solcher medizinischer Massnahmen einwilligungsfähig und bereit, sich diesen zu unterziehen? b. Andere Massnahmen? 6. Gelten diese Aussagen zeitlich befristet (falls ja bis wann) oder zeitlich unbefristet? Wann sollte spätestens eine Neubeurteilung stattfinden? 7. Ist Ihnen eine aus medizinischer Sicht eine für den Vollzug der Sanktion beim Beurteilten geeignete Einrichtung oder Vollzugsform bekannt, welche den allfälligen oben genannten gesundheitlichen Risiken entgegenzuwirken vermag? 8. Wurden weitere Feststellungen gemacht oder sind andere Bemerkungen anzubringen, die für die Rechtsgüterabwägung von Bedeutung sein könnten? 9. Sind sofortige Massnahmen angezeigt (allenfalls telefonische Rückmeldung an die Anstaltsleitung respektive an die Vollzugsbehörde oder die zuständige Verfahrensleitung)? 12 Dabei stellen sich insbesondere die Frage nach Krankheiten oder Einschränkungen, bei denen die eingewiesene Person Unterstützung in der Erledigung der Aktivitäten des täglichen Lebens braucht, ob er/sie pflegebedürftig ist und Unterstützung durch eine Pflegefachkraft benötigt, ob die Krankheit oder Einschränkung die Arbeitsfähigkeit betrifft und ob spezielle Hilfsmittel erforderlich sind und falls ja, welche? (Beinprothese, Atemgerät in der Nacht etc.).