Darf der Staat Unschuldige opfern, um Unschuldige zu retten?

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Transkript:

Vortrag vor der Jahresversammlung der Gesellschaft für ethische Fragen vom 14. Mai 2008 in Zug Darf der Staat Unschuldige opfern, um Unschuldige zu retten? Von Josef Lang, Dr. Phil, Nationalrat, Zug Darf der Staat Unschuldige opfern, um Unschuldige zu retten? Diese Frage stellt sich in besonderer Schärfe vor dem Hintergrund des Terrorismus. Sie steht im Schatten von 9/11, das als klassisches Beispiel einer assymetrischen Bedrohung gilt. Eine mindestens so ausgeprägte Assymetrie kennen wir heute in der Wahrnehmung von Bedrohungen. Viel gefährlicher als der Terrorismus sind die Klimaerwärmung, die Hungersnöte, die Ressourcenverknappung, die sozialen Gefälle, die Remilitarisierung der Welt. Heute werden für Armeen, Aufrüstung und Kriege mit 1300 Milliarden Franken pro Jahr mehr Geld ausgegeben als zu den Hochzeiten des Kalten Krieges. Fast die Hälfte von den USA mit der Begründung des war on terror. Ein Zwanzigstel der 1300 Milliarden, die für den Tod ausgegeben werden, würde reichen, um die Armut auf dieser Welt zu halbieren und damit unzählige Menschenleben zu retten. Nach dieser Relativierung der Bedeutung des Hintergrund-Problems unseres heutigen Themas konzentriere ich mich nun auf die Fragestellung: Wie weit darf der liberale Rechtsstaat in der Bekämpfung des Terrorismus gehen? Darf er beispielsweise ein von Terroristen gekapertes und in eine Waffe verwandeltes Flugzeug abschiessen, wenn in diesem unbeteiligte und damit unschuldige Passagiere sitzen? Das offizielle Gremium, das sich bislang am intensivsten mit dieser Frage beschäftigt hat, ist das deutsche Bundesverfassungsgericht. Dieses erklärte vor gut zwei Jahren eine entsprechende Abschuss-Ermächtigung des Luftsicherheitsgesetzes als nichtig. Zu den Verfassungsbeschwerdeführern hatte unter anderen der ehemalige Innenminister Burkhard Hirsch vom grundrechtsliberalen Flügel der FDP gehört. Der radikal-liberale Gerichtsentscheid, der die Wurzeln des philosophischen Liberalismus abrief, desavouierte nicht nur die CDU und die SPD, sondern auch die überangepassten deutschen Grünen (die mit jedem Schritt, den sie in Richtung wirtschaftlichen Liberalismus machen, sich zwei Schritte vom politischen Liberalismus entfernen). Bevor ich die höchst ausgefeilte Argumentation des Bundesverfassungsgerichts vorstelle, zitiere ich deren normativen Grund-Sätze - die, deren Autor Immanuel Kant und dessen Werk Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) im Urteil nie ausdrücklich erwähnt werden: Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst. Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, dass jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloss als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloss einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d.i. Würde. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.

Zuerst hält das Bundesverfassungsgericht die im Paragraph 14 des Luftsicherheitsgesetzes festgeschriebene Abschuss-Ermächtigung als unvereinbar mit dem Recht auf Leben (Artikel 2 des Grundgesetzes) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Artikel 1 des Grundgesetzes), soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeuges betroffen werden. Das Schlüsselargument für dieses Urteil lautet in der offiziellen Zusammenfassung des Gerichtes: Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmassnahme (des fraglichen Paragraphen 14 jl) greift, behandelt sie als blosse Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutz anderer. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräusserlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, dem dem Menschen um seiner selbst willen zukommt. ( ) Unter der Geltung der Menschenwürdegarantie ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten. Im Urteil selber weist das Gericht im Zusammenhang mit der Menschenwürde zusätzlich darauf hin, dass jeder Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden. In anderen Worten: Die Unschuldigen, die geopfert werden, haben die gleichen Rechte und denselben Eigenwert wie die Unschuldigen, die gerettet werden. Zusätzlich verschärft wird diese Argumentation mit dem Hinweis, dass eine solche vorsätzliche Tötung unter Umständen beschlossen würde, die nicht erwarten lassen, dass ( ) die tatsächliche Lage immer voll überblickt und richtig eingeschätzt werden kann. Dazu ein erster Einschub: In einem interessanten Artikel ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung der Frage nachgegangen, wie sich die Situation potentiell entführter Passagiere angesichts eines Abschussgesetzes verändere. Die Bedrohung geht dann nicht mehr nur von den Terroristen aus, sondern vom eigenen Staat in Gestalt eines jeden Flugzeugs, das neben dem entführten Flugzeug auftaucht, was zusätzlich irrationale Handlungen bei den Passagieren und der Besatzung bewirken könnte, während diese andererseits ausschliesslich auf die ihnen möglich bleibenden Abwehrchancen gegen die Terroristen konzentriert bleiben müssten. (FAZ, 6.1.2007)) Nach den eigenen Ausführungen geht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf fünf häufige Einwände ein: Zum ersten hält es fest: So kann ( ) nicht angenommen werden, dass derjenige, der als Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmasslich an dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall ( ) verwickelt wird. Eine solche Annahme ist ohne jeden realistischen Hintergrund und nicht mehr als eine lebensfremde Fiktion. Auch den zweiten Einwand, dass das Leben der Passagiere und Crews ohnehin schon verloren sei, lassen die deutschen Verfassungsrichter nicht gelten: Menschliches Leben und menschliche Würde geniessen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz

des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz. Wer dies leugnet oder in Frage stellt, verwehrt denjenigen, die sich wie die Opfer einer Flugzeugentführung in einer für sie alternativlosen Notsituation befinden, gerade die Achtung, die ihnen um ihrer menschlichen Würde willen gebührt. Dazu kämen Ungewissheiten im Tatsächlichen. Ob die betroffenen Menschen ohnehin schon verloren seien, lasse sich im Regelfall nicht verlässlich bestimmen. Zum dritten Einwand, die Unschuldigen würden selber Teil der Waffe und müssen sich als solcher behandeln lassen, meint das Gericht: Diese Auffassung bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen, sondern als Teil einer Sache gesehen und damit selbst verdinglicht werden. Zum vierten Einwand, der Einzelne sei notfalls verpflichtet, sein Leben zugunsten des Gemeinwesens einzusetzen, wenn dieses in seiner Existenz gefährdet sei, meint das Gericht lakonisch. Denn im Anwendungsbereich geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind. (Diese Aussage der deutschen Richter läuft auf eine Infragestellung der kriegerischen Reaktion auf den Terroranschlag vom 11. September hinaus. Es ist rechtlich wie politisch fragwürdig, auf einen von privaten Tätern ausgeübten Massenmord zu reagieren, wie wenn es sich um Pearl Harbour gehandelt hätte. Al Kaida war und ist im Gegensatz zu den faschistischen Achsenmächten überhaupt nicht in der Lage, das Gemeinwesen USA in seiner Existenz zu bedrohen.) Zum fünften Einwand, die Erfüllung der Schutzpflicht gegenüber den vom Flugzeug Bedrohten, rechtfertige den Abschuss des Passagierflugzeuges, hält das Urteil noch einmal fest. Damit wird den im Luftfahrzeug festgehaltenen Opfern nicht nur der Schutz seitens des Staates verwehrt, sondern der Staat greift vielmehr selbst in das Leben dieser Schutzlosen ein. Damit missachte jedes Vorgehen gemäss des fraglichen Paragraphen die Subjektstellung dieser Menschen in einer mit der Menschenwürdegarantie unvereinbaren Weise und das daraus für den Staat sich ergebende Tötungsverbot. Daran ändert nichts, dass dieses Vorgehen dazu dienen soll, das Leben anderer Menschen zu schützen und zu erhalten. In diesem Fall verzichtet das Urteil auf den Hinweis, dass es in aller Regel äusserst schwierig ist, todsicher festzustellen, dass die Gefährdung der Opfer am Boden eine absolute ist. Die Maschine, die am 11. September 2001 in Pennsylvania abstürzte, befand sich, wie später bekannt wurde, bereits im Fadenkreuz eines Jagdbombers. Abgeschossen wurde sie nicht. Gleichwohl hat sie das ihr nach menschlichem Ermessen zugedachte Terrorziel nicht erreicht, niemanden ausser ihren Insassen getötet. Ganz anders sieht es laut Bundesverfassungsgericht aus, wenn ein Luftfahrzeug unbemannt oder nur von Tätern besetzt ist. Es entspricht im Gegenteil gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen eines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Er wird daher in seinem Recht auf Achtung der auch ihm eigenen menschlichen Würde nicht beeinträchtigt. Diesen Fall der Aufhebung des Tötungsverbots kennen wir unter der Bezeichnung des finalen Rettungsschusses. Dieser ist der Polizei in extremen

Ausnahmesituationen erlaubt. Beispielsweise wenn der Entführer, der das Opfer töten will, erschossen wird. Das deutsche Verteidigungs- wie auch Innenministerium versuchen mit der Unterstützung rechtskonservativer Staatsrechtler den Entscheid des Bundesverfassungsgerichts auszuhebeln. Dabei bedienen sie sich einer Argumentation, die sehr stark dem zugespitzten Antiliberalismus des Nazi-Juristen Carl Schmitt gleicht. So schreibt Otto Deppenheuer in seinem letztes Jahr erschienenen Buch Selbstbehauptung des Rechtsstaates, die terroristische Gefährdung führe dazu, dass Normal- und Ausnahmezustand immer mehr miteinander verschmölzen. Dem müsse die Rechtsordnung durch die Rehabilitierung des Begriffs des Feindes im Innern und durch den Ausbau des Überwachungsstaates Rechnung tragen. Zugleich gelte es, die Opferbereitschaft der rechtstreuen Bürger zu fördern. Dazu gehöre, dass der Staat diese Opferbereitschaft im Notfall selbst vollziehen dürfe. Gegen die Argumentation der Verfassungsrichter in Sachen Abschuss eines Passagierflugzeuges wendet der rechte Staatsrechtler ein. Gegenüber dieser äussersten Inpflichtnahme der Bürger kann deren Menschenwürde nicht ins Feld geführt werden, nicht weil sie über keine verfügten, sondern weil diese nicht verletzt wird. Es sei vielmehr so, dass das Bundesverfassungsgericht den dem Tod geweihten unschuldigen Passagieren die letzten ihnen verbliebene Würde nehme die Würde sich für die Gemeinschaft aufzuopfern. In der Schweiz wird die Frage: Darf der Staat Unschuldige opfern, um Unschuldige zu retten kaum diskutiert, obwohl die Rechtslage eine höchst prekäre ist. Und obwohl Aussagen des schweizerischen Luftwaffenchefs Walter Knutti im Sommer 2008 zu einer Abschuss-Debatte in Österreich geführt haben. Reden wir also zuerst von Österreich, unserem Euro-08-Partner! Eine kritische Bemerkung unseres Luftwaffenchefs über die mangelnde Sicherung des Luftraums durch die österreichische Armee provozierte in unserem östlichen Nachbarland einen Streit über die Frage: Wer entscheidet über den Abschuss eines Flugzeuges? Nach einem peinlichen Hin- und Herschieben der Verantwortung einigte man sich in der Regierung auf folgende Regelung: Bedroht ein fremdes Militärflugzeug den Luftraum, ist der Verteidigungsminister zuständig; handelt es sich um einen terroristischen Angriff, fällt die Angelegenheit in den Amtsbereich des Innenministers. Die konkrete Entscheidung aber, ein Passagierflugzeug abzuschiessen, soll der Pilot selber treffen. Die obrigkeitliche Klarstellung sorgte unter den Piloten für einen Sturm der Entrüstung. Bundeskanzler Gusenbauer versuchte diese zu beruhigen mit dem Hinweis, im Falle eines Strafverfahrens gegen einen Piloten würde dieser den Schutz der Republik geniessen. In der Schweiz selber ist die hochbrisante Frage des Abschiessens eines Passagierflugzeuges in der Verordnung zur Wahrung der Lufthoheit geregelt. Gemäss deren Artikel 9 hat bei nicht eingeschränktem Luftverkehr der Kommandant der Luftwaffen die Kompetenz, den Befehl zum Abschuss eines Flugzeuges zu geben. Bei eingeschränktem Luftverkehr ist gemäss Artikel 14 der Chef des VBS dafür zuständig. In einem ausführlichen Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. Oktober 2007 weckte Bundesrat Samuel Schmid nicht den Eindruck, von der Argumentation des deutschen Verfassungsgerichts beeindruckt zu sein. Dies ist um so bemerkenswerter, als die Schweiz, die mit allen vier Nachbarländern Staatsverträge zur Sicherheit des Luftraums geschlossen hat, im Abkommen mit Deutschland auf das Recht, Warnschüsse abzugeben, verzichten musste.

Die Neue Zürcher Zeitung selber hatte am 11. Januar 2007 die Tatsache, dass in der Schweiz erlaubt ist, was in Deutschland verboten ist, mit zwei Argumenten begründet: Erstens spiele die Menschenwürde im schweizerischen Verfassungsrecht eine viel geringere Rolle als im nördlichen Nachbarland. Und zweitens könne der Flugzeug-Abschuss in der Schweiz auf eine Verordnung abgestützt werden, während ihm in Deutschland aus bekannten Gründen die Rechtsgrundlage fehlt. Die ordentliche Rechtsprofessorin Helen Keller und ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Lucy Keller haben in einer am 21. Januar 2007 in der NZZ veröffentlichten Replik kategorisch festgehalten: Der Abschuss ziviler Flugzeuge ist unzulässig (Titel) Auch bei Terrorattacken muss der Staat die Menschenwürde achten (Untertitel). Sie gestehen zwar ein, dass sich das schweizerische Bundesgericht im Unterschied zum deutschen Bundesverfassungsgericht - selten auf die Menschenwürde abstütze, da meistens ein anderes Grundrecht, beispielsweise das Diskriminierungsverbot, tangiert sei. Aber das ändere nichts daran, dass Artikel 7 der Bundesverfassung klipp und klar festhält: Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen. Und das durch einen staatlich angeordneten Flugzeugabschuss tangierte Recht auf Leben sei in Artikel 10 der Bundesverfassung ebenfalls als verbindliches Grundrecht fest geschrieben. Dazu komme, dass für einen schweren Eingriff in ein Grundrecht gemäss Artikel 36 der Bundesverfassung eine gesetzliche Grundlage nötig sei: Schwere Eingriffe in Grundrechte verlangen eine inhaltlich präzise, bestimmte gesetzliche Grundlage, die auf einen politischen Meinungsbildungsprozess zurückgeht und dem Referendum unterstellt wird. Damit ist die Verordnung über die Wahrung der Lufthoheit für einen so schweren Grundrechtseingriff eine zu schmale Grundlage. Der Flugzeugabschuss kann somit nicht auf diese Verordnung gestützt werden. In anderen Worten: Die Absicht, während der Euro 08 notfalls ein Flugzeug mit tatunbeteiligten und damit unschuldigen Insassen abzuschiessen, ist illegal. Ich werde in der kommenden Sommersession eine parlamentarische Initiative einreichen, welche im Sinne des deutschen Bundesverfassungsgerichts sowie von Artikel 7 und 10 der Bundesverfassung das Abschiessen von Passagierflugzeugen in der Schweiz ebenfalls verbietet. Die Würde des Menschen und das Recht auf Leben sollen auch in unserem Lande unantastbar sein. In dieser Diskussion geht es nicht primär um Sicherheit, sondern um das Bild, das wir uns vom Menschen als Individuum und von den Menschen als Kollektiv machen. Die Bedeutung meiner Erwägungen und meines Vorstosses liegt nicht im höchst unwahrscheinlichen Falle eines Terrorangriffs mit einem gekaperten Flugzeug, sondern im Felde der Werte, mit denen wir einander begegnen und die für uns alle gelten sollen und gelten dürfen. Geschätzte Mitglieder der Gesellschaft für ethische Fragen Ins Thema eingestiegen bin ich mit vier Grund-Sätzen aus Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Mein Referat schliess ich mit einem fünften Kant-Zitat, aber diesmal aus seiner wohl brillantesten politischen Schrift. Im Ewigen Frieden hielt Kant deutsch und deutlich fest: Das Recht des Menschen muss heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so grosse Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragmatisch bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muss ihre Knie vor dem erstern beugen.