Bild Selwyn Hoffmann «So ein Vorfall ist ein Super-GAU» Unfälle sind im Schweizer Zugverkehr selten, Suizide hingegen nicht. Die Auswirkungen auf den Lokführer sind aber in beiden Fällen enorm, wie ein Betroffener erzählt. Vanessa Buff
Seit Donnerstag ist klar, wie es zum Zugunglück von Neuhausen von vergangener Woche kommen konnte: Der Lokführer einer Thurbo- Komposition hatte den Bahnhof zu früh in Richtung Schaffhausen verlassen und dabei ein entsprechendes Haltesignal überfahren. Trotz einer automatischen Schnellbremsung kollidierte der Zug mit einer entgegenkommenden S11; bei dem Crash wurden 26 Menschen verletzt. «So ein Vorfall ist der absolute Super-GAU im Leben eines Lokführers», sagt ein Berufskollege, der «Rund 40 Signalfälle zählen wir pro Jahr, die wenigsten davon enden tatsächlich in einem Unfall» aufgrund seiner Anstellung bei den SBB lieber anonym bleiben möchte. «Glücklicherweise kommt es aber relativ selten dazu: Rund 40 Signalfälle zählen wir pro Jahr, und die wenigsten davon enden tatsächlich in einem Unfall.» Von «Signalfällen» sprechen die SBB immer dann, wenn ein Lokführer ein Halt anzeigendes Hauptsignal missachtet, von denen es auf dem Schweizer Bahnnetz rund 11 000 Stück gibt. Vergleichbar ist das in etwa damit, wie wenn ein Auto bei Rot über eine Kreuzung fährt. Im Unterschied zum Auto wird allerdings beim Zug eine automatische Vollbremsung eingeleitet, sobald er die rote Ampel passiert hat. Zum Unfall kommt es nur dann, wenn der Bremsweg wie im Fall von Neuhausen zu lang oder das entgegenkommende Hindernis bereits zu nahe ist, um eine Kollision noch zu vermeiden. Aus diesem Grund ist jedes Hauptsignal mit einem zusätzlichen Vorsignal gesichert, welches den Lokführer bereits im Vorfeld darauf aufmerksam machen soll, dass die kommende Ampel noch auf Rot steht. «In diesem Fall beginnt es in der Führerkabine zu blinken und zu pfeifen. Wir müssen die Geschwindigkeit reduzieren und dann quittieren, dass wir das Signal wahrgenommen haben», sagt der Lokführer. «99,9 Prozent an Konzentration reichen nicht aus» So weit, so gut zumindest in der Theorie. Problematisch ist an diesem System nun aber zweierlei: Einerseits wird das Abbremsen nach
dem Vorsignal über weite Strecken immer noch nicht überwacht; das Sicherheitssystem ZUB, das die Geschwindigkeit zwischen Vor- und Hauptsignal kontinuierlich misst und im Notfall bereits vor dem Hauptsignal eine Bremsung einleitet, ist in der Schweiz an lediglich 3200 Stellen installiert. Zum anderen hat die Zahl der Signale in den letzten Jahren massiv zugenommen. Auf Überlandstrecken befindet sich etwa alle zwei Kilometer eines, was je nach Geschwindigkeit alle 60 Sekunden eine Quittierung erfordert. In urbanen Gebieten, wie beispielsweise in Zürich und seiner Agglomeration, steht teilweise sogar alle 200 Meter ein Signal, was für den Lokführer zu einem erheblichen Stressfaktor werden kann. Hinzu kommt, dass die Zeit, die ein Lokführer am Stück ohne Pause fahren darf, immer konsequenter ausgeschöpft wird. Das im Arbeitszeitgesetz verankerte Maximum von fünf Stunden wird heute im Zuge der Effizient so weit als möglich ausgenutzt. «Alles in allem kann man also sagen, dass vom Lokführer 100 Prozent an Konzentration gefordert werden 99,9 Prozent reichen da einfach nicht aus.» Dies gilt vor allem auch darum, weil Signalfälle zwar wie gesagt selten zu Unfällen führen, jedoch enorme Auswirkungen haben, wenn es dann doch einmal geschieht. Sowohl für die Passagiere, die bei einem Unfall erhebliche Verletzungen davon tragen können, als auch für den Lokführer, der die Verantwortung dafür übernehmen muss. Die beruflichen Konsequenzen können daher psychologische Untersuchungen, Versetzungen hinter den Schreibtisch oder bei wiederholten Signalfällen gar Suspendierungen und Entziehung der Lizenz beinhalten. Das Risiko verdrängen Hinzu kommen nach einem Unfall die Auswirkungen auf die Psyche des Lokführers. Auch hier sind die Massnahmen von Fall zu Fall unterschiedlich: Betroffene haben ein Anrecht auf drei freie Tage, um sich von dem Schock zu erholen, die nächste Fahrt im Dienst wird ausserdem begleitet, falls der Schreck erst im Nachhinein seine Wirkung zeigt. Zusätzlich wird ein Gespräch mit dem Vorgesetzten anberaumt, in dem weitere Massnahmen beschlossen werden können. Diese Regeln gelten auch, wenn nicht ein Signalfall, sondern ein Personenunfall Grund für das Unglück
war sei es, weil ein Mensch aus Versehen von einem Zug erfasst wurde oder weil er sich bewusst davon überrollen liess. Und diese Zahl ist im Übrigen weitaus höher als diejenige der Signalfälle: Durchschnittlich ein bis zwei solche Ereignisse erlebt ein Lokführer in seiner Laufbahn. «Wir alle haben das im Hinterkopf. Aber wir müssen dieses Risiko verdrängen, weil wir sonst gar nicht mehr fahren könnten», so der Lokführer. Er selber ist bisher einmal in diese Situation geraten. «Ich stand mit meiner S-Bahn im Bahnhof. Ein Mann wollte die Gleise überqueren, wurde aber von einem entgegenkommenden Zug erfasst und gegen meine Scheibe geschleudert. Er starb kurz darauf.» Am Anfang habe er gar nicht richtig realisiert, was geschehen war, der Schreck habe ihn wie ein Flashback erst drei Tage später getroffen. Da habe er sich krankschreiben lassen und das Gespräch mit Kollegen gesucht. «Früher waren solche Vorfälle ein ziemliches Tabuthema. Heute ist man viel sensibilisierter, und es gibt auch klare Regeln, an die sich alle halten müssen. So darf der Lokführer nach so einem Vorfall zum Beispiel nicht mehr weiterfahren, auch wenn er sich in dem Moment noch dazu in der Lage fühlt.» «Lassen wir die Leute richtig lernen!» Trotz dieser Enttabuisierung: Teil der Ausbildung ist die Vorbereitung auf Krisensituationen bisher nicht. Lediglich die Prozessabläufe «Wir alle haben das im Hinterkopf. Aber wir müssen das Risiko verdrängen, weil wir sonst gar nicht mehr fahren könnten» wer nach einem Unfall zu kontaktieren ist oder welche Rechte dem Lokführer zustehen werden angesprochen. Darüber, ob hier ein Umdenken stattfinden müsste, scheiden sich jedoch die Geister. «Ich persönlich bin der Meinung, dass ein solches Training gar nicht viel nützen würde. Schlussendlich kann doch niemand ahnen, wie man sich in einer solchen Situation verhalten wird», sagt der Lokomotivführer. Viel kritischer sei für ihn, dass die Ausbildung in den letzten Jahren stetig verkürzt wurde und da-
mit auch an Qualität verlor. Ein Umdenken komme nur zögerlich. «Ich habe manchmal das Gefühl, dass die SBB davon ausgehen, dass man den Beruf schon nach ein paar Wochen beherrschen kann. Ich finde aber: Lassen wir die Leute doch erst einmal richtig lernen, bevor wir sie in eine Lok setzen!» Es ist dies ein Punkt, den auch der Berufsverband der Schweizer Lokomotivführer und Anwärter (VSLF) schon seit Längerem kritisiert. In einem Communiqué vom vergangenen August heisst es dazu: «Der VSLF wird eine weitere Verkürzung der bisher schon sehr komprimierten Ausbildung im Interesse der Sicherheit der Eisenbahn und der Belastung der jungen Lokführer nicht mittragen. Im Gegenteil fordern wir eine Verlängerung der Ausbildung, um die Komplexität des Eisenbahnbetriebs zu vertiefen und zu beherrschen.» In Anbetracht der immer dichter werdenden Fahrpläne und der damit verbundenen Ansprüche an die Lokführer scheint diese Forderung durchaus nicht aus der Luft gegriffen. Ob der Verband damit jedoch Erfolg haben wird, ist derzeit noch offen.