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EINZ I GARTIGKEIT IM MANAGEMENT Per spec tives imp perspectives MANAGEMENT JOURNAL EUR 40 WIR WACHSEN, ALSO SIND WIR? WACHSTUMSLOGIKEN DER ZUKUNFT 05 1 5

IMP Perspectives 164

LAGGARD INNOVATION Oder: Warum man Nachzügler anders behandeln muss und weshalb das Motto Weniger ist mehr ein ungeahntes Marktpotenzial zur Folge haben kann Prof. Dr. Kurt Matzler, Universität Innsbruck und IMP, Markus Anschober, IMP Prof. Dr. Todd A. Mooradian, College of William and Mary, USA und IMP Prof. Dr. Johann Füller, Universität Innsbruck, Research Fellow an der Harvard-Universität und CEO der Hyve AG, München Nun werfen unsere Autoren wieder einmal mit Fachbegriffen um sich. Kaum hat man sich an die mittlerweile viel zitierte Disruptive Innovation gewöhnt, gilt es, sich mit einer neuen Facette dieses Phänomens auseinanderzusetzen, die wie folgt umschrieben werden könnte: Neben den frühen Marktstürmern, den sogenannten Innovatoren, gibt es am anderen Ende der Verteilerkette auch jene Kundengruppe, die entweder gar nicht oder erst sehr spät zu den Nutznießern von Innovationen zählt die Laggards : die Zögerer, die Zauderer. Kurz, die Nachzügler. Disruptive Innovationen sind wie wir spätestens seit Ausgabe 3 der Perspectives wissen meist am unteren Ende der Märkte und in Nischen zu finden. Die neuen Märkte entstehen für die etablierten Anbieter meist unerwartet und sind für diese aufgrund des zunächst kleinen Kundensegments uninteressant. Doch im Zeitverlauf können sie ein starkes Wachstum aufweisen und vorhandene Märkte komplett oder zumindest teilweise verdrängen. So kommt zurzeit die Kundengruppe derjenigen in den Blick, die entweder gar nicht oder erst sehr spät Innovationen nutzen wollen oder können: die Laggards. 05 165 Brauchen Nachzügler eine andere Behandlung, indem man ihnen eine besondere Art von Innovationen zukommen lässt? Und wenn ja: Muss BESONDERS immer High-End sein? Oder könnte Laggard Innovation genau das Richtige sein, um diese Zielgruppe wachsen zu lassen? Lesen Sie selbst

Über eine steigende Anzahl von Innovationen, die keine mehr sind Internationale Studien zeigen, dass sich das Innovationsverhalten von Unternehmen vor allem in den letzten 20 Jahren stark verändert hat. Während in den 1990er-Jahren etwa 60 Prozent aller Produktinnovationen Weltneuheiten oder neue Produktlinien für Unternehmen darstellten, sind es aktuell nur noch 40 Prozent. Dafür hat sich die Anzahl von Innovationen, die lediglich Weiterentwicklungen von Produkten oder Produktlinien darstellen, um 50 Prozent erhöht (Cooper, 2011). Innovation verkommt immer mehr zur inkrementellen Weiterentwicklung des Bestehenden in gesättigten Märkten. Zur Schöpfung von wirklich Neuem kommt es kaum mehr. Wenn Sie Innovations- oder Marktführer sind, haben Sie aber in der Regel nur eine Option, um Ihre führende Position zu verteidigen: Sie müssen Produkte schneller und besser weiterentwickeln als Ihre Konkurrenten. Kundenbedürfnisse zu kennen und daraus resultierend überzeugende Produkte zu entwickeln, ist eine Schlüsselkompetenz, die Sie unbedingt benötigen. Dafür gibt es viele Methoden. Über eine glockenförmige Verteilung, die einer Epidemie gleicht Everett Rogers (2003) zeigte in seiner Diffusionstheorie, dass sich Innovationen nach einem ähnlichen Muster am Markt verbreiten wie Epidemien. Die Verbreitung gleicht sehr häufig einer Glockenkurve: Es gibt nur wenige sogenannte Innovatoren (Kunden, die eine Innovation sofort kaufen, sobald sie auf dem Markt ist). Diese werden gefolgt von den Frühadoptierern (Kunden, die sich Innovationen kurze Zeit später aneignen). Erst danach ist die breite Masse ( frühe bzw. späte Mehrheit ) bereit für das Neue. Und das Schlusslicht bilden die Nachzügler also jene Käufer, die Innovationen als Letzte kaufen (siehe Abbildung 1). Der MIT-Professor Eric von Hippel (2005) machte vor vielen Jahren eine interessante Beobachtung: Es gibt in den meisten Märkten eine Handvoll User, die in ihren Bedürfnissen dem Massenmarkt oft um Monate oder Jahre voraus sind. Darunter befinden sich auch viele, die kreative Ideen haben und innovativ sind. Sie profitieren selbst am meisten von Innovationen, die sie oft nur für sich selbst entwickeln. So sind das Mountainbike, das Snowboard, viele Abbildung 1: Innovationsdiffusion Adoptierer 2,5 % Innovatoren 13,5 % Frühadoptierer 34 % Frühe Mehrheit 34 % Späte Mehrheit Zeit bis zur Adoption von Innovationen 16 % Nachzügler IMP Perspectives 166

LAGGARD INNOVATION 05 167 wissenschaftliche Geräte u. v. a. m. von sogenannten Lead Usern erfunden worden. Solche innovativen User zu identifizieren und sie in den Produktentwicklungsprozess zu integrieren, macht Sinn. Seit Jahren verfolgen viele Unternehmen diese Strategie. Doch haben Sie schon einmal daran gedacht, die Lead User zu ignorieren und sich stattdessen auf die Nachzügler am Markt zu konzentrieren? Wahrscheinlich nicht! Warum auch? Wenn man innovativ sein will, macht es durchaus Sinn, sich auf innovative Menschen zu konzentrieren. Und Lead User sind die innovativsten, anspruchsvollsten und kreativsten User überhaupt. Gemeinsam mit ihnen gelingt es auch, die besten und innovativsten Produkte zu entwickeln. Während diese Produkte die Innovatoren und Frühadoptierer unter den Kunden ansprechen und später hoffentlich auch den Massenmarkt sind die Nachzügler jedoch nicht an diesen Produkten interessiert zumindest für eine lange Zeit nicht. Warum? Ein Grund dafür liegt im Over-Engineering. In unserem Buch The Innovator s Dilemma (Christensen, Matzler, Friedrich von den Eichen, 2011) beschreiben wir, wo die Herausforderungen für etablierte Unternehmen liegen: Wenn Sie als führendes Unternehmen Ihre Position am Markt verteidigen wollen, müssen Sie Ihre Produkte schneller und besser weiterentwickeln als Ihre Konkurrenten. Das sichert nicht nur Ihre Marktführerschaft, sondern erlaubt es zudem, Premiumpreise zu verlangen und Gewinne zu steigern. Diese Strategie funktioniert so lange, wie die Kunden auch tatsächlich immer bessere Produkte wollen, für die sie bereit sind, höhere Preise zu bezahlen. In vielen Fällen entwickeln sich Technologien aber schneller als Marktbedürfnisse und etablierte Unternehmen neigen dazu, Produkte zu over-engineeren : Sie entwickeln komplexe, teure und kompliziert zu verwendende Lösungen mit Eigenschaften, die viele Kunden gar nicht brauchen. Dadurch kommen diese Unternehmen in eine paradoxe Situation: Durch die permanente Weiterentwicklung und Verkomplizierung der Produkte schaffen sie ein Marktvakuum für einfache, günstige und benutzungsfreundliche Lösungen sie schaffen Raum für Konkurrenz. Über ein Over-Engineering, das Raum für Konkurrenz schafft Betrachten Sie den Markt für CRM-Software (siehe hierzu Anthony, Johnson, Sinfield, Altmann, 2008). Lange Zeit wurde der Markt von SAP, Oracle und Siebel (später von Oracle übernommen) dominiert. Diese Unternehmen entwickelten perfekte, komplexe, mächtige und vor allem: teure Software. Diese Software musste angepasst und in bereits bestehende Lösungen integriert werden. Die Implementierung war aufwendig und ebenfalls sehr kostspielig. Die Kunden bezahlten laufende Gebühren für die Wartung der installierten Software. 1999 erkannte der ehemalige Oracle-Manager Marc Benioff, dass die großen CRM-Lösungen für einen Teil des Marktes hoffnungslos over-engineert waren. Während große Unternehmen schon lange auf die CRM- Welle aufgesprungen waren und fleißig CRM- Lösungen implementierten, gab es eine nicht unbeträchtliche Zahl von Unternehmen, die sich strikt weigerte, CRM-Software zu installieren. Kleinunternehmen gehörten zu den absoluten Laggards. Für sie waren die existierenden Lösungen schlicht uninteressant: zu teuer, zu kompliziert, zu unflexibel. Salesforce.com konzentrierte sich auf diesen Markt der Nachzügler und entwickelte ein neues Geschäftsmodell: Software as a Service. Einfache, günstige und flexible Lösungen, die über die Cloud zur Verfügung gestellt werden. Keine Installation, keine Wartung. Auch die Kosten für Hard- und Software, IT-Management und Wartung bleiben dem Anwender erspart. Flexibilität und Effizienz werden gesteigert. Für Kleinunternehmen sind das entscheidende Vorteile. Salesforce. com adressierte einen Laggard-Markt, der für die großen Anbieter vollkommen uninteressant war. Heute gehört das Unternehmen mit etwa 2,5 Mrd. USD und 100.000 Kunden zu den am schnellsten wachsenden Unternehmen der Welt. Oder sehen Sie sich Mobiltelefone an konkret: Smartphones. Das sind mittlerweile Kameras, Spielekonsolen, Minicomputer, GPS- Navigatoren und Internetgeräte mit Zugang zu Hunderttausenden von Apps. Auch telefonieren kann man damit. Meisterwerke der Technologie

LAGGARD INNOVATION aber nicht für alle Kunden. Smartphones sind für ein kleines, aber wachsendes Marktsegment hoffnungslos over-engineert. Für diese Kunden sind Smartphones der Horror: überladen, mit zu komplexer Menüführung, zu kompliziert zu verwenden. Viele Großeltern würden liebend gerne mit ihren Enkeln telefonieren und SMS austauschen, wenn diese Geräte nicht so kompliziert zu bedienen wären. Smartphones haben Touchscreens, kleine Schriftzeichen und -felder und unzählige Funktionen, die Senioren nicht brauchen. Genau das lernte Emporia, ein oberösterreichisches Unternehmen, vor ein paar Jahren. Senioren gehören zu den Nachzüglern im Smartphone-Markt. Statt komplizierter Smartphones wollen sie einfach zu bedienende Handys. Mehr noch: Diese Nachzügler haben auch ganz andere Bedürfnisse als der Massenmarkt. Emporia entwickelte Handys für diese Zielgruppe mit einfacher Menüführung, großen Tasten, Displays mit verstärkten Kontrasten, Hörgerätetauglichkeit der Lautsprecher, einer Notruftaste u. v. a. m. Das Unternehmen wurde schnell Marktführer in diesem Segment und exportiert mittlerweile in über 30 Länder. Wie reagierten etablierte Handyhersteller und Mobilfunkanbieter? Zunächst wurde Emporia belächelt. Der Markt sei zu klein und zu unattraktiv. Als Handyhersteller solle man sich doch auf den großen Massenmarkt konzentrieren und die nächsten Generationen von Smartphones entwickeln, damit einen nicht das gleiche Schicksal wie Nokia oder Blackberry ereile. Doch genau hier liegt die Chance kleiner Unternehmen! Über fünf Schritte, die für kleine Unternehmen interessant sein könnten Was können wir nun daraus lernen? Fünf einfache Schritte, die Sie befolgen sollten, wenn Sie neue Märkte durch disruptive Innovationen schaffen wollen: 1. identifiziere das Marktvakuum, das etablierte Unternehmen durch Over-Engineering schaffen. Als Albert Fellner, Gründer von Emporia, seiner Mutter vor vielen Jahren ein Handy schenkte, verbrachte er jedes Wochenende damit, ihr aufs Neue zu erklären, wie es funktioniert bis er erkannte, dass das Problem nicht seine Mutter, sondern das over-engineerte Handy war. 2. Finde die Nicht-Käufer im Markt, für die die Produkte over-engineert sind: zu komplex, zu viele Funktionen, zu kompliziert zu verwenden und deshalb oft auch zu teuer. Erkenne, welche speziellen Bedürfnisse die Nicht-Käufer bzw. Nachzügler haben. Emporia stellte fest, dass diese Zielgruppe andere Anforderungen hat, die zu erfüllen waren (große Tasten, große Ziffern auf dem Display, Kompatibilität mit Hörgeräten, Notruftasten etc.). 3. trete rasch in diesen Markt ein. Für die etablierten, marktführenden Unternehmen sind diese Nischen uninteressant sie konzentrieren sich viel lieber auf den Massenmarkt. Hier liegen die Chancen der kleinen Hersteller etablierte Hersteller interessieren sich nicht für diese kleine Marktnische. 4. entwickle deine Produkte kontinuierlich weiter. Emporia erkannte, dass Senioren zunehmend auch andere Funktionen eines Handys schätzen, z. B. Kameras. Aber neue Features werden immer unter einem Leitgedanken entwickelt: einfache, barrierefreie Kommunikation. 5. erkenne rechtzeitig, wann deine Innovation für einen größeren Markt attraktiv wird. Emporia stellte bald fest, dass einfache und barrierefreie Kommunikation für ein weiteres Kundensegment an Bedeutung gewinnt: nämlich aktive, sportliche Menschen, die ihre Freizeit draußen verbringen und daher stoßsichere, spritzwasserfeste und schmutzresistente Handys haben wollen. Und genau für diese Zielgruppe entwickelte Emporia passende Lösungen. IMP Perspectives 168

05 169

Über neue, globale Märkte, die durch Vereinfachungen entstehen Neue Märkte durch Vereinfachung zu finden bzw. zu schaffen, ist eine Strategie, die unumgänglich ist, wenn man in den zukünftigen Wachstumsmärkten Fuß fassen will. Das globale Wachstum hat sich in den letzten Jahren stark in die Entwicklungs- und Schwellenländer übertragen. Mit ihren jährlichen Zuwachsraten von fünf bis zehn Prozent liegen beispielsweise die BRIC-Staaten weit über dem EU-Schnitt. Da aber das Pro-Kopf-Einkommen in diesen Ländern wesentlich niedriger und auch die Infrastruktur wesentlich schlechter ausgebaut ist, können sich viele Kunden Hightech-Lösungen wie zum Beispiel jene der Medizintechnik schlicht und ergreifend nicht leisten. Üblicherweise zielen multinationale Unternehmen mit ihren Produkten auf die Top-10- Prozent-Pyramide der Gesellschaft, aber das große Potenzial stellen die restlichen 90 Prozent dar (Govindarajan, 2009). Diese Kunden geben sich vielfach mit 50-Prozent-Lösungen zufrieden, die nur 15 Prozent des Höchstpreises kosten (Immelt, Govindarajan, & Trimble, 2009). General Electric vertreibt zum Beispiel Hightech-EKG-Geräte zum Gesamtpreis von 50.000 USD. Nur 10 Prozent der indischen Krankenhäuser können sich so etwas leisten 90 Prozent nicht. Diese 90 Prozent sind ein riesiges Wachstumspotenzial wenn es gelingt, entsprechend einfache und günstige Lösungen zu entwickeln. Und diese 90 Prozent sind in ländlichen Gebieten zu finden. Dort schaffen es nur wenige Patienten ins Krankenhaus und so muss der Arzt zum Patienten. Zudem sind die Ärzte weniger gut ausgebildet, um mit Hightech-Lösungen arbeiten zu können. Hier entstehen also neue Anforderungen an das Produkt: mobile, einfache und billige Geräte. Darauf fokussierte sich GE. Das Unternehmen entwickelte ein kleines, mobiles und leicht tragbares EKG-Gerät für die ländlichen Gebiete in Indien, das mit einem Preis von 2.500 USD nur einen Bruchteil kostet (Jana, 2009). Unter dem Begriff Reverse Innovation entwickeln multinationale Unternehmen also zunehmend einfache und günstige Lösungen für die Märkte der Entwicklungs- und Schwellenländer, die daneben aber auch für spezielle Anwendungen in den Industrienationen vertrieben werden. Das mobile EKG-Gerät von GE fand Absatz in Krankenwagen in den USA. Und Siemens entwickelte mit dem Somatom Spirit das erste Billig-CT-Gerät der Welt. Statt eine Million Euro wie sonst, kostet es nur 150.000 Euro (Blume, Heuser, 2011). Diese Produkte sind disruptive Innovationen. Sie sind einfacher, billiger und werden in anderen Märkten vertrieben. Ihre Margen sind weit niedriger als jene der Produkte im High- End-Markt. Die Entwicklung solcher disruptiver Innovationen für die Entwicklungs- und Schwellenländer ist eine zentrale Herausforderung für multinationale Unternehmen und die einzige Chance, gegen Unternehmen wie Tata, Mahindra&Mahindra, Lenovo oder Cemex anzukommen, die unter ganz anderen Voraussetzungen in ganz anderen Märkten und mit ganz anderen Organisationsstrukturen günstige Produkte für ihre Märkte entwickeln. Die Prinzipien, die wir bei Emporia und Salesforce. com gesehen haben, kommen auch hier zur Geltung: neue Märkte durch Vereinfachung schaffen! Über vier Parameter, die bei Nachzüglern ausschlaggebend sind Wenn Sie in Ihrem Markt nach den Laggards suchen also nach den Nicht-Käufern bzw. Nachzüglern, können Sie das Marktvakuum aufspüren, das durch Over-Engineering geschaffen wurde. Es kann natürlich viele Gründe geben, warum Kunden zu den Nicht-Käufern gehören. Hier sind einige davon (Anthony et al., 2008): 1. Fähigkeiten: Die Produkte oder Lösungen sind zu kompliziert und überfordern Kunden hinsichtlich jener Fähigkeiten, die sie für die Anwendung oder den Konsum brauchen. Das war beispielsweise bei den Mainframes der Fall, die nur von hochqualifizierten Fachleuten bedient werden konnten. Und das war IMP Perspectives 170

LAGGARD INNOVATION auch bei Emporia der Fall. Die Zielgruppe der Senioren war mit den Smartphones schlichtweg überfordert. 2. Preis: Hightech-Lösungen sind für viele Anwendungen und für viele Kunden zu teuer. Das ist beispielsweise in der Medizintechnik in den Entwicklungsländern der Fall. Durch radikales Abspecken unnötigen Schnickschnacks werden die Produkte auf den Kern reduziert und dadurch erst erschwinglich. 3. Zugang: Wenn die Anwendung an einen bestimmten Ort oder an bestimmte infrastrukturelle Voraussetzungen gebunden ist, dann werden damit häufig bestimmte Kunden kategorisch ausgeschlossen. Das war bei den EKG-Geräten in Indien der Fall: Der Patient in ländlichen Gebieten schafft es nicht in das Krankenhaus, das Gerät musste daher zum Patienten. 4. Zeit: Die Anwendung oder der Konsum des Produktes ist zu zeitaufwendig. Die Implementierung und Anwendung komplexer CRM-Lösungen waren für Kleinunternehmen zu kompliziert und dauerten zu lange. Erst einfache Cloud-Computing-Lösungen von Salesforce.com öffneten diesen Markt. Wenn in Ihrem Markt Kunden nicht mehr bereit sind, höhere Preise für höhere Qualität zu bezahlen, wenn Marktpreise trotz verbesserter Produkte fallen, wenn mehr und mehr Kunden sich darüber beklagen, dass sie viele Produktfunktionalitäten gar nicht benötigen, wenn es in Ihrem Markt notorische Nicht-Verwender gibt, für die die Produkte zu kompliziert, zu teuer und mit Funktionen überladen sind, dann sind das starke Signale für Over-Engineering. Dann lohnt es sich darüber nachzudenken, ob es Wachstumschancen durch Laggard Innovation gibt. LITERATUR Anthony, S. D.; Johnson, M. W.; Sinfield, J. V.; Altmann, E. J.: The innovator s guide to growth. Boston, Massachusetts: Harvard Business Press, 2008. Blume, G.; Heuser, U. J.: Eine Milliarde Kunden. Die Zeit, 07.02.2011. Christensen, C. M.; Matzler, K.; Friedrich von den Eichen, S. A.: Innovator s Dilemma. Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren. München: Vahlen Verlag, 2011. Govindarajan, V.: The case for reverse innovation now. Business Week (October 26), 2009. Immelt, J.; Govindarajan, V.; Trimble, C.: How GE disrupts itself. Harvard Business Review (October), 2009. Jana, R.: Innovation trickles in a new direction. Businessweek (March 11), 2009. Rogers, E. M.: Diffusion of Innovations (5th ed.). New York, NY: Free Press, 2003. 05 171 Cooper, R. G.: Perspective: The Innovation Dilemma: How to Innovate When the Market Is Mature. Journal of Product Innovation Management, 28 (s1): 2 27, 2011. von Hippel, E.: Democratizing Innovation. Cambridge, MA: MIT Press, 2005.