Wichtiger Sieg für Alain Berset Von Hubert Mooser. Aktualisiert am 12.12.2012 78 Kommentare Kaum geht es der Invalidenversicherung ein bisschen besser, brechen die alten Fronten wieder auf: Bei der 6. IV-Revision sprechen die einen von Sanierung, die anderen von Sozialabbau. Der Nationalrat verzichtet jetzt auf Kürzungen bei der Kinderrente. Wie weiter mit der IV? Der blinde Informatiker Juerg Cathomas auf dem Weg zum Bahnhof Bern (9. Mai 2007). Bild: Keyston Nationalrat kürzt Kinderrenten vorläufig nicht Der Nationalrat will die Renten für Kinder von IV-Bezügerinnen und -Bezügern vorläufig nicht kürzen. Er hat heute Mittwoch beschlossen, diese umstrittene Massnahme aus dem zweiten Teil der 6. IV-Revision auszuklammern. Der Nationalrat stimmte mit 97 zu 90 Stimmen bei einer Enthaltung einem entsprechenden Antrag von Maja Ingold (EVP/ZH) zu. Der Rat könnte aber später darauf zurückkommen. Auch Sozialminister Alain Berset plädierte für dieses Vorgehen. Er sprach von einem «Mittelweg». Damit sei die Chance am
grössten, dass die übrigen Massnahmen umgesetzt werden könnten. Die Kürzung der Kinderrenten könnte nämlich die gesamte Revision gefährden, und die Revision sei wichtig. Im Nationalrat kam die Mehrheit zum selben Schluss. Viele zogen ausserdem in Zweifel, dass die Kürzung der Kinderrenten wirklich nötig sei. Darüber sollten die Räte erst beraten, wenn aussagekräftige Erkenntnisse zu den bisherigen Revisionen vorlägen, befand Ingold. Sie verwies auf die Auswirkungen für Behinderte. Der Ständerat hatte sich für die Kürzung der Kinderrenten ausgesprochen. Klammert auch er die Massnahme aus der Revision aus, verschiebt sich die Sanierung der IV-Revision laut Sozialminister Alain Berset um rund zwei Jahre. (sda) Die Situation der IV Dank der Zusatzfinanzierung und den greifenden Sparmassnahmen schreibt die IV in den nächsten Jahren positive Rechnungsüberschüsse zwischen 430 (2012) und 1200 Millionen Franken (2017). Damit kann die Schuld beim AHV-Fonds bis 2018 von 14,9 auf 9,9 Milliarden Franken reduziert werden. Auch nach Ablaufen des bis Ende 2017 befristeten Mehrwertsteuerzuschlags weist die IV-Rechnung immer noch jährliche Überschüsse aus, die erneut von 300 (2018) bis auf 1000 Millionen Franken (2030) ansteigen. Stufenloses Rentensystem Die 6. IV-Revision (b) soll auch ein stufenloses Rentensystem bringen. Dieser Teil ist weitgehend unbestritten. Der Invaliditätsgrad soll neu auf der wirklichen krankheitsbedingten Arbeits- und Gewinnunfähigkeit basieren, und nicht auf den finanziellen Folgen. Stellt ein Arzt einen Invaliditätsgrad von 65 Prozent fest, wird er durch das heutige System dazu ermuntert, die wirtschaftliche Lage seines Patienten zu optimieren. Er kann den Invaliditätsgrad auf 70 Prozent erhöhen, damit der Patient eine volle statt eine halbe IV- Rente erhält. Die volle Rente ist im neuen System ab einem Invaliditätsgrad von 80 Prozent vorgesehen.
CVP-Nationalrat Christian Lohr schlägt in einem Minderheitsantrag vor, dass eine volle Rente wie bisher ab 70 Prozent Invalidität gewährt wird. Braucht es den zweiten Teil der 6. IV-Revision überhaupt noch? Gesundheitsminister Alain Berset konnte den Gesamtbundesrat mit neuen Zahlen davon überzeugen, dass die Sparmassnahmen eigentlich nicht nötig sind, wie sein Informationsdienst gegenüber Tagesanzeiger.ch/Newsnet bestätigt. Berset hatte dies im November in Interviews mit der «SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche» gesagt. Einen kommunizierten Entscheid des Bundesrates gibt es dazu aber nicht. Berset konnte jetzt aber auch eine Mehrheit im Nationalrat davon überzeugen. Die Renten für Kinder von IV-Bezügern sollen vorläufig nicht gekürzt werden (siehe Box), beschloss der Nationalrat heute. Die Prognosen für die Invalidenversicherung sind besser als auch schon. Das zeigt die Auswertung der 5. IV-Revision, die seit dem 1. Januar 2008 in Kraft ist. Ihr Ziel: Menschen mit gesundheitlichen Problemen frühzeitig erfassen und begleiten, damit sie erwerbstätig bleiben können. Für 2011 meldete die IV 11'500 erfolgreiche Eingliederungen fast doppelt so viele wie im Jahr 2007. Die Evaluation zeigt auch, dass die Zahl neuer IV-Renten seit 2003 um 50 Prozent zurückgegangen ist und dass die Anzahl laufender Renten stetig abnimmt. Dank der Zusatzfinanzierung über die Mehrwertsteuer schreibt die IV heute schwarze Zahlen. Geht es um die Sanierung der IV oder Sozialabbau? «Vor diesem Hintergrund müssen sich alle die Frage stellen: Geht es bei der 6. IV-Revision um die Sanierung der IV oder um puren Sozialabbau?», sagte SP-Sozialpolitikerin Jacqueline Fehr vor der Debatte. Wenn es um die Sanierung gehe, müsse der Nationalrat Ja sagen zur Aufteilung der Vorlage und auf Abbaumassnahmen verzichten. Gehe es dagegen um Sozialabbau, dann solle der Nationalrat diese Kürzungen durchdrücken «im Wissen darum, dass sie für die Sanierung nicht mehr nötig sind», so Fehr. Die SP werde jedoch alle Vorschläge bekämpfen, die zu dauerhaften Verschlechterungen für Behinderte und ihre Angehörigen führten. Ignazio Cassis, Wortführer der FDP bei der 6. IV-Revision, sieht das anders: Die finanziell solide IV sei ein Märchen. 2012 werde die Rechnung zwar einen Überschuss von 500 Millionen Franken ausweisen. Das sei aber keine Überraschung, sondern das Resultat der 5. und der Revision 6a, welche die Linken auch bekämpft hätten. «Sie waren nur für mehr Einnahmen, für die provisorische Zusatzfinanzierung durch die Mehrwertsteuer bis 2017»,
sagt Cassis. Die IV habe 15 Milliarden Schulden bei der AHV, «und die kann man nicht von einem Jahr zum anderen zurückzahlen». Darum brauche es die Revision 6b. Umstrittene Teile aus der Vorlage herausbrechen Heute Morgen ging es im Nationalrat zuerst einmal darum, ob man die umstrittenen Sparmassnahmen herausbricht. Dazu gehören Kürzungen bei der Kinderrente das sind Zulagen an IV-Bezüger mit Kindern, nicht etwa die Renten behinderter Kinder. Dazu gehören aber auch die Entschädigung von Reisekosten und der Zugang psychisch kranker Menschen zu einer Rente. «Für die einzelnen Betroffenen fallen diese Kürzungen massiv ins Gewicht», sagte EVP-Nationalrätin Maja Ingold. Sie könnten in der Summe zu Rentenkürzungen von über 30 Prozent führen. Ingold stellte darum in der sozialpolitischen Kommission (SGK) den Antrag, die Sparmassnahmen aus dem Paket zu nehmen, scheiterte aber mit 12:13 Stimmen knapp. Zu den Chancen, dass ihr Antrag im Nationalrat im Nationalrat durchkommt sagte sie: «Es wird eine haarscharfe Sache.» FDP und SVP wollten bisher kein Aufsplitten der aktuellen Revision. Zur Erinnerung: Die SVP verlangte bei der Beratung zur 5. IV-Revision gar die Halbierung der Kinderrente auf 20 Prozent der Elternrente. Bei der 6. IV-Revision ist eine Reduktion von 40 auf 30 Prozent geplant. Allerdings liess die FDP auch durchblicken, dass man auf eine Kürzung bei der Kinderrente verzichte könne, «falls gegen die restliche Vorlage kein Referendum ergriffen und eine wirksame Schuldenbremse eingebaut wird», wie Cassis ausführte. Er gehe davon aus, dass 60 Prozent des Nationalrates eine Kürzung bei den Kinderrenten nicht wolle. «Eine Reduktion ist zwar richtig für die Sanierung der IV, aber sehr unpopulär.» Der Druck der Behindertenorganisationen sei zudem heftig gewesen, mit Hunderten von personalisierten Briefen und E-Mails. «Im Vergleich dazu sind die Bauern- oder die Pharmalobby Anfänger», so Cassis. Falls die Reduktion durchkomme, gebe es ein Referendum und dann werde wahrscheinlich das Volk den Entscheid kippen. Bei der CVP/EVP-Fraktion ist das Aufsplitten der Vorlage umstritten Umstritten war die Frage der Aufteilung der Vorlage in Maja Ingolds eigener Fraktionsgemeinschaft CVP/EVP. CVP-Nationalrätin Ruth Humbel erklärte gegenüber dem «Blick», eine Kinderrente brauche es nicht mehr und verwies auf die seit vier Jahren geltenden gesamtschweizerischen Familienzulagen. Damals habe man versprochen, das Ganze mit der IV zu koordinieren. Dies sei aber nicht geschehen. Und deshalb gebe es jetzt Familien, die sogar noch mehr Geld zur Verfügung haben, als wenn sie erwerbstätig wären.
Dem widerspricht Humbels Fraktionskollegin Ingold: Familienzulagen habe es schon vorher gegeben, und da habe die IV-Kinderrente niemanden gestört. Es sei falsch, die Familienzulagen gegen die Kinderrenten auszuspielen und dies auf dem Buckel behinderter Menschen. Ingold findet, man könne die IV-Revision nicht nur über die Finanzpolitik betreiben, so wie dies Ruth Humbel tue. Man müsse auch familienpolitische Aspekte berücksichtigen und respektieren, dass IV-Renten die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gewährleisten müssen. Sie erhielt Unterstützung durch Sozialminister Alain Berset. Dass der Nationalrat jetzt auf eine Kürzung der Kinderrente verzichtet, ist für Berset ein wichtiger Teilerfolg. Angst vor einem Referendum Berset ist wie Cassis überzeugt, dass bei einer Reduktion der Kinderrente das Risiko gross gewesen wäre, dass an der Urne der gesamte zweite Teil der 6. IV-Revision bachab geht - also auch das nicht sehr umstrittene stufenlose Rentenystem. Oder wie ein Vertreter der Behindertenverbände meinte: Er könne sich nicht vorstellen, dass das Schweizervolk dauerhafte Rentenkürzungen bei der IV zulasten von Schwerbehinderten und Familien mit Kindern akzeptieren würde, damit die Schulden um zwei Jahre schneller abgebaut werden könnten. (Tagesanzeiger.ch/Newsnet) Erstellt: 12.12.2012, 12:25 Uhr