Präoperative Haarentfernung warum, wie und wann? Gabriele Meyer, Gabriele Schlömer Zusammenfassung Das Rasieren im Operationsgebiet stellt eine althergebrachte präoperative Maßnahme dar. Mehrere klinische Studien hingegen haben das Rasieren in Misskredit gebracht. Einiges spricht für die Annahme, dass rasierte Haut eher postoperative Infektionen begünstigt. Andere Methoden der Haarentfernung scheinen sicherer zu sein. Im der vorliegenden Arbeit wird der derzeitig best verfügbare wissenschaftliche Beweis aus einem aktuellen systematischen Übersichtsartikel referiert. Die Publikation wird anhand etablierter Qualitätskriterien kritisch beurteilt und die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse eingeschätzt. Einleitung Die präoperative Haarentfernung wird praktiziert, um eine übersichtliche Inzisionsstelle zu garantieren sowie die periund postoperative Versorgung der Wunde wie die Applikation von Wundverbandsmaterial zu erleichtern. Die Haarentfernung gilt ebenso als hygienisch und als indiziert, um das Wundinfektionsrisiko zu minimieren 1. Drei Methoden der Haarentfernung finden derzeitig Anwendung: das Rasieren, die Benutzung von Haarschneidegeräten sowie die chemische Haarentfernung. Klinische Studien haben mehrfach nahegelegt, dass das präoperative Rasieren gerade Wundinfektionen begünstige und aus diesem Grund nicht durchgeführt werden solle 2,3. Die Vermeidung postoperativer Wundinfektionen hat hohe Priorität in der Versorgung chirurgischer Patienten. Wundinfektionen können eine verzögerte Wundheilung zur Folge haben, die Dauer des Krankenhausaufenthaltes verlängern und unnötigen Schmerz induzieren 4,5. Im vorliegenden Beitrag gilt es, einen kürzlich publizierten systematischen Übersichtsartikel zu referieren 6 und kritisch zu beurteilen. Dem Review liegt die Fragestellung zugrunde, ob das präoperative Rasieren des Operationsgebietes anderen Methoden der Haarentfernung hinsichtlich zu erwartender Wundinfektionen unterlegen ist und ob es einen wissenschaftlichen Beweis dafür gibt, auf das Rasieren grundsätzlich zu verzichten. Es gilt, die Validität der Ergebnisse des Reviews und somit seine Aussagekraft für die Versorgung von chirurgischen Patienten zu diskutieren. 1
Methoden In der medizinischen Datenbank PubMed (http://www.pubmed.gov) wurde anhand der Schlagwörter "Hair Removal"[MeSH] AND "Surgical Wound Infection"[MeSH] nach systematischen Übersichtsartikeln und klinischen Studien gesucht. Ein 2002 publizierter Review wurde über einen Dokumentenlieferservice (http://www.subitodoc.de) bestellt. Eine nicht im Review berücksichtigte Studie war über die Homepage des anbietenden medizinischen Journals als pdf-file zugänglich. Der Review wurde anhand etablierter Qualitätskriterien für die kritische Beurteilung der Güte von systematischen Übersichtsarbeiten bewertet 7 : 1. Angabe der Kriterien, nach denen die Studien ein- oder ausgeschlossen wurden, 2. Beschreibung der Literatursuche und - auswahl, 3. Angaben zur Beurteilung der methodischen Güte der eingeschlossenen Studien, 4. Beschreibung des Vorgehens zur Datenextraktion aus den Primärstudien, 5. Angaben zur Prüfung der Vergleichbarkeit der Ergebnisse aus den Primärstudien. Ergebnisse Methodische Güte des Reviews Die Fragestellung des Reviews 6 und die Auswahlkriterien für die Publikationen sind angemessen benannt. Dem systematischen Übersichtartikel liegt eine umfassende Literaturrecherche in internationalen medizinischen Datenbanken zugrunde. Unklar bleibt, ob die eingeschlossenen Publikationen auf englischsprachige begrenzt sind. Der Prozess der Auswahl der Publikationen und der Relevanzbestimmung der identifizierten Studien sind beschrieben. Der Prozess der Datenextraktion aus den Studien hingegen ist nicht benannt. Es bleibt unklar, ob die Studien ausreichend homogen sind, um sie vergleichend in einem Review darstellen zu dürfen. 2
Tabelle 1: Beurteilung der methodischen Güte des Reviews 6 Qualitätskriterium Detaillierte Ein- und Ausschlusskriterien der Studien Literatursuche und -auswahl Qualitätsbeurteilung der eingeschlossenen Studien Prozess der Datenextraktion aus den Primärstudien Prüfung der Vergleichbarkeit der Studienergebnisse Darstellung im Review Berücksichtigt wurden alle Studien, die den Zusammenhang von präoperativer Haarentfernung und Wundinfektionen bei konventionellen chirurgischen Eingriffen untersuchen. Endoskopische und transurethale Eingriffe, Katheterisierung, radiologische Interventionen sowie chirurgische Behandlung von Sinus pilonidalis wurden ausgeschlossen. Suche bis Dezember 1999 in folgenden Datenbanken: Cochrane Controlled Trial Register, Medline, Embase CINAHL, Database of Abstracts of Reviews of Efectiveness, National Health Service Economic Evaluation Database, Health Technology Assessment Database; Durchsicht der Referenzlisten von relevanten Artikeln aus den 1990ern. Benutzte Suchbegriffe: surgical site infection/s or surgical wound infection/s and depilation, or hair, or shaving; Berücksichtigung von randomisierten Studien und Beobachtungsstudien. Zwei Mitarbeiter lasen und evaluierten unabhängig voneinander die Titel und Kurzzusammenfassungen der identifizierten Studien. Die tatsächliche Anzahl der referierten Studien bleibt unklar. Jeder identifizierte Artikel wurde anhand eines Graduierungssystems auf seine Relevanz eingestuft. Die Graduierung basiert auf dem Studiendesign: Ia Meta-Analyse, Ib RCT, IIa kontrollierte Studie, IIb quasi-experimentelle Studie, III nicht-experimentelle Beobachtungsstudie, IV Expertenmeinung, 0 irrelevante Studie. Alle 10 Teammitglieder waren in diesen Prozess involviert und einigten sich diskursiv. Eine detaillierte Beurteilung der Validität der Publikationen wurde nicht durchgeführt. Weder die Art der Datenextraktion noch die beteiligten Personen sind benannt. Die Daten aus den Studien wurden im Artikel narrativ dargestellt. Die Patientengruppen und untersuchten Interventionen der eingeschlossenen Studien sind unpräzise oder nicht beschrieben. Ergebnisse des Reviews Rasur versus Verzicht auf Haarentfernung Die Reviewer konnten nur wenige klinische Studien identifizieren, die den Verzicht auf Rasur mit der präoperativen Rasur verglichen hatten. Die Nachteile des präoperativen Rasierens konnten nur in Beobachtungsstudien aufgezeigt werden. Ein von insgesamt zwei im Review identifizierten randomisiert-kontrollierten Studien (RCTs) hat einen nicht statistisch signifikanten Trend zu Ungunsten der Rasur belegt. Hier entwickelten 17 von 137 (12,4%) der rasierten Patienten eine postoperative Wundinfektion im Vergleich zu 11 von 141 (7,8%) der nicht-rasierten Patienten. 3
Eine neuere Beobachtungsstudie mit 90 Kindern, die sich neurochirurgischen Eingriffen unterziehen müssen, zeigt vergleichbare Ergebnisse für beide Studiengruppen. Demnach stellt der Verzicht auf Rasur eine angemessene Alternative zur traditionellen Rasur dar, der für die Betroffenen zusätzlich einen psychologischen Vorteil im Sinne eines nicht gestörten körperlichen Erscheinungsbildes verspricht 8. Auch hierzulande wurde in einer Beobachtungsstudie im Klinikum Ulm bei Operationen am Kopf gezeigt, dass der Verzicht auf Rasur nicht das Infektionsrisiko steigert 9. Rasur versus Benutzung eines Haarschneidegerätes Beobachtungsstudien verweisen auf den Nutzen des Verzichts auf Rasur zugunsten der Haarentfernung mittels Gerät. Ein großes im Rahmen des Reviews referiertes RCT mit Patienten, die sich Bypass- Operationen unterziehen, zeigt, dass die Haarentfernung am Abend vor dem Eingriff mittels eines Haarschneidegerätes im Vergleich zur Rasur in statistisch signifikantem Ausmaß die Wundinfektionsrate reduziert. Die Überlegenheit der Benutzung eines Haarschneidegerätes im Vergleich zur Rasur am Morgen des Eingriffs sowie die Überlegenheit gegenüber der Haarentfernung mittels einer der beiden Methoden am Abend vor dem Eingriff konnte in einem weiteren referierten RCT mit mehr als 1000 Studienteilnehmern aufgezeigt werden. Die Reviewer resümieren einen starken wissenschaftlichen Beweis für den Vorteil bei Benutzung eines Haarschneidegerätes im Vergleich zur Rasur, wenn eine präoperative Haarentfernung notwendig ist. Rasur versus chemische Haarentfernung Der wissenschaftliche Beweis aus RCTs, die die mit der Haarentfernung mit Endpunkt Wundinfektion vergleichen, ist nicht eindeutig. Zwei Beobachtungsstudien hingegen verweisen auf die Überlegenheit der chemischen Haarentfernung. Die Reviewer werten die wissenschaftliche Datenlage als Tendenz, die Haarentfernung zu bevorzugen. Zeitpunkt der präoperativen Haarentfernung Der wissenschaftliche Beweis, der für eine zeitnahe Haarentfernung spricht ist mäßig. Ein in den Review eingeschlossenes RCT kann keinen statistisch signifikanten und klinisch relevanten Unterschied belegen, wenn die Rasur am Abend vor dem Eingriff oder am Morgen des Eingriffs durchgeführt wird. Zwei Beobachtungsstudien hingegen sprechen für die zeitnahe Rasur. Nassrasur versus Trockenrasur Ein schlüssiger wissenschaftlicher Beweis für die Überlegenheit der einen oder anderen Rasur liegt derzeit nicht vor. Eine in den Review eingeschlossene Untersu- 4
chung aus den 80er Jahren, legt eine Erhöhung der Infektionsrate nach Nassrasur nahe. Diskussion International werden verschiedene Praktiken der Haarentfernung empfohlen. Zum Beispiel empfehlen die American Centers for Disease Control, dass eine präoperative Haarentfernung nur in den Fällen vorgenommen werden soll, in denen das Haar an der oder um die Inzisionsstelle herum direkt mit der chirurgischen Prozedur konfligiert 10. Ebenso empfiehlt auch die Schweizerische Gesellschaft für Spitalhygiene auf eine zu verzichten bzw. diese unmittelbar vor der Operation mit einem elektrischen Rasierer durchzuführen 11. Eine kürzlich durchgeführte Internetrecherche mittels Google und Benutzung der Suchbegriffe Rasur und Operation zeigte, dass in deutschen Pflegestandards und Patienteninformationen die Rasur vielerorts als übliche präoperative Versorgungsmaßnahme beschrieben wird. Die Autoren des oben betrachteten Reviews 6 schätzen die wissenschaftliche Beweislage zum fehlenden Nutzen und Schaden der Rasur als nicht eindeutig sei. Demgemäss sei derzeit nicht unumstritten belegt, dass auf das präoperative Rasieren verzichtet werden solle. Die wissenschaftliche Beweislage spreche jedoch eher dafür, dass die Benutzung eines Haarschneidegerätes und die chemische Enthaarung zu geringeren Infektionsraten führten. Bedenkenswert sei jedoch, dass die Anwendung einer Enthaarungscreme unter Umständen zu Hautirritationen führen könne. Die verfügbare Evidenz würde zudem eher für eine kurzfristige, vor dem Eingriff erfolgende Entfernung des Haares sprechen. Weitere randomisiertkontrollierte Studien oder methodisch hochwertige Beobachtungsstudien, die die Benutzung von Haarschneidegeräten oder chemischer Enthaarung im Vergleich zur Nichtentfernung des Haares untersuchen, wären durchzuführen. Der Nutzen der präoperativen Haarentfernung ist sicherlich mit der besseren Übersicht während des chirurgischen Eingriffs und der erleichterten postoperativen Wundversorgung zu begründen. Der fehlende Nutzen und der Schaden des Rasierens im Vergleich zu anderen Methoden der Haarentfernung ist wahrscheinlich und durch Ergebnisse aus mehreren klinischen Studien angezeigt. Plausibel sind die Ergebnisse aus Untersuchungen, die aufzeigen, dass das Rasieren kleine Hautverletzungen herbeiführt, die sich später durch eintretende und sich vervielfältigende Mikroorganismen infizieren 12. Die Qualität des betrachteten Reviews anhand der akzeptierten Kriterien, die für die Nachvollziehbarkeit und Transparenz einer solchen Publikation sprechen, ist nicht eindeutig zu beurteilen. Die Schlussfolgerungen des Übersichtsartikels sind somit nicht als uneingeschränkt vertrau- 5
enswürdig einzuschätzen. Die Ergebnisse eines derzeitig in Vorbereitung befindlichen Reviews der Cochrane Collaboration 5 zur Fragestellung können möglicherweise eindeutigere Schlussfolgerungen zulassen. Literatur 1. Kumar K, Thomas J, Chan C: Cosmesis in neurosurgery: is the bald head necessary to avoid postoperative infection? Annals of Academic Medicine of Singapore, 31 (2002): 150-154 2. Alexander JW, Fischer JE, Boyajian, Palmquist J, Morris MJ: The influence of hairremoval methods on wound infections. Archives of Surgery, 118 (1983): 347-352 3. Seropian R, Reynolds BM: Wound infections after preoperative depilatory versus razor preparation. American Journal of Surgery, 121 (1971): 251-254 4. Emmerson AM, Enstone JE, Griffin M, Kelsey MC, Smyth ET: The second national prevalence of infection in hospitals - overview of the results. Journal of Hospital Infection, 32 (1996): 175-190 5. Tanner J, Woodings D, Moncaster K: Preoperative hair removal to reduce surgical site infection. (Cochrane Review Protocol). In: The Cochrane Library (3) 2003. Oxford: Update Software http://www.cochrane.de/ 6. Kjonniksen I, Andersen BM, Sondenaa VG, Segadal L: Preoperative hair removal--a systematic literature review. AORN Journal, 75 (2002): 928-38, 940 7. Moher D, Cook DJ, Eastwood S, Olkin, I, Rennie D, Stroup DF: Improving the quality of reports of meta-analyses of randomised controlled trials: the QUOROM statement. Quality of Reporting of Meta-analyses. Lancet, 354 (1999): 1896-1900 8. Tang K, Yeh JS, Sgouros S: The Influence of hair shave on the infection rate in neurosurgery. A prospective study. Pediatric Neurosurgery, 35 (2001): 13-17 9. Braun V, Richter HP: Shaving of the hair - is it always necessary for cranial neurosurgical procedures? Acta Neurochirurgica, 135 (1995): 84-86 10. Mangram AJ, Horan TC, Pearson, ML./Silver, LC, Jarvis WR: Guideline for Prevention of Surgical Site Infection, 1999. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) Hospital Infection Control Practices Advisory Committee. American Journal of Infection Control, 27 (1999): 97-132 11. Widmer AF, Francioli P: Postoperative Wundinfektionen: eine Übersicht. Swiss NOSO, 3 (1996), http://www.hospvd.ch/swissnoso/ d31a1.htm, Zugriff am 26.9.2003 12. Briggs M: Principles of closed surgical ound care. Journal of Wound Care, 6 (1997): 288-292 6