Die Exklave Steinstücken im Wandel der Zeit

Transkript

1 Die Exklave Steinstücken im Wandel der Zeit Einige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, ich war gerade vierzig und Neu- Zehlendorfer geworden, packte mich die Neugier, was wohl aus der ehemaligen Exklave Steinstücken geworden sein könnte. Steinstücken stand für ein weithin bekanntes und beliebtes Refugium großstadtmüder Inselstadtbewohner, die ihren Wochenend-Spaziergang im Grünen gerne im Ausflugslokal Zum Taubenschlag ausklingen ließen. Dazu war Steinstücken vor dem Viermächteabkommen, vor allem wegen der spektakulären Hubschrauberversorgung durch die US-Armee, ein weltweit bekannter Brennpunkt während des Kalten Krieges gewesen. Kurzentschlossen brach ich an einem freundlich-milden Januarnachmittag in den Zehlendorfer Süden auf. Über die vertraute Route von der Königsstraße nach Kohlhasenbrück, entlang des Stölpchensees bis zum Teltowkanal, wo ich unmittelbar nach der Brücke die ummauerte Zufahrt, die Berhard-Beyer-Straße, erreichte. Die, wie sich herausstellte, nach wie vor zwischen übermannshohen Betonplattenwänden verlief. Die den Ort umschließenden Grenzanlagen wiesen dagegen bereits zahlreiche Lücken auf, mancherorts fehlten ganze Teilstücke. Hier hatten Mauerspechte und wohl auch die Räumungskommandos der NVA ganze Arbeit geleistet. In der Siedlung selbst war noch alles beim Alten. Beschauliche Einfamilienhäuser mit Vorgärten, auch das Ausflugslokal gab es noch und hatte geöffnet. Aber keine Zeit und Muße für gemütliches Einkehren zum Nachmittagskaffee, mein Ziel waren die Grenzbefestigungen und der Mauerstreifen. Auf dem sich bereits zahlreiche Ausflügler tummelten, einige hatten sogar einen der unbesetzten Wachtürme erklommen, um den Blick und die Position der ehemaligen Bewacher in Erfahrung zu bringen. Ein in der Tat beeindruckendes Erlebnis: Wie eine brutal in die Landschaft gemeißelte Schneise schnitt das Mauerband durch gewachsenes Wohngebiet, riss Siedlungen, Straßenzüge und Waldstücke auseinander. Mit seinen dicht aneinander gereihten Lichtmasten, dem asphaltierten Kolonnenweg, dem Kfz-Graben und dem davor mittig verlaufenden Metallgitterzaun der schaurige Anblick einer bis zur Perfektion ausgebauten Grenzanlage. Wie viel Mut und Verzweiflung mussten DDR-müde Bürger aufgebracht haben, um hier eine Flucht zu wagen? Die es in Steinstücken tatsächlich einmal gegeben hat - um den Preis eines toten Flüchtlings! Auf dem Weg zurück dann plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Grenzsoldat. Unbewaffnet, aber mit einem verstört blickenden Wachhund an der Leine. Ein in seiner Symbolhaftigkeit kaum zu übertreffender Anblick: Eine Grenze, die als killing field bis vor kurzem noch der Inbegriff der Unmenschlichkeit gewesen war, wurde von einem Posten bewacht, der offensichtlich nicht mehr wusste, warum er da war und was er zu bewachen hatte. Das perfekte Fotoobjekt für einen dokumentationswütigen Westbewohner wie mich, der diese Gelegenheit dankbar wahrnahm. Heute ist Steinstücken kaum mehr wiederzuerkennen. Nach der Wende hat ein Bauboom eingesetzt und dem Ort eine Fülle von Neubauten beschert, während der alte Ortskern zunehmend verschwindet. Nur wenige Anhaltspunkte sind geblieben. Zwei Infotafeln und Altbestände wie das solide Landhaus am Ende der Steinstraße, das ich vor neunzehn Jahren mit noch intakter Mauer aber umgestürzten Wachturm fotografiert hatte und unlängst bei einem Fotoausflug wiederentdecken konnte. Dessen hübsch renovierte Vorderfront jetzt ohne Mauer sehr, sehr viel netter anzuschauen ist. Ein in der Wendezeit unweit dieser Stelle eigenhändig herausgeschlagenes Mauerstück schmückt heute immer noch stolz meinen Schreibtisch.

2 2 Grenzbefestigungen an der Bernhard-Beyer-Straße, Januar 1990 Grenzanlagen um Steinstücken, Januar 1990

3 3 Todesstreifen bei Steinstücken, Januar 1990 Grenzsoldat mit Wachhund in Steinstücken/Babelsberg, Januar 1990

4 4 Ehemaliger Grenzstreifen mit Infotafel in Steinstücken/Babelsberg, April 2009 Ortskern von Steinstücken, April 2009

5 5 Neue Wohnhäuser in Steinstücken, April 2009 Ehemaliger Kolonnenweg um Steinstücken, April 2009 Gottfried Schenk 2009