In der geschlossenen Psychiatrie: Zum ersten Mal bei einem Patienten hinter verriegelter Tür
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- Oldwig Lorenz
- vor 5 Jahren
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Transkript
1 In der geschlossenen Psychiatrie: Zum ersten Mal bei einem Patienten hinter verriegelter Tür Freiheitsentzug kann in der Psychiatrie auch heute noch notwendig sein. Zumeist kann den Kranken aber schnell geholfen werden. von Alexander Slongo /
2 Wenn Psychiatrie-Patienten sich und andere gefährden, müssen sie isoliert untergebracht werden. (Foto: Walter Bieri / Keytsone) Zum ersten Mal betrete ich den geschlossenen Bereich einer Psychiatrie. Natürlich erwarte ich nicht eine Reihe von Gefängniszellen wie im Film «Das Schweigen der Lämmer». Und doch bin ich überrascht, dass der einzige Unterschied zwischen der offen geführten und der geschlossenen Abteilung die verriegelte Glastür ist, welche die beiden Bereiche voneinander trennt.
3 Die psychiatrische Klinikstation, in der ich mein Praktikum absolviere, ist zuständig für alle Akutaufnahmen und Kriseninterventionen. Hier begegnet man den manifesten Zustandsbildern der verschiedensten psychiatrischen Erkrankungen. Und da diese zu Beginn der Therapie oft stark ausgeprägt sind, braucht es ein entsprechendes Umfeld, um die Patienten gegebenenfalls vor sich selbst zu schützen. Der Weg zum Arzt Alexander Slongo studiert an der medizinischen Fakultät der Universität Bern im vierten Jahr. In einer vierteiligen Serie berichtet er von seinen ersten klinischen Erfahrungen. Hier im dritten Teil schildert er einen Tag während seines Praktikums in der psychiatrischen Station einer Klinik. Ein Zimmer in der geschlossenen Abteilung erregt meine Aufmerksamkeit. In eine verstärkte und verschliessbare Tür ist eine Klappe eingelassen, und das gesamte Zimmer, Decke inklusive, ist leuchtend rosa gestrichen. Momentan ist es bis auf ein Bett in der Ecke leer und unbewohnt. Das Fenster ist kleiner als in den übrigen Räumen und lässt sich nicht öffnen. Die Pflegerin erklärt mir später, dass es sich dabei um das Isolationszimmer handle.
4 Bereits am nächsten Morgen bekommt es einen Bewohner. Die Polizei bringt uns einen Patienten, der auf der Station bereits bekannt ist. Herr K. ist jung, nicht viel älter als ich. Seine Mutter hat eine Gefährdungsmeldung gemacht, woraufhin seine fürsorgerische Unterbringung angeordnet wurde. Den ersten Kontakt mit ihm hatte ein Ambulanzteam. Diesem widersetzte er sich jedoch, woraufhin er von der Polizei aufgegriffen wurde. Bei uns erscheint er in katatonem Zustand, das heisst, er reagiert weder auf Ansprechen noch auf Befehle. Da eine Fremd- oder Selbstgefährdung nicht ausgeschlossen werden kann, wird er vorsorglich isoliert untergebracht und in dem rosafarbenen Zimmer eingeschlossen. Mit dem zuständigen Psychiater betrete ich kurz darauf den Raum. Der Patient hängt in verkrümmter Haltung am einzigen Fenster des Raumes. Das Fensterbrett ist gerade breit genug, dass er mit einem Fuss darauf stehen kann, mit einer Hand hält er sich am Rahmen fest. Einem gesunden Menschen wäre es nicht möglich, sich über so lange Zeit dermassen steif festzuhalten. In seiner Katatonie fällt es ihm leicht. Für einige Minuten verharren wir ruhig im Zimmer. Der Patient scheint keine Notiz von uns zu nehmen, erst nach mehrmaligem Ansprechen reagiert er. Auf Anweisung des Arztes steigt er langsam vom Fenster, scheint seine Umgebung sonst aber weiterhin nicht wahrzunehmen. Der Psychiater geht langsam auf ihn zu, doch der Patient hebt die Fäuste. Ein Schritt zurück, die Fäuste sinken. Der Arzt redet mit ihm, tastet sich Schritt für Schritt wieder näher. Herr K. nimmt die ihm dargebotenen Tabletten und das Glas mit Wasser wortlos entgegen. Wir warten noch, bis er die Medikamente eingenommen hat, und verlassen danach den Raum.
5 Am nächsten Tag kann Herr K. bereits ein normales Zimmer beziehen. Die Medikamente haben erstaunliche Wirkung gezeigt, nichts erinnert mehr an seinen gestrigen Zustand. Er spricht mit uns, gibt Auskunft, und nur eine leicht schleppende und verlangsamte Sprache lässt erahnen, dass noch nicht ganz alles in Ordnung ist. Das Ziel des Isolationszimmers ist, den Patienten bei akuten Krisen für kurze Zeit abzuschotten, ihn intensiv zu betreuen und möglichst schnell wieder in ein normales Zimmer überführen zu können. Ich wurde angeschrien, kratzte Exkremente von den Wänden und hatte mehr als einmal ein mulmiges Gefühl. Im Fall von Herrn K. reichte bereits eine Nacht, bei anderen musste die Isolation länger aufrechterhalten werden. Beispielsweise bei Herrn N. Dieser verhielt sich aufgrund einer manischen Episode während längerer Zeit dem Personal und seinen Mitpatienten gegenüber unkooperativ und aggressiv. Die rosa Wände schienen bei ihm keine beruhigende Wirkung zu entfalten, genauso wenig wie die Tabletten. Jeder Duschgang von ihm musste begleitet werden, die Medikamente nahm er zu Beginn nur dann ein, wenn ihm von den Ärzten Zwangsmedikation angedroht wurde. Doch in Verbindung mit langen Gesprächen und einer Anpassung der Wirkstoffe besserte sich auch sein Zustand. Als ich nach vier Wochen die Abteilung verliess, stand das rosa Zimmer wieder leer. In meiner Zeit in der Psychiatrie habe ich in der Tat einige absonderliche Momente erlebt. Ich wurde angeschrien, kratzte Exkremente von den Wänden und hatte mehr als einmal ein mulmiges Gefühl, wenn mir ein Patient zu nahe kam. Doch ich habe gelernt, dass die eingewiesenen Menschen nicht verrückt, sondern krank waren und man ihnen helfen kann.
6 Auch heute noch wird, ob unterbewusst oder nicht, bei einer psychischen Erkrankung die Person stigmatisiert. Viele Patienten sprachen mit mir über die Scham, in einer psychiatrischen Klinik zu sein. Wenn wir von der körperlichen Erkrankung eines Menschen erfahren, reagieren wir nicht mit Aversion. Bei einer Erkrankung der Psyche ist das jedoch anders. Dem Geist wird nicht das gleiche Recht wie dem Körper zugestanden, von Zeit zu Zeit einmal nicht richtig zu funktionieren, zu erkranken oder eben Hilfe zu benötigen. Und das, obwohl es sich dabei nicht um eine seltene Diagnose handelt. Hat doch fast jede zweite Person irgendwann in ihrem Leben mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen. Der erste und zweite Teil der Serie: Newsletter Lassen Sie sich mittwochs und freitags von der Redaktion informieren und inspirieren. Jetzt abonnieren Copyright Neue Zürcher Zeitung AG. Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveroeffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen oder anderen Zwecken ohne vorherige ausdrü ckliche Erlaubnis von NZZ am Sonntag ist nicht gestattet.
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