Das Kultivieren des Selbst

Transkript

1 Über Tazkiyat an-nafs William Chittick

2 Der folgende Text stammt aus dem Buch Chittick, William C.: Sufism: A Beginner s Guide, Oxford, England: Oneworld Publications Übersetzt von Margarita Giovanni

3 بسم اهلل الرحمن الرحيم والصالة والسالم على المبعوث رحمة للعالمين وعلى آله وصحبه أجمعين Die Sufi-Gelehrten geben uns einheitliche Beschreibungen des Kosmos und der Seele und erläutern den Pfad, der den Mensch zu Gott zurückbringt. Ihre Einschätzung der menschlichen Situation kann mit dem folgenden Hadith zusammengefaßt werden: Auf dieser Welt liegt ein Fluch, verflucht ist, was in ihr ist, ausgenommen dem Gottesgedenken. Da die Welt und alle Dinge in ihr von ihrem göttlichen Ursprung getrennt sind, sind sie verfälscht, dunkel und ohne Orientierung, weil die Sonne untergegangen ist. Aber wenn man die gleiche Welt und die gleichen Dinge als Zeichen Gottes betrachtet, sind sie wie die leuchtenden Strahlen der aufgehenden Sonne. Die Welt als der Westen ist verflucht, aber die Welt als der Osten 1 ist ein fröhliches Lied der Erinnerung, das die Sehenden anspornt, den Segen, der allen Dingen innewohnt, zu preisen. Um zu lernen, wie man Gott in sich selbst und den Dingen schauen kann, muss man erlernen, wie man fortwährend Gott gewahr sein kann. Man muss das strahlende Licht der aufgegangenen Sonne in einer Landschaft sehen, die andere als von der Mitte der Nacht verschleiert wahrnehmen. Alle Praktiken des Islams und des Tasawwuf fokussieren auf ein Ziel den Menschen die Augen zu öffnen damit sie sehen. Zahlreiche koranischen Verse und Sprüche der Propheten sprechen über dieses Ziel in einer großen Auswahl an Bildnissen und Redewendungen. Eine der 1 Die Sufis haben den Unterschied zwischen Zeichen und Schleiern mit vielen verschiedenen Begriffen und Beispielen erläutert, so z.b. dass jedes existierende Geschöpf zwei Gesichter habe, eines davon sei das östliche Gesicht, das andere das westliche Gesicht ; wenn man das westliche Gesicht betrachtet, findet man keine Spur der Sonne, weil sie untergegangen ist; betrachtet man hingegen das östliche Gesicht des gleichen Dinges, ist die Sonne in ihrem vollen Glanz zu sehen. Alles zeigt beide Gesichter zur gleichen Zeit, aber die Mehrheit der Menschen sieht vorrangig das westliche Gesicht. Ihnen fehlt das Bewusstsein, dass alles Zeichen Gottes sind, in denen Er Seine eigene Realität offenkundig macht. Für sie sind der koranische Vers: Wo auch immer du dich hinwendest ist das Angesicht Gottes (2:115) leblose Buchstaben. Im Gegensatz dazu sehen die Propheten und die großen Sufi-Gelehrten das östliche Gesicht; sie erkennen Gott in allen Dingen. In ihrem Fall hat Gott das Gebet Zeige uns die Dinge wie sie wirklich sind erhört. Für sie sind alle Dinge tatsächlich und wahrhaftig Zeichen Gottes. Das östliche und westliche Gesicht der Dinge wird bei Schabistari in dessen bekannten Gedicht Gulshan-i raz (Der Rosengarten der Geheimnisse) erwähnt und detaillierter von Lahiji (gest. 1506) in seinem Kommentar Sharh-i Gulshan-i raz besprochen. 3

4 prägnantesten und von Sufilehrern häufig als Definition des Weges zu Gott benutzten ist tazkiyat an-nafs, eine Redewendung, die normalerweise mit Reinigung 2 der Seele übersetzt wird. Der Ausdruck ist von einem Koranvers abgeleitet, den ich etwas zögerlich folgendermaßen übersetzten würde: Bei der Seele und Dem, Der sie geformt hat, und sie zu Verdorbenheit wie Gottesfurcht anregte. Erfolgreich ist der, der sie vervollkommnet, und erfolglos der, der sie vergräbt (91: 7-10). Gemäß dieses Verses erlangen nur jene, die ihre Seelen reinigen, Erfolg. Der koranische Kontext macht klar, dass dieser Erfolg die nächste Welt betrifft und dass Erfolg in dieser Welt irrelevant ist, wenn nicht gar absolut gefährlich. Die, die versäumen, ihre Seele zu reinigen und stattdessen ihre Seele begraben als ob sie ihre Seelen unter der Oberfläche verbergen würden werden nicht erfolgreich sein. Vielmehr werden sie elendig sein wenn sie in ihr endgültiges zuhause kommen werden, egal ob sie sich hier glücklich und erfolgreich wähnen oder nicht. Wie alle Übersetzungen koranischer Stellen, ist diese Übersetzung offen und vorläufig. Zunächst einmal ist reinigen definitiv eine irreführende Übersetzung für tazkiya. Alle Wörterbücher sagen aus, dass tazkiya zwei Bedeutungen hat, obwohl die Lexikographen darüber uneins sind, welche Bedeutung ursprünglicher ist. Eine Bedeutung des Verbs ist reinigen und läutern, die andere ist verfeinern und vergrößern. Somit kann unter tazkiyat an-nafs, wie die Korankommentatoren feststellen, beides verstanden werden, die Reinigung der Seele oder Verfeinerung der Seele. Die meisten Kommentatoren betonen die erste Bedeutung, augenscheinlich aus theologischen Gründen. Schließlich ist es das vorderste Gebot der Muslime, sich Gott zu unterwerfen und dies kann nicht vollbracht werden, solange sie sich nicht von den Dingen distanzieren, die Gott missfallen. Dies könnte man als Reinigung bezeichnen. Jedoch ist es offensichtlich, dass die Seele auch wachsen 3 muss und ihr Wesen mit Gottes Hilfe weiterentwickelt werden muss. Dieses Wachsen und Weiterentwickeln wird ebenfalls als tazkiya bezeichnet. Somit müssen zwei Dinge stattfinden, die beide im Begriff tazkiya impliziert sind Reinigung und Verfeinerung. Wir können uns auch vorstellen, dass die Reinigung mit dem Wachsen und der Verfeinerung der Seele Hand in Hand geht und so die beiden Bedeutungen des Wortes verschmelzen. Die Komplementarität 4 dieser beiden Bedeutungen kann in einigen Verwendungen des Wortes tazkiya nachvollzogen werden. Aus den Wörterbüchern erfahren wir, dass es sowohl für das Aussäen von Pflanzensamen als auch für das Aufziehen 2 Im Sinne von: Läuterung, Klärung. 3 Im Sinne von: sich entwickeln. 4 Wechselseitige Entsprechung. 4

5 von Vieh benutzt werden kann, beides hat weder mit reinigen noch mit verfeinern zu tun, jedoch mit etwas, was diese beiden Bedeutungen verbindet. Wenn Samen in die Erde eingebracht werden, reinigt sie dies von ihnen fremd Anhaftendem und gibt sie der Gnade Gottes preis Erde, Wasser und Sonnenlicht. Dies bringt den Samen zum Vermehren und Wachsen. Die, die den Samen einpflanzen, reinigen ihn weder, noch verfeinern sie ihn. Vielmehr bringen sie ihn in eine Situation, in der er gedeiht, wächst und sein eigenes Potential hervorbringt. Deswegen bedeutet tazkiyat an-nafs nicht nur reinigen der Seele sondern auch, der Seele das Wachsen und Gedeihen durch das Öffnen für die Gaben Gottes zu erlauben. Eine treffendere Übersetzung könnte das Kultivieren der Seele sein. 5