Keiner weiß, wie es weitergeht. Keiner von ihnen wird überlegt haben, was eigentlich aus Jesu Leichnam werden soll.

Transkript

1 Liebe Gemeinde, Jesus hängt am Kreuz. Alles ist vorbei. Er wird sterben. Seine Freunde sind davongelaufen. Sie haben Angst und verstecken sich. Jetzt versuchen sie nur noch, die eigene Haut zu retten. Keiner weiß, wie es weitergeht. Keiner von ihnen wird überlegt haben, was eigentlich aus Jesu Leichnam werden soll. Dabei war ja klar, dass er nicht über Nacht hängen durfte. Der nächste Tag war ein Feiertag. Der Tote musste bestattet werden. Von den Jüngern würde sich aber niemand um die Totenklage kümmern. (1. Totenklage für einen Verlierer) Keiner seiner Freunde würde eine Beerdigungsansprache halten. Wie denn auch? Sie waren ja völlig sprachlos angesichts der Ereignisse. Was hätten sie denn jetzt noch dazu sagen können? Jesus hatte vom Anbruch der Herrlichkeit Gottes gesprochen. Nun aber standen die Jünger am Abgrund der Hölle. Da mussten sie verstummen. So war es dann auch ein Anderer, der sich um die Bestattung kümmerte: Joseph von Arimathäa. Er legte den Leichnam Jesu in seine eigene Grabkammer. Ob es eine Trauerfeier gab? Vermutlich nicht. Hier wurde ja offenbar ein Verstoßener bestattet. Gott hatte ihn verlassen; ihn, der sich sein Leben lang auf Gott verlassen hatte. Welcher kluge Satz hätte das erklären können? Welche Worte könnten jetzt noch trösten?

2 Erst später fanden die Jünger Worte. Worte, die das grausame Dahinscheiden Jesu erklären konnten. Sie fanden die Worte im Buch Jesaja. Sie waren schon vor Zeiten ausgesprochen. Über Jahrhunderte schlummerten sie kaum beachtet in der Bibel. Jesaja im 53. Kapitel. Es ist eine uralte Totenklage für einen Knecht Gottes. Genau wie unsere Trauergottesdienste beginnt sie mit dem Zuspruch Gottes. Und wie eine christliche Bestattungsfeier endet sie mit einem Gotteswort. Dazwischen würdigen die Hinterbliebenen den Verstorbenen im Licht dieses Zuspruchs. Hören Sie selbst: Jesaja 52,13-53,12. Lange Zeit über war diese Totenklage nebensächlich geblieben. Niemand hat sich besonders mit ihr beschäftigt. Womöglich konnte auch niemand sie verstehen. Wer ist denn überhaupt dieser Knecht Gottes, dessen Nachruf wir da lesen? Dann aber kamen die unerhörten Verse neu zur Geltung. Die ersten Christen lernten, sie auf Jesus zu beziehen. In diesen Worten sehen wir das Leben und vor allem das Sterben Jesu gedeutet. Ja, es sind wirklich unerhörte Worte! Die Rede Gottes ist klar und eindeutig. Gott sagt: Alle haben meinen Knecht verachtet, aber er wird erhöht, und jeder wird es merken. Wer ganz unten ist, der kommt bei Gott zu Ehren. Das sagt Gott. (2. Es gibt Gewinner und Verlierer) Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde? Wer nimmt das für bare Münze? So setzt die Trauerrede der Hinterbliebenen ein. Und so spricht sie bis in unsere Zeit hinein. Gott macht das Große klein und das Kleine groß; das ist uns gesagt.

3 Aber unser alltägliches Leben spricht eine andere Sprache. Wir wollen lieber auf der Gewinnerseite stehen als bei den Verlierern. Ich möchte geachtet werden, vielleicht sogar ein bisschen bewundert. Ich möchte gerne etwas bedeuten und kein niemand sein. Ich möchte meinen Weg gehen. Wer gewinnt und wer verliert, ist tragischer Weise oft schon im Voraus ausgemacht. Wann immer Menschen zusammenkommen, ist schnell klar, wer oben steht und wer unten ist. An den Verlierern scheint es festzukleben, dass sie verlieren. Genauso gibt es einige, die immer obenauf sind. Unsere Gesellschaft zementiert das noch. In Deutschland hängt es stark vom Elternhaus ab, welchen Schulabschluss die Kinder erreichen. Wenn die Eltern studiert haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Kinder es auch tun werden. Gleichkluge Kinder aus anderen Verhältnissen haben es ungleich schwerer. Überall scheint von vorneherein festzustehen, wer gewinnt und wer verliert. Im Bekanntenkreis, in Deutschland, in der ganzen Welt. Es gibt die westlichen Industriestaaten, die den Wohlstand für sich gepachtet haben. Andererseits gibt es die armen Länder, die immer weiter abgehängt werden. Können Sie sich vorstellen, dass sich das jemals ändern wird? Und so halten wir uns lieber zu den Siegern, zu den Mächtigen, den Starken, zu den Reichen und den Schönen. Wir wollen keine Verlierer sein, bloß nicht. Den Wert eines Menschen bemessen wir nach seiner Position, nach seinem Auftreten und, ja, auch nach seinem Aussehen. Dabei sollten wir es besser wissen: Gott wird den Erniedrigten erhöhen. Das ist sein Wort, seine Zusage. Die Ordnung, die für uns so festzustehen scheint, zählt vor Gott nicht. Aber wer glaubt dem, was uns verkündigt wurde? Jesus hat dem geglaubt.

4 Er war sich nicht zu schade, ein Verlierer zu sein. Er lässt sich schlagen und verspotten. Anderen hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen, höhnen die Siegertypen. Um ihn zu demütigen, rammen sie ihm eine Dornenkrone auf den Kopf. Was Jesus erlitten hat, fasst die Totenklage in Jesaja 53 zusammen: Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Eine bittere Bilanz zieht diese Grabrede. Wir erkennen den Leidensweg Christi darin wieder. Gleichzeitig müssen wir erschüttert zur Kenntnis nehmen, dass unzählige Menschen ähnliches Leid erdulden mussten und müssen. Die Bibel nennt auch das Volk Israel einen Knecht Gottes. Über Jahrhunderte hat es Verfolgung und Anfeindung gelitten, bis hin zum Völkermord. Millionenfach ist der Knecht Gottes in den Vernichtungslagern grausam hingerichtet worden. Dienerinnen und Diener Gottes werden nach wie vor zur Schlachtbank geführt. In vielen Ländern dieser Erde werden Christinnen und Christen um ihres Glaubens willen benachteiligt, bedrängt und verfolgt. Um nur ein Beispiel beim Namen zu nennen: In diesen Tagen wird die christliche Minderheit im Irak aufgerieben. Die Totenklage ist seit Jesu Tod am Kreuz noch nicht verstummt. Sie muss weiter erhoben werden, immer wieder. Dennoch glauben wir, dass das Sterben Jesu am Kreuz eine besondere Bedeutung hat. Hier ist etwas Einmaliges, Grundlegendes passiert. Mit Hilfe unseres Predigttextes haben die ersten Christen das Rätsel des Kreuzes verstehen gelernt. Die damals schon jahrhundertealte Totenklage hat ihnen ein Licht aufgehen lassen. Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. (3. Verlierer um unseretwillen)

5 Um unseretwillen leidet der Knecht Gottes. Um unseretwillen hat Jesus gelitten. Damals, als Jesus starb, lag es auf der Hand: Die politische Lage war äußerst angespannt. Die Eliten fürchteten allgemeinen Aufruhr. Darum mussten sie Jesus ausliefern. Sie befürchteten, dass seine Bewegung zum allgemeinen Aufstand führen würde. Die römische Besatzungsmacht hätte hart durchgegriffen. Es hätte viele Tote gegeben. Darum hatte der Hohepriester in Jerusalem schon früh gesagt: Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe. Einer an Stelle der vielen damals war es plausibel. Jesus wurde geopfert, um Schlimmeres zu verhindern. Wenn einer eine Grabrede zu Jesu Bestattung gehalten hätte, dann hätte er das sagen müssen: Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten. Soviel dazu. Wir behaupten aber, dass Jesus genauso auch für uns gelitten hat. Auch wir zählen uns zu den vielen, für die er sein Leben gab. Jawohl, unseretwegen ist er ans Kreuz gegangen, unseretwegen, die wir zweitausend Jahre später leben! Das müssen wir erklären. Genauso müssen wir erklären, warum Menschen nach wie vor noch leiden und abgeschlachtet werden. Wie kann das sein, wenn Jesus doch am Kreuz für alle gelitten hat? Es hilft, wenn wir einen Augenblick innehalten und überlegen, worin die Missetat und unsere Sünde bestehen. Damit sind nicht nur unsere einzelnen Untaten gemeint. Sie alle haben eine gemeinsame Wurzel, die unser Predigttext benennt: Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg.

6 Wir sehen auf unsere eigenen Wege, nicht auf den Weg Gottes. Wir achten darauf, dass wir selbst gut dastehen. Wir wollen uns behaupten. Wir wollen auf Biegen und Brechen Gewinner sein und keine Verlierer. Darüber haben wir den Weg Gottes aus den Augen verloren, haben uns von ihm entfernt. Wir haben auf das eigene geschaut, nicht auf Gott. Daran sind wir erkrankt, damit haben wir so viele Schmerzen über uns gebracht. Indem jeder auf seinen Weg sieht, bringen wir uns um den Frieden mit Gott und mit unseren Nächsten. Weil wir Gottes Weg missachten, verstricken wir uns in Selbstsucht, Missgunst, in Einsamkeit und Hass und Streit. Wir drängen Gott aus unserem Leben. So geraten in die Gottesferne, wir verlieren die Hoffnung und müssen verzweifeln. Jeder sieht auf seinen Weg, und so manövrieren wir uns allesamt ins Abseits. Aber genau dahin geht Gott uns nach. Weil wir uns verirrt haben, erniedrigt er sich und kommt zu uns. Gott kommt in die Gottesferne. In Jesus Christus tut er das. Er teilt unsere Schmerzen, unsere Krankheit, er nimmt sie auf sich, damit er uns darunter findet damit wir ihn wiederfinden können. So steht das Kreuz für beides: Es steht für die größte Gottesferne. Es steht für das, was Menschen einander antun, weil sie nur auf ihren eigenen Weg sehen. Es steht aber auch für die engste Nähe Gottes. Dort begegnet uns Gott, der uns in unserer Verzweiflung nicht allein lässt. Dort ist Gott den Verlierern ganz nah, so dass wir in ihm wieder Frieden finden können. Auch um unseretwillen ist Jesus ans Kreuz gegangen. So müssen wir in allem menschengemachten Leiden nicht verzweifeln. Es gibt schlimmes Leid, nach wie vor. Aber wir sind darin nicht uns selbst überlassen.

7 Jesus sucht uns auf, wo wir auf unserem eigenen Weg in die Irre gegangen sind. Dafür steht das Kreuz. Das ist das besondere am Kreuz: Hier leidet Gott. Das Kreuz zeigt uns, dass er mit uns mitleidet. Weil Gott am Kreuz hing, wissen wir, dass er mit leidet, auch mit den Verfolgten, selbst in den Vernichtungslagern. Gott hat sich auf die Seite der Verlierer gestellt. Wenn wir die Botschaft vom Kreuz ernst nehmen, dürfen wir keinen Verlierer mehr verachten. Den Wert eines Menschen können wir dann nicht länger nach seiner Position, nach seinem Auftreten oder seinem Aussehen bemessen. Wir müssen uns nicht mehr auf unseren eigenen Wegen verirren. Wir müssen nicht auf Biegen und Brechen Gewinner sein. Denn Gott selbst ist ein Verlierer geworden, um uns zu gewinnen. Amen