(Foto: Frank Zauritz) Am Abgrund erkennt man, was der Mensch wirklich ist
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- Tristan Berger
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1 (Foto: Frank Zauritz) Am Abgrund erkennt man, was der Mensch wirklich ist Nach dem ungeheuren Erfolg seines ersten Buches "Verbrechen" hat der Berliner Anwalt und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach nun ein weiteres geschrieben: "Schuld - Stories", das am 2. August erscheint. Er selbst sitzt in leichtem Anzug und Polohemd einem italienischen Restaurant und schreibt mit einem Füllfederhalter in ein kleines, ledergebundenes Notizbuch. v. Schirach haftet etwas vertrauenserweckend Altmodisches an was an seinen tadellosen Manieren liegen mag oder daran, dass er so selbstverständlich raucht, wie man das früher tat, bevor es zum gesellschaftlichen Unding wurde, oder seinem vergnügten Humor, der aus einer anderen Zeit stammt, vielleicht auch an seiner Physiognomie, die irgendwie an Willy Fritsch erinnert: Auf jeden Fall würde man ihm ohne zu zögern das eigene Leben in die Hände legen. Von Mandanten, die genau das getan haben, handelt auch sein zweites Buch. Wieder beschreibt er sehr nüchtern reale Kriminalfälle, an denen er als Anwalt beteiligt war, und beschreibt die Lebensgeschichten, die hinter den schrecklichen Morden, Vergewaltigungen, Missbrauchsfällen oder Drogendelikten stehen: Die Antwort auf das ewige "Warum" beschäftigt von Schirach dabei weniger als das beklemmende Gefühl der Schuld jenseits jeglicher "Strafe" oder "Bestrafung".
2 KvdL: Ihr neues Buch heißt Schuld. Sind Sie katholisch? FvSchirach: Nein, allerdings bin ich in einem katholischen Internat aufgewachsen. Da gab es anfangs noch nicht einmal Religionsunterricht für Protestanten wir waren, glaube ich, auch nur zwei Protestanten insgesamt. Bis dahin wuchsen Sie in Trossing im Schwarzwald auf. Das muss ein inspirierender Ort für Schriftsteller sein auch Gabi Hauptmann kommt daher, die sogar noch mehr Bücher als Sie verkauft. Gabi Hauptmann ist einer der lustigsten Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe. Ich habe sie erst auf der Buchmesse kennen gelernt, obwohl wir uns eigentlich schon als Kinder begegnet sein müßten. In unserer Familie wurden die runden Geburtstage immer auf gleiche Art gefeiert erst kam eine Bläsergruppe in blauen Anzügen und spielte, dann kamen die Jäger und schossen, und dann kamen die Reiter. Ich habe das gehasst, weil wir uns an diesem Tag immer ordentlich anziehen und den ganzen Tag auf dieser blöden Freitreppe stehen und Hände schütteln mussten. Gabi Hauptmann gehörte damals zu den Reitern und hasste es genauso, da hin reiten zu müssen. Feiern Sie Ihre Geburtstage auch so? Nein. Ich feiere meine Geburtstage überhaupt nicht. Ich finde das kindisch. Warum sind Sie Strafverteidiger geworden? Man kann es sich doch auch leichter machen, Sie hätten auch Scheidungsrecht oder Urheberrecht machen können. Alle anderen Rechtsgebiete außer dem Strafrecht sind viel weniger elementar, da geht es nur um Geld, das einer vom anderen bekommt, oder ob das Haus, wie in der Bauvorschrift vorgesehen, wirklich 76 Steckdosen hat oder nur 74. So wollte ich nicht mein Leben verbringen. Wie viele Mörder haben Sie denn pro Woche? Ich mache nur noch ganz wenige Verfahren, vielleicht zehn im Jahr. Diese großen, existenziellen Fälle gibt es ja nicht andauernd. Aus welchem Grund möchte man Schwerverbrecher verteidigen? Das ist die falsche Frage. Man wird Strafverteidiger aus einem ganzen Bündel an Gründen, unter anderem, weil man sich an den Rand der Existenz eines Menschen begibt das ist wie eine Klippe, an der sich Vieles entscheidet. In vielen anderen Berufen kommt man nie an solch existenzielle Grenzen. Mich hat gerade das immer interessiert. Der zweite Grund ist, dass man die Welt, mit der man da zu tun hat, mögen muss und ich mag Gerichte einfach gerne. Da riecht es wie in Schulen.
3 Das stimmt, und es gibt noch Aktenböcke und keine Paperdesks, und besondere Wachtmeister, die wichtige Akten schnell durchs Haus tragen, was dann trotzdem drei Tage dauert. Es gibt dort so eine Ernsthaftigkeit und eine Würde, die ich sehr mag. Und den Kampf ums Recht. Das ist eine tolle Herausforderung: Ein Heer von Staatsanwälten mit einer riesigen Behörde hinter sich, die alles machen können, und fünf Richter, die über das Schicksal deines Mandanten entscheiden können und du bist ganz allein, ringst um den Kopf deines Mandanten, und hast nur die Sprache und sonst nichts. Eines der wirklich ernsthaften Dinge, die es in dieser Welt noch gibt. Wenn Sie sich in Ihrem Beruf Gedanken machen würden über Moral, könnten Sie ihn dann noch ausüben? Moral ist keine Kategorie für Strafrecht. Wir richten nicht über Moral, wir richten über Schuld. Gibt es Schuld ohne Moral? Der Begriff Schuld der ja auch der Titel des Buches ist, ist viel umfassender als das, was wir im Gerichtssaal mit Schuld meinen. Im Gerichtssaal ist Schuld ganz einfach definiert dadurch, dass jemand persönlich vorwerfbar gegen ein Strafgesetz verstößt. Die Schuld im Alltäglichen ist viel umfassender: Man kann an Vielem schuldig werden, das strafrechtlich überhaupt nicht geahndet wird. Oder tierschutzrechtlich. In Ihrem Buch geht es immerzu um den Unterschied zwischen strafrechtlicher und moralischer Schuld. Was ist der Unterschied? Das ist unglaublich schwer zu definieren. Der Begriff der moralischen Schuld nicht der strafrechtlichen hängt mit dem zusammen, was wir als Kinder als Gut und Böse mitbekommen haben. Man kann das Böse nicht definieren. Können Sie Schwerverbrecher verteidigen, ohne Sie zu verurteilen? Ich urteile nicht über Menschen, ich finde das nicht richtig. Die Dinge sind so, wie sie sind. Um nach so einem Satz zu leben, müssen die meisten Leute zehn Jahre in ein Ashram. Sie dagegen sind einfach Strafverteidiger geworden. Das ist etwas, was man als Strafverteidiger lernt. Man schaut sich die Dinge an, man staunt. Das ist übrigens auch der Unterschied zwischen einem Richter und einem Strafverteidiger: Ein Richter ordnet die Welt durch Urteile. Er darf nicht staunen. Der Strafverteidiger dagegen darf sich die Dinge ansehen und erstaunt sein, dass sie so sind. Sie gehören zur Gemeinschaft der Menschen. Sind gerichtliche Urteile dann überhaupt richtig?
4 Wir müssen sie fällen, das hat mit richtig oder falsch nichts zu tun. Rechtsfrieden ist ein vernünftiger Ausgleich der Interessen in der Gesellschaft. Eine Gesellschaft lebt in Frieden, wenn alle Interessen in der Waage sind. Interessant ist: wenn man lange darüber nachdenkt, kommt man zu dem Ergebnis, dass Urteile im Einzelnen nicht immer richtig sein müssen, wichtiger ist, dass sie gefällt werden. Sie müssen nur einigermaßen gerecht sein. Wenn ein Mord nicht verurteilt, sondern ewig verhandelt würde, geriete die Gesellschaft in Unordnung. Ein Rechtsstaat geht nicht unter durch ein falsches Urteil, sondern dadurch, dass man nicht mehr urteilt. In Ihren Geschichten geht es eigentlich vor allem um das Warum hinter der Tat. Aber ist das Warum wirklich immer so wichtig? Tatsache ist doch: Der Mann ist tot, oder das Kind ist tot, oder die Frau vergewaltigt. So denken leider viele Leute. Im Mittelalter gab es deshalb die sogenannten Spiegelstrafen : Die Hand, die gestohlen hatte, wurde abgehackt. Das Warum interessierte nicht.. Dann kamen wir drauf, dass das irgendwie nicht richtig ist. Den Apfel kann er geklaut haben, weil er Hunger hatte, oder weil er gern Äpfel klaut, oder er hat den Apfel geklaut, weil der Mann, der ihn verkauft, ihn vorher dem anderen geklaut hat. Es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, warum einer einen Apfel klaut. Genau diese aber machen unser heutiges Strafsystem aus. Sie schreiben ausgesprochen nüchtern und schnörkellos, und doch hat man in Ihren Büchern das Gefühl, Sie würden mit Ihren Figuren leiden. Im Gericht würde man sagen: Das war noch keine Frage; die Frage ist: Stimmt das? Die Frage ist also: Leiden Sie mit Ihren Mandanten mit? Nein. Ich mag meine Figuren meistens ganz gern, und ich versuche die Geschichte zu beschreiben, die zu einer bestimmten Tat führte. Das Leid, dass Sie fühlen, entsteht dadurch in Ihrem Kopf. Ich leide nicht mit den Figuren oder meinen Mandanten. Ich verurteile sie nur nicht. Kann man sich als Anwalt Empathie überhaupt leisten? Als Anwalt muss man den Dingen distanziert gegenüber stehen, sonst kann man nicht ordentlich verteidigen. Anders geht es nicht. Ich mag das: Ich sitze viel lieber am Rand, in der letzten Reihe und schaue mir die Dinge an. Distanz als Lebensgefühl? Ja. Habe ich immer schon gehabt. Mir gefällt das. Ich sitze auch in der Kirche immer hinten. Weil Sie Angst vor zuviel Segen haben? Ja. Zu nah. Die meisten Dinge sind mir zu nah.
5 Ferdinand von Schirach: Schuld erscheint am 2. August bei Piper. 208 Seiten, 17,95 Euro
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