I Peripherie Lage am Rand
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- Paula Burgstaller
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2 I Peripherie Lage am Rand
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4 1 Peripherie eine negative Raumzuschreibung 1.1 NIEMAND WILL GERN PERIPHERIE SEIN Wittenberge, die frühere Industriestadt an der Elbe, in der strukturschwachen und dünn besiedelten Prignitz gelegen, auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg, Endstation des RE 2 aus Richtung Berlin. Hier standen einst das modernste Nähmaschinenwerk der Welt, eine Zellstofffabrik und eine große Ölmühle. Nach der Wende ging die Industrie, es kam der Niedergang. Die Stadt steht heute symbolisch für den Abstieg schrumpfender Städte, für Deindustrialisierung, Abwanderung, Hoffnungslosigkeit und Tristesse. Wittenberge wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt durch den Film Yella von Christian Petzold aus dem Jahr 2007, der die Abwanderung einer jungen Frau (gespielt von Nina Hoss) aus der durch Ruinen, Brachen und Hoffnungslosigkeit geprägten Stadt in den Westen schildert. In dem mit großer medialer Aufmerksamkeit verfolgten Wittenberge- Projekt haben 28 Soziologen und Ethnologen den Alltag in der Kleinstadt untersucht und in einem ZEIT-Magazin (Nr ) dokumentiert. Wittenberge ist überall. Überleben in schrumpfenden Regionen lautet ein Buchtitel (Willisch 2012), der die Stadt als paradigmatisch für schrumpfende Städte darstellt. In diesem Wittenberge führen wir im Rahmen einer ARL-Arbeitsgruppe im Oktober 2013 einen Workshop durch. Ort: der Technologiepark am Rand der Stadt, DDR-Ambiente. Thema: Wie kommt die Wissensgesellschaft in ländlich-periphere Regionen? Der Bürgermeister der Stadt hält ein Grußwort. Er freut sich über das Interesse der Forscher und äußert die
5 22 PERIPHERISIERUNG UND STADT Hoffnung, dass diese nicht negativ über die Stadt berichten. Dann weist er darauf hin, dass die Wittenberger ein Problem mit der Zuschreibung als Peripherie hätten. Aus der Sicht der lokalen Akteure sei die Stadt Wittenberge keine Peripherie, sondern Berlin und Hamburg seien peripher. Darauf stellt er den Gästen die Vorzüge der zentralen Lage zwischen den Metropolen Berlin und Hamburg heraus. Neben dem Bürgermeister steht ein Werbeplakat der Wirtschaftsförderung mit dem Titel Wittenberge beste Lage. Dieses kleine Beispiel zeigt: Niemand will gern Peripherie sein, denn Peripherie ist ein negativ konnotierter Raumbegriff. Im allgemeinen Sprachgebrauch meint Peripherie die Lage am Rand eines Raumes. Damit assoziieren wir meist einen abgelegenen Ort, sei es am Stadtrand, im Hinterland der Städte, in der ländlichen Provinz, an der Grenze eines Nationalstaates, auf einer einsamen Insel oder in einem unzugänglichen Berggebiet am Ende der Welt. Peripherie steht im Gegensatz zum Zentrum hier ist der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, hier spielt die Musik. Mit Peripherie assoziieren wir hingegen auch: Rückständigkeit, Abhängigkeit, Perspektivlosigkeit und Bedeutungslosigkeit. Der Gegensatz zum Zentrum, dem Mittelpunkt, um den sich alles dreht und die damit verbundenen negativen Konnotationen machen die Peripherie für die sozialwissenschaftliche Raumforschung so überaus interessant. Doch was berechtigt überhaupt zu einer negativen Zuschreibung als Peripherie? Wie kann man einen Gegensatz von Zentrum und Peripherie wissenschaftlich begründen? Wie gehen die Akteure mit der negativen Fremdzuschreibung als Peripherie durch die Zentren um? Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, gehen wir zunächst kurz auf den Begriff der Peripherie ein und skizzieren seine verschiedenen Bedeutungen in der sozialwissenschaftlichen Raumforschung. Wir werden sehen, welche Disziplinen diesen Begriff verwenden und mit welchen negativen Zuschreibungen diese arbeiten. 1.2 PERIPHERIE ALS BEGRIFF DER SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN RAUMFORSCHUNG Begriffsgeschichtlich stammt Peripherie aus der Mathematik der Antike und bezeichnete die Umfangslinie eines Kreises (griech. Periphéreia, lat. Peripherīa). Die Umfangslinie eines Kreises ist die Summe jener Punkte,
6 PERIPHERIE EINE NEGATIVE RAUMZUSCHREIBUNG 23 die einen gleichen Abstand zum Zentrum aufweisen. Das Adjektiv peripher (griech. peripherēs, spätlat. peripherēs) wurde im 16. Jahrhundert auch in der Weltraumphysik verwendet, um im heliozentrischen Weltbild des Nikolaus Kopernikus die Umlaufbahnen von Himmelskörpern im Sinne von umkreisend, sich herumdrehend zu beschreiben (Vogt 2009). Der Begriff Peripherie wird heute sowohl in den Sozial- und den Naturwissenschaften verwendet: unter anderem der Geographie, der Mathematik, den Politikwissenschaften, der Soziologie, Biologie, Computertechnik und Philosophie (de.wikipedia.org/wiki/peripherie vom ). Wir wollen uns in diesem Buch nur mit der Verwendung in der sozialwissenschaftlichen Raumforschung beschäftigen. Dazu zählen die Disziplinen Geographie, Geschichtswissenschaften, Ökonomie, Soziologie sowie Planungs- und Politikwissenschaften. Der Begriff der Peripherie wird von all diesen Kerndisziplinen verwendet, jedoch jeweils unterschiedlich interpretiert: In der Geographie wird der Begriff der Peripherie im klassischen Sinne einer Randlage verwendet. Peripherien werden als Randgebiete, Umkreis oder Umgebung definiert, die sich durch die geographische Distanz zu einem Zentrum, dem Mittelpunkt bestimmen lassen. Je weiter entfernt von einem Zentrum, desto peripherer die Lage. In der Zentrale-Orte-Theorie sind Peripherien Ergänzungsräume von Städten und weisen Bedeutungsdefizite auf (Christaller 1933). In den Geschichtswissenschaften wurde das Konzept der inneren Peripherie (Nolte 2001) entwickelt, um Regionen innerhalb Europas zu beschreiben, die durch die Fremdbestimmung einer staatlichen Zentralmacht gekennzeichnet sind. Das Konzept bezieht sich dabei auf historische Provinzen als den unterworfenen Teilen früherer Reiche und Imperien. In der Regionalökonomie und Wirtschaftsgeographie wird Peripherie verwendet, um die Wachstums- und Innovationsschwäche von Regionen zu erklären (Lasuén 1973). Dabei gehen Polarisationstheorien von einer Verstärkung der Disparitäten zwischen Zentren und Peripherien durch die Wanderung auf den Kapital- und Arbeitsmärkten aus (Krugman 1991). Wachstumspole entstehen durch die Agglomerationsvorteile von Städten. Dichte und Ballung fördern Innovationen, die eine weitere Ballung verstärken.
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