Fragestellung. Hintergrund: Morphologische Produktivität. produktive Prozesse und unproduktive Prozesse. Motivation: neue Wörter

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1 Fragestellung Hintergrund: Morphologische Produktivität Anke Lüdeling Wie entscheidet man, ob ein Muster produktiv ist? ja/nein Wie entscheidet man, wie produktiv ein Muster ist? Grade von Produktivität einige Folien sind in Zusammenarbeit mit Stefan Evert (Osnabrück) entstanden Motivation: neue Wörter Neue Wörter vom Neue Wörter vom Heute servieren wir Ihnen 25 neue Wörter: Heute servieren wir Ihnen 11 neue Wörter: Abschieberichtlinie, die Autobahnrauschhintergrund, der Antriebsgeißel, die Bundesunterlassungsgericht, das Aquariumswissenschaftler, der Bürokratiedistan, Eigenname Armutsaktivist, der Debitismus, der Asphaltpädagoge, der Entfernungstechnologie, die Besitzokratie, die Kioskprinzip, das Blitzerwarner, der Nacktrunner, der Bürgerkraftwerk, das polysportiv, Adjektiv Cybergauner, der Vollversorgungstarif, der Eliteversagen, das Wagenradtaktik, die Feelfact, das Zentralklausur, die Hipsterisierung, die mikroinvasiv, Adjektiv Nacktlauf, der Nacktsprint, der Ökoprogrammatik, die Releasetag, der Ringxiety, die rudelgucken, Verb Schneckenpostanlage, die schwülsteln, Verb Selbstverschleuderungsmaschine, die Unterwegstelefonierern, der Werbeumfeldprogramm, das Zuwandererhintergrund, der ( produktive Prozesse und unproduktive Prozesse produktive Prozesse produzieren im Prinzip unendlich viele Wörter unproduktive Prozesse produzieren endlich viele Wörter produktive Regeln und unproduktive Regeln Wie kann man die Produktivität einer Regel feststellen oder messen? morphologische Produktivtät ist eigentlich eine psycholinguistische Größe (es geht um die Wortbildungsprozesse im Kopf) sichtbar sind nur die Ergebnisse (Wortbildungsprodukte) die Wortbildungsprodukte können qualitative und quantitativ analysiert werden aus der Analyse der Wortbildungsprodukte können wir versuchen, die Wortbildungsprozesse zu rekonstruieren Produktivitätsgrade implizit werden in der Literatur oft Prodktivitätsgrade angenommen quasi-productive, marginally productive, semi-productive, fully productive, most productive, quite productive, immensely productive, very productive (Plag 1999, 12) 1

2 Produktivitätsgrade: Booij The degree of productivity of a WF-rule can be seen as inversely proportional to the amount of competence restrictions on that WF-rule. (Booij 1977,5) Wie kann man Restriktionen zählen? Sind alle Restriktionen gleich viel wert? Welches Verständnis von Produktivität hat Booij? Produktivitätsgrade: Aronoff There is a simple way to take such restrictions into account: we count up the number of words which we feel could occur as the output of a given WFR (which we can do by counting the number of possible bases for that rule), count up the number of actually occurring words formed by that rule, take a ratio of the two, and compare this with the same ratio for another WFR. In fact, by this method we could arrive at a simple index of productivity for every WFR: the ratio of possible to actual words. (Aronoff 1976, 36; WFR = word formation rule) Produktivitätsgrade: Aronoff Wie kann man mögliche Basen für einen Wortbildungsprozess zählen? Wie kann man die durch einen Wortbildungsprozess gebildeten tatsächlich vorkommenden Wörter zählen? Was sagt das Verhältnis von möglichen Wörtern zu tatsächlich vorkommenden Wörtern aus? Produktivität messen `Any measure of morphological productivity that is of linguistic interest [...] should provide a ranking of word-formation processes that is in general correspondence with a ranking based on linguistic intuitions [...] should express `the statistically determinable readiness with which an element enters into new combinations. [...] Taking into account those formations which are characterized by formally or semantically idiosyncratic properties should have the effect of lowering the value of the productivity measure. [...] should shed light on the empirical fact that productivity cannot be simply measured in terms of type frequencies. (Baayen 1992, 110f) Produktivität messen Daten alle Wortbildungsprodukte eines Sprechers? nicht verfügbar Wörterbuchdaten (alle unterschiedlichen Typen eines Prozesses) Korpusdaten 2

3 Produktivität messen: Wörterbuchdaten Wörterbücher enthalten keine neuen Wörter und nicht unbedingt die transparent gebildeten Wörter Wörterbücher enthalten manchmal veraltete Wörter die meisten Wörterbücher geben nicht an, wie alt ein Wort ist (Ausnahme z.b. Oxford English Dictionary) keine Häufigkeitszählungen Produktivität messen: Korpusdaten Häufigkeitsangaben vorhanden (Typ-Token-Verteilung) keine Angabe darüber, wie alt ein Wort ist Faktoren, die die Auswertung beeinflussen Korpuszusammensetzung Korpusgröße Korpusqualität Produktivität messen: Korpusdaten für einen gegebenen Wortbildungsprozess: zähle alle Typen im Korpus zähle, wie oft jeder Typ vorkommt (Typ-Token-Verteilung) nutze statistische Methoden Frequenzspektra Produktivitätsmaße Wortschatzwachstumskurven (Vocabulary Growth Curve, VGC) Produktivitätsmaße: Baayens P (nur eines unter vielen möglichen Maßen) P = V1/N V1: hapax legomena (Typen, die nur einmal vorkommen) N: Anzahl der durch diesen Prozess erzeugten Tokens zugrundeliegende Annahmen (für den mathematischen Hintergrund siehe Baayen 2001, hier wird nichts gerechnet): ein produktiver Prozess erzeugt unendlich viele Tokens ein Korpus ist immer endlich groß in einem Korpus können nie alle Typen gefunden werden, die der Prozess erzeugt hapax legomena zeigen, dass es weitere neue Typen geben kann je größer der Anteil der hapax legomen, desto produktiver ist der Prozess P predicts at what rate new types, types that are not represented in that sample, will appear when we decide to enlarge the sample. (Baayen&Lieber 1991, 811) Wortschatzwachstumskurven (VGCs) wir betrachten hier nur VGCs Kurve steigt: Prozess produktiv Kurve wird flach: Prozess unproduktiv 3

4 produktive vs. nicht produktive Prozesse Beispiele: einige deutsche Wortbildungsmuster aus Zeitungskorpus (Stuttgarter Zeitung), ca. 40 Millionen Tokens automatisch tokenisiert, lemmatisiert und mit Wortart annotiert gesucht mit dem Corpus Query Processor Vocabulary Growth Curves Beispiele und Einschätzung -chen (Häschen, Tischchen,...) produktiv -lein (Häslein, Tischlein,...) produktiv klein (Kleinstadt, Kleinwagen,...)??? -bar (lesbar, essbar,...) produktiv -ös (nervös, pompös,...) nicht produktiv -sam (einsam, sittsam,...) nicht produktiv -tum (Beamtentum, Reichtum,...) nicht produktiv Daten erheben Die Daten werden von CQP automatisch gezählt (Type-Token-Verteilung): gemeinsam langsam 4520 wirksam 2437 aufmerksam 2234 gleichsam 1793 seltsam 1427 mühsam 1426 einsam 1335 bedeutsam 976 gewaltsam 870 sparsam

5 Wortschatzwachstumskurven die VGCs für alle betrachteten Prozesse sehen produktiv aus das entspricht nicht unserer Intuition wir müssen die Daten genauer betrachten 5

6 Datenanalyse habe.aufmerksam 1 treugehorsam 1 human-einfühlsam 1 werden.kautionsauflösungs-gebührunwirksam 1 Yasam 1 sinnlos-gewaltsam 1 TV-wirksam 1 geschäftswirksam 1 alkoholwirksam 1 lobesam 1 grüsam 1 sällsam 1 arbeitsmarktbedeutsam 1 verlängerungsklauselunwirksam 1 gesetzesungehorsam 1 laaaangsam 1 Datenanalyse München Zeichen 4864 Mädchen 4193 Märchen 759 Knochen 656 Erreichen 587 Teilchen 484 Rauchen 471 Häuschen 195 Stückchen 186 Kaninchen 166 Provinzstädtchen 19 Kunststückchen 19 Datenanalyse graziös 44 maliziös 42 amourös 41 skrupulös 41 bös 40 wös 1 populär-pompös 1 erwünschtreligiös 1 radikal-religiös 1 fundamentalistisch-religiös 1 melodiös-kapriziös 1 aristokratisch-preziös 1 Datenanalyse: Datenprobleme Tippfehler (Fehler in den Daten selber) Vorverarbeitungsfehler Tokenisiserungsfehler habe.aufmerksam Lemmatisierungsfehler Erstechen, Ausbleichen, Jös, Rös,... Datenanalyse: Typen, die mit einer Zeichenfolge enden (beginnen), die aussieht wie die gesuchte, aber nicht durch den betrachteten Wortbildungsprozess abgeleitet sind Datenanalyse: (synchron) nicht transparente Bildungen Mädchen, Beffchen, Eichhörnchen, Ohrläppchen, Schnäppchen, Spirenzchen, Kinkerlitzchen Zeichen, Jochen, München, Erstechen, Groschen, Stachelrochen, bös 6

7 Datenanalyse: Struktur: (A(BC)): kein hapax legomenon für Prozess C ((AB)C): hapax legomenon für Prozess C Datenanalyse: Bildungen, die durch einen heute nicht mehr produktiven Prozess gebildet wurden dienstbar, jagdbar, fruchtbar, furchtbar Nachmittagsschläfchen, Schokokalenderchen, Koalitionspartnerchen, Erdmännchen, Topfpflänzchen,... Kreativität Datenanalyse: kinobetriebsam, alleinunterhaltsam, unkaputtbar Datenanalyse man braucht eine präzise Beschreibung des Prozesses, den man untersuchen möchte (wie z.b. die einzelnen -lich-muster) dazu braucht man ein Modell, in dem man eine solche Beschreibung formulieren kann (wie zum Beispiel ein algebraisches Regelsystem) die Daten müssen bezogen auf die vorliegende Beschreibung analysiert werden 7

8 manuell korrigierte Daten die VGCs sind kürzer die fehlerhaften Daten sind aus der Liste entfernt die Kurven entsprechen der Intuition: -ös und sam sind jetzt unproduktiv 8

9 Vergleich von VGCs für ähnliche Prozesse wie verhalten sich ähnliche Prozesse (konkurrierende Diminutivsuffixe etc.)? Zusammenfassung Produktivität diachron (was kann passieren?) quantitativ (Grade von Produktivität) Produktivität kann mit Korpusdaten modelliert werden; dies erfordert eine genaue Spezifikation des betrachteten Prozesses eine detaillierte Datenanalyse bezogen auf die Spezifikation Kenntnisse der statistischen Verfahren (eigentlich ist es komplizierter als hier dargestellt) Hintergrund unterschiedliche Fragestellungen erfordern unterschiedliche Daten es gibt Fragestellungen auch in der Morphologie, für die man authentische Daten auswerten muss Schnittstellen zur Psycholinguistik! References Baayen, R. Harald (2001) Word Frequency Distributions. Kluwer, Dordrecht Bauer, Laurie (2001) Morphological Productivity. Cambridge University Press, Cambridge Evert, Stefan & Lüdeling, Anke (2001) Measuring morphological productivity. Is automatic preprocessing sufficient? In: Proceedings of Corpus Linguistics 2002, Lancaster,