DOI /zrs ZRS 2012; 4:
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1 DOI /zrs ZRS 2012; 4: Johannes Schwitalla & Liisa Tiittula Mündlichkeit in literarischen Erzählungen. Sprach- und Dialoggestaltung in modernen deutschen und finnischen Romanen und deren Übersetzungen. Tübingen: Stauffenburg. 266 S. Wie das Wagnis der beiden AutorInnen zeigt, kann es spannend und anregend sein, als LinguistIn literarische Werke zu untersuchen. Die Darstellung von Mündlichkeit in Erzählungen ist eine Herausforderung für SchriftstellerInnen und insbesondere für deren ÜbersetzerInnen. Welche Möglichkeiten der Inszenierung von Mündlichkeit SchriftstellerInnen nutzen und welche Strategien ÜbersetzerInnen anwenden, um die je spezifischen Ausprägungen von Mündlichkeit in die Zielsprache zu transferieren, zeigen Johannes Schwitalla und Liisa Tiittula am Beispiel von sechs deutschen Romanen und deren Übersetzungen ins Finnische, fünf finnischen Romanen einschließlich deren Übertragungen ins Deutsche und an einem finnisch-schwedischen Roman, der sowohl ins Finnische, das dem Schwedischen gesellschaftlich-kulturell nahe steht, als auch ins sprachlich dem Schwedischen verwandte Deutsche übersetzt wurde. Beide AutorInnen haben sich viele Jahre mit der gesprochenen Sprache und dem Gespräch beschäftigt. So erklärt sich auch die dezidierte und linguistisch präzise Beschreibung der gesprochensprachlichen Phänomene. Das Buch lässt sich in drei Teile gliedern. Der erste Teil führt in die Absicht und Fragestellungen der Studie ein und expliziert Begrifflichkeiten wie Erzählerund Figurenrede. In diesem Teil geben die AutorInnen auch einen Einblick in die Mündlichkeits-Traditionen der Literatur des jeweiligen Landes (Deutschland und Finnland) und deren Veränderungen seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute. Auch die Einstellungen der beiden Länder zur Umgangssprache und zum Dialekt werden erläutert. Daneben behandeln die AutorInnen die besonderen Schwierigkeiten und Eigenheiten des Übersetzens von Dialogizität und Mündlichkeit in der Literatur mit Blick auf den kulturell möglicherweise unterschiedlichen Stellenwert von Mündlichkeit und Dialekt in der Literatur und in der jeweiligen Gesellschaft. Auch die Probleme, die beim Übersetzen mündlicher Formen in literarischen Texten auftreten, thematisieren Schwitalla und Tiittula. Interessant sind auch die Schwierigkeiten, die sich aufgrund der unterschiedlichen Sprachsysteme und Sprachgebrauchsnormen ergeben. So kennt das Finnische nur ein Genus und verwendet heute keine genusspezifischen Anredeformen wie Herr X oder Frau Y. Schwitalla und Tiittula weisen weiter darauf hin, dass Übersetzungen eines Originals ganz unterschiedlich ausfallen können. Ihre Umsetzung ist abhängig von den Zielen der ÜbersetzerInnen, den gesellschaftlichen Zwängen, in welchen diese stehen, und den jeweiligen Normen und Erwartungen der LeserInnen und Verlegerinnen.
2 Mündlichkeit in literarischen Erzählungen 247 Nach der kurzen Vorstellung des Korpus werden in einem zweiten Teil zunächst die sechs Romane der deutschen Autoren und deren Übersetzungen ins Finnische nach linguistischen Kategorien systematisch analysiert und verglichen. Dabei handelt es sich um die Werke von Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz (1929), Jurek Becker: Jakob der Lügner (1969), Jakob Arjouni: Happy birthday, Türke! (1987), Günter Grass: Unkenrufe (1992), Wolf Haas: Auferstehung der Toten (1996) und Ingo Schulze: Simple Storys (1998). Dem folgen im dritten Teil die finnischen Romane und deren Übertragungen ins Deutsche: Antii Hyry: Kotona (1960) mit der Übersetzung Daheim, Veijo Meri: Sujut (1961) die deutsche Übersetzung lautete zunächst Der Wortbruch, später originalgetreu Quitt, Lassi Sinkkonen: Solveigin laulu (1970)/dt. Solveigs Lied, Anna-Leena Härkönen: Häräntappoase (1984) übersetzt als Der traurige Skorpion, Rosa Liksom: Kreisland (1996) mit der deutschen Übersetzung Crazeland. Dem schließen sich der finnlandschwedische Roman Colorado Avenue von Lars Sund und seine zwei Übersetzungen an; der finnische Titel ist gleichlautend, im Deutschen heißt das Buch Der Kanisterkönig. Die AutorInnen analysieren Mündlichkeit und Dialogizität zunächst im jeweiligen Original, im Anschluss vergleichen sie die Übersetzung mit dem Original, wobei Rückübersetzungen die Unterschiede verdeutlichen. Fast alle Analysen erfolgen systematisch entlang der linguistischen Kategorien Phonetik/ Graphematik, Morphologie/Morphosyntax, Lexik/Phraseologie, Semantik, Syntax, Formulierungsverfahren und Dialogisches. Werden mehrere Mündlichkeitsformen bzw. -stile in einem Roman verwendet, greifen die AutorInnen exemplarisch verschiedene Passagen heraus und verdeutlichen im Vergleich die Variationsbreite von Mündlichkeit. Im Vergleich zu den finnischen Romanen zeigen sich in deutschen Romanen bis zu den 1970er Jahren weniger Berührungsängste bei der Verwendung von gesprochensprachlichen Formen im Mündlichen. Zugleich nutzen die deutschen Schriftsteller die verschiedenen Ebenen, die sich zur Darstellung der Mündlichkeit anbieten, recht variantenreich. Bereits Alfred Döblin greift für die Repräsentation verschiedener sozialer Stile auf phonetisch-graphematische und lexikalische Elemente zurück, um Anklänge des Berlinischen lebendig werden zu lassen. Zugleich verwendet er Standarddeutsch für das Sprechen der besseren Leute. Für Döblin am hervorstechendsten ist die Verwendung der syntaktischen Verkürzung. Der Übersetzer nutzt umgangssprachliche Elemente sowie die Stadtsprache von Helsinki als Pendant für das Berlinische. Insgesamt aber ist der Stil in der Übersetzung deutlich stärker schriftsprachlich orientiert, was für die meisten anderen Übersetzungen gleichfalls gilt. Zugleich zeigt sich, dass der Übersetzer die Gesprochensprachlichkeiten des Originals nicht ein-
3 248 Carmen Spiegel fach mit Mitteln derselben Ebene übersetzt hat, sondern nach dem entsprechenden gesprochensprachlichen Klang gesucht hat (S. 68). Obwohl deutlich später erschienen, ist die Mündlichkeit in Jurek Beckers Jakob der Lügner nicht so dicht wie im Roman von Döblin und sie wird fast ausschließlich mit alltagssprachlicher Lexik und kurzen Sätzen dargestellt. Ein wichtiges Stilmittel liegt in den individuellen sprachlichen Handlungen, die die Figuren charakterisieren. Die Übersetzung ist deutlich stärker schriftsprachlich orientiert, sie verwendet nur gelegentlich umgangssprachliche Lexik. Variationen des Ausgangstextes werden reduziert, indem z. B. Wiederholungen und andere sprachliche Handlungen nicht oder nur verkürzt wiedergegeben werden. Ähnlich nutzt der Kriminalautor Jakob Arjouni in Happy birthday, Türke! in erster Linie die Lexik (saloppe Wortwahl) und spezifische sprachliche Handlungen, um verschiedene Mündlichkeitsstile zu erzeugen; hinzu kommen eine häufig sarkastische Modalität sowie die Verwendung von Foreigner-Talk. Obwohl auch diese Übersetzung insgesamt stärker schriftsprachlich ausfällt, nutzt die Übersetzerin alle sprachlichen Ebenen, um Gesprochensprachliches darzustellen. Die translatorische Herausforderung des Romans Unkenrufe von Günter Grass besteht einerseits in dem Danziger Landdialekt der Kaschubin E. Brakup und dem Xenolekt der deutsch sprechenden Polin A. Piatkowska. Diese scheint die Übersetzerin bravourös gemeistert zu haben, indem sie die sprachliche Variation genau wiedergegeben hat, aber mit anderen, landessprachtypischen Mitteln. Sie nutzt zum einen einen altertümlichen Regionaldialekt, durchsetzt mit finnischen Redewendungen, zum anderen die typischen Elemente des Sprechens einer Zweitsprachensprecherin des Finnischen. Der Österreicher Wolf Haas bedient sich in seinem Kriminalroman versiert, variantenreich und konsequent gesprochensprachlicher Elemente auf allen Ebenen. Daraus wird in der Übersetzung eine Mischung aus mündlich stilisierter Erzählung und geschriebensprachlichen Formulierungen (S. 133). So sind zwar typische Formulierungen des Originals beibehalten worden, insgesamt dominiert aber der Eindruck eines geschriebensprachlich formulierenden Erzählers. Ingo Schulze geht bei der Darstellung des Mündlichen noch weiter. Er greift auf die Bereiche Lexik, Syntax und Formulierungsverfahren zurück und präsentiert die für das Gesprochene typischen Abbrüche, Unterbrechungen und Anreden in einem stärkeren Maß als die gesprochene Sprache selbst; so ist z. B. die extreme Kürze der Sätze auffällig. Ohne den visuellen Raum des Gesprächs sind deiktische räumliche Verweise kontextlos und schwer verständlich. Obwohl die finnische Übersetzung dem Original auf lexikalischer und syntaktischer Ebene treu ist, wurden die gesprochensprachlichen Merkmale nicht übernommen, die Erzählebenen stilistisch nicht unterschieden. Allein das Sprechen eines Betrunkenen wird gesprochensprachlich markiert. Übernommen wurden die vielen An-
4 Mündlichkeit in literarischen Erzählungen 249 reden; da sie im Finnischen aber nicht gebräuchlich sind, entsteht für finnische LeserInnen der Eindruck von Fremdheit. Die Analysen der finnischen Romane entsprechen dem Muster der deutschen Romane. Sie sind auch für die, die des Finnischen nicht mächtig sind, dank der beigefügten Übersetzungen grosso modo nachvollziehbar. Antti Hyry hat in seinem Roman Kotona als einer der ersten gesprochensprachliche Mittel verwendet. Er beschränkt sich allerdings auf wenige Ebenen (Syntax, Lexik) und verwendet sie zur Herstellung von Dialogizität. Der Übersetzer hat die Strategie verwendet, sich formal streng an das Original zu halten mit der Folge, dass die Übersetzung für deutsche LeserInnen verfremdend und stärker schriftsprachlich wirkt. Zugleich wurden ganze Passagen ausgelassen. So fehlt z. B. ein Kinderreim. Gegenstand des Romans Sujut von Vejo Meri ist das Schicksal eines Deserteurs im zweiten Weltkrieg. Meri verwendet zur Darstellung verschiedener funktionaler und regionaler Varietäten wie öffentliche Reden, Standardsprache oder Dialekt syntaktische, lexikalische und formulatorische gesprochensprachliche Mittel, allerdings recht sparsam. Der Übersetzer hält sich bezüglich Lexik und Syntax zwar streng an die Vorlage, nutzt aber nicht wie diese Sprechstilvariationen (Dialekt, Fluchwörter etc.) zur Unterscheidung sozialer Gruppen. Gelegentlich gelingt es ihm, den für Meri typischen Rhythmus im Deutschen wiederzugeben. Ein Arbeiterroman ist Solveigin laulu von Lassi Sinkkonen. Zur Zeichnung der sozialen Gruppen verwendet Sinkkonen eine Stadtsprachenvarietät (Helsinki) und Standardsprache, gelegentlich eine grobe Sprechweise und gehobene Sprache sowie einen Xenolekt (finnisch sprechender Schwede), wobei er neben lexikalischen und syntaktischen auch phonetische und morphologische Möglichkeiten nutzt. Interessant ist, dass die Übersetzung in der DDR erschienen ist und gegenüber dem Original kleine, wohl politisch motivierte Auslassungen enthält. Die breite Stilvarianz des Originals wird kaum übernommen, es fehlt der Xenolekt. Inhaltlich wird wiederholt expliziert und damit das Original erweitert. Insgesamt ist die Übersetzung deutlich schriftsprachlicher. Ebenfalls in der DDR erschienen ist der Erstlingsroman von Anna-Leena Härkönen, Härantappoase. Das finnische Original ist ein insgesamt sprachlich variantenreicher (Stadtsprachen- und andere Dialekte, Standard- und Jugendsprache) Erwachsenenroman, der über die Verwendung gesprochensprachlicher Elemente hinaus kreative Stilmerkmale einsetzt wie die Zusammenschreibung verschiedener Ausdrücke ( Stechenbrennendürstenschmerzenweinenlachen, S. 201) Daraus wurde in der DDR ein Jugendroman mit Illustrationen, deutlichen stilistischen Glättungen und starker Standardisierung. Stellen, die als politisch interpretiert werden konnten, wurden vom Verleger gestrichen.
5 250 Carmen Spiegel Die Schriftstellerin Rosa Liksom verwendet in ihrem Roman Kreisland den nordfinnischen Dialekt, den sie auf allen sprachlichen Ebenen realisiert. Figurenvariation stilisiert sie mit syntaktischen Mitteln. Ihr Roman gilt aufgrund des Dialekts als schwer übersetzbar. Um Ton und Atmosphäre des Romans wiederzugeben, hat der Übersetzer auf andere Mittel zurückgegriffen und sich für eine süddeutsche Varietät mitsamt ihren syntaktischen, lexikalischen und morphematischen Eigenheiten entschieden. Trotzdem scheint die Übersetzung normgerechter als das Original zu sein mit der Folge, dass sich der Fokus stärker auf Inhalt und Komik der Darstellung verschiebt. Dem schwedischen Roman Colorado Avenue von Lars Sund wurden die beiden Übersetzungen ins Finnische und ins Deutsche gegenübergestellt. Interessant ist, dass im Finnischen die englischen Passagen des Originals übernommen wurden, wohingegen sie in der deutschen Übersetzung gleichfalls übersetzt wurden. Auch hat der im Original verwendete Dialekt eine finnische Entsprechung, nicht aber in der deutschen Übersetzung, die die Standardsprache bevorzugt. Im Original finden sich weitere Textsorten, deren typografische Elemente für die finnische, nicht aber für die deutsche Version kopiert wurden. So wird ein Filmskript in die Form des Dramas transformiert. Gerade der Vergleich der beiden Übersetzungen macht die Wahlmöglichkeiten der Übersetzer und deren Folgen für die LeserInnen deutlich. Schwitalla und Tiittula breiten das gesamte Spektrum der Möglichkeiten, Mündlichkeit in der Literatur darzustellen, aus. Sie zeigen deren Potenzial, deren Rolle für die literarische Gestaltung eines Romans entlang der Analysen der Werke und deren Wirkung. Zugleich werden Verantwortung, Schwierigkeiten und auch die Chancen der ÜbersetzerInnen deutlich, wenn es darum geht, adäquate Möglichkeiten einer werkgetreuen Translation zu finden und die Vielschichtigkeit, die in der Vielfalt der Stimmen liegen kann, in der Zielsprache und Zielkultur zu erhalten. Auch wenn die Analysen der AutorInnen wiederholt sehr ins Detail gehen, ist das Buch nicht nur für KollegInnen der Translationswissenschaft ein Gewinn, sondern für alle, die sich für Kultur und Sprache interessieren. Carmen Spiegel: Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Institut für deutsche Sprache und Literatur, Bismarckstr. 10, D Karlsruhe,
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