Todeskonzepte und Todespolitik Umgang mit dem Tod in der modernen Medizin
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- Gitta Gerstle
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1 Todeskonzepte und Todespolitik Umgang mit dem Tod in der modernen Medizin Andreas Zieger Der besondere Abend Evangelische Stiftung Ambulanter Hospizdienst 10. Oktober 2012 Die Menschen rechnen mit der Unsterblichkeit und vergessen ganz, mit dem Tod zu rechnen. Milan Kundera Es sind die Lebenden, die den Toten die Augen schließen. Es sind die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen. Slawisches Sprichwort Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden! Psalm 90 1
2 Übersicht I Existenzielle Grundlagen II Medizin im Zeitalter der Biomacht III Todeskonzepte, aktuelle Entwicklungen und Todespolitik IV Ausblick aktuelle Situation I Existenzielle Grundlagen Anfang und Ende Geburt und Sterben Werden, Altern und Vergehen Leben und Tod Diesseits und Jenseits Der einzelne Mensch ist Subjekt von Sterben und Tod als Erfüllung des Lebens Angst vor Schmerzen und Abhängigkeit Todesfurcht, Verdrängung des Todes Abwehr von Todesgefahren durch Schutz der Gemeinschaft, Technik und Medizin 2
3 Tod als kulturelle Vereinbarung Religiöse Einstellungen Kultureller Hintergrund, Zeitgeist Wissenschaftliches Verständnis Menschenbild, Leib-Seele-Verhältnis Stand der Technikentwicklung/Medizin Ökonomische Verhältnisse Herrschafts- und Machtverhältnisse Gesellschaftspolitische Ordnung/Souverän (Agamben 2002, 2004) Tod im Alter Natürlicher Alterstod Tod im hohen Alter nach einem gelebten Leben Reife Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben im Angesicht des herannahenden Todes Prägt Todesverständnis der Nachkommen Verfrühter plötzlicher Tod im Alter Unerwartet, noch nicht des Lebens satt Schwere Krankheit im Alter Verleugnung der Sterblichkeit kaum mehr möglich - Todesfurcht Einstellung auf das Lebensende, letzte Dinge regeln 3
4 Ambivalenz der Moderne Kaufman 2004 Einerseits: Kampf gegen Altern, Alterskrankheiten und Tod für mehr Lebenszeit (Lebensgewinn, added time ) Anderseits: Kampf angesichts einer tödlichen Erkrankung für ein möglichst aufgefülltes Leben in der noch verbleibenden Lebenszeit ( left time ) Unreifer Umgang mit der Endlichkeit: Verdrängung von Sterben und Tod Sehnsucht nach Unsterblichkeit Lebensende (nach Borasio 2011) Todesform Plötzlich, unerwartet, in Sek. Mittelschnell, 2-3 J. durch schwere Krankheit, Krebs Langsam, 8-10 J. Demenz Wunsch % nur vereinzelt Wirklichkeit % <
5 Sterbeort Krankenhaus Zu Hause Wunsch % > 90 Wirklichkeit % Heim Hospiz Palliativstation Andere Orte (steigend) Todesanzeige vom Aus dem Leben bist Du zwar geschieden, aber nicht aus unseren Herzen, denn in unserer Liebe lebst Du fort. 5
6 II Moderne Medizin Seit Mitte des 19. Jhdts: Abschaffung des Philosophikums durch den Preußischen Landtag (Virchow) Schwur der Physikalisten : Medizin wird naturwissenschaftlich, oder sie wird nicht sein! Biotechnische Medizin/Biomedizin Vertreibung alles Subjektiven/Seelischen Experimente mit Körpern/Organen (Objekt) Biotechnische Entwicklungen in der modernen Medizin (seit ca. 1950): Reanimation, Beatmung, Narkose, Chirurgie, Anästhesie, Intensivmedizin, Pharmaka, chirurgische Verfahren, Diagnosetechniken Kampf ums Überleben und Kuration: Körper/Organe funktionstüchtig machen, reparieren, manipulieren, experimentieren und verfügbar machen Leben machen, Sterben nicht mehr (zu)lassen, den Tod bekämpfen ( Biopolitik ) (Foucault 1976) Umgang mit schwerer Behinderung/Krankheit? 6
7 im Zeitalter der Biomacht Eine Macht, die den Körper und das Leben vereinnahmt. (Foucault 1975/1999, 293) Die sorgfältige Verwaltung des Körpers und die verrechnende Planung des Lebens. (Foucault 1976, 166) Dimensionen des Lebens wie Geburt, Fruchtbarkeit, Alter, Krankheit, Sterben und Tod werden zu Faktoren einer gesundheitsökonomischen Steuerung. (Gehring 2006) Adäquates Menschenbild Es gibt nicht ein Menschenbild in der Medizin, sondern mehrere (Maio 2008): 1. Mechanistisches Menschenbild 2. Mensch als souveränes Wesen 3. Mensch als Einzelwesen 4. Der gemachte/machbare Mensch 5. Der verletzliche/angewiesene Mensch Leibbezogenheit von Person, Beziehung und Bewusstsein (Fuchs 2008) 7
8 Ethik des Lebendigen List 2009 Dimensionen des Lebendigseins des Menschen Leiblichkeit Selbstorganisation Resonanz und Synchronizität Plastizität Potenzialität Widerständigkeit und Subversivität Autonomie (z.b. Herz-Hirn-Beziehung) Relative Autonomie des Herzens Das Gehirn braucht das Herz mit einem Blutkreislauf/Zirkulation (z.b. Reanimation) Schrittmacherfunktion, Pumpe Fähigkeit des Herzens zur spontanen Selbstwiederbelebung bis zu 20 Minuten nach Herzstillstand! Das Herz braucht das Gehirn nicht! Dissoziation zwischen Hirn und Herz: Grundlage für das Hirntodkonzept! 8
9 III Todeskonzepte Altes Herztodkonzept (seit 2000 J.) Scheintod als Problem unsicherer Grenze zwischen Lebendig sein und Tot sein Entwicklung technischer Hilfen für Scheintote (z.b. Klingelglocke aus dem Sarg) Einführung sicherer Todeszeichen: erloschener Herzschlag, erloschene Atmung, Blässe, Totenflecken, Leichenstarre... Todesfeststellung durch den Arzt!... und neuere Entwicklungen TPG 1997: Etablierung des Hirntod-Konzepts in D Tote-Spender-Regel als Grundlage Seit 1960/2007 in der Diskussion: Neues Herztod-Konzept Non-Heart-Beating-Organ-Donation (NHBOD) Abkehr von der Tote-Spender-Regel Dead Donor Rule (DDR) 9
10 Voraussetzungen für Hirntod-Konzept Um 1900 Entdeckung des Weiterschlagen des Herzens nach Atemstillstand durch Hirnversagen Dissoziierter Tod bis 1960 Coma dépassé als Ultrakoma oder irreversibles Koma (Molaret & Guillon 1959) Erlöschen der EEG-Aktivität bei Hirnversagen Nachweis des Hirnkreislaufstillstandes durch Hirngefäßdarstellung (Angiographie) Anästhesie/Beatmungstechnik/Intensivstation Anfänge der Transplantationsmedizin Forschritte der Chirurgie, Anästhesie und Operationstechnik, Immunsuppression: Tierexperimentelle Hinweise / Versuche 1950 erste Nierentransplantation 1967 erste Herztransplantation 1968 Ad Hoc Committee on Brain Death Transplantationsmedizin und Hirntodkonzept und wurden erst in den 60er J. verknüpft! (Machado et al 2007) 10
11 1968 Einführung des Hirntodes : Adhoc-Kommission der Harvard Medical School: Theologen, Juristen und Mediziner Unser primäres Anliegen ist, das irreversible Koma (Coma dépassé) als neues Todeskriterium zu definieren... Hirntod = Point of no return, Zeitpunkt der Unumkehrbarkeit im Sterben (Irreversibilität) Hirntod-Definition und Hirntodkonzept Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktion des gesamten Gehirns innerhalb des Schädels bei einem durch kontrollierte Beatmung aufrechterhaltenen Herz-Kreislauf (Durchblutung der Organe). Der Hirntod ist der Tod des Menschen Tote-Spender-Regel (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer vom 1982,1991,1997/1998; Grundlage für das TPG 1997) 11
12 Hirntod-Syndrom Auftreten bestimmter Todeszeichen im Sterbeprozess einer Person Tiefstes Koma Erloschensein der Hirnstammreflexe Atemstillstand (Apnoe-Test) Nulllinie im EEG... bei gleichzeitig existenten Lebenszeichen: Atembewegungen (Beatmung) Herzschlag, Blutdruck warme rosige Haut, Schwitzen, Ausscheidungen... Lebenszeichen bei chronisch Hirntoten Autonome Funktionen: Reguläre Darmfunktionen Hormonproduktion (Hirnanhangsdrüse) Haar-, Nägel- und Körperwachstum Kinder entwickeln Zeichen von Pubertät Schwangerschaft und Geburten Bei äußeren Reizen (30-70%): Aufrichten, Ausstoßen gurgelnder Laute Bewegungen der Arme (Lazaruszeichen) Schreitbewegungen der Beine 12
13 Armbewegungen eines Hirntoten Turmel et al 1991 Begründung für das Hirntodkonzept Das Gehirn integriert und steuert alle Lebensvorgänge des Organismus Hirntod = Zusammenbruch aller Lebensvorgänge Hirntod = Zeitpunkt der Unumkehrbarkeit im Absterbeprozess Intensivmedizinische Weiterversorgung Gewinnung lebensfrischer Organe Das Dilemma des Hirntodkonzepts 13
14 Wissenschaftliche Widerlegung Das Gehirn integriert und steuert nicht alle Lebensvorgänge im Organismus (Shewmon 1999/2007, Verheijde et al 1999, Müller 2010) Neuroendokrine Funktionen, Wachstum Vegetative Schmerzreaktionen bleiben erhalten (Narkose!) Restfunktion von Neuronen im Hirnstamm! Obduktionsergebnisse: viele Hirnzonen nicht abgestorben! Anerkennung der Kritik durch Ethikrat des US- Präsidenten (2008) und durch den Papst Aktuell: Paradigmawandel Neues Herztod -Konzept (Non-Heart-Beating-Organ-Donation) Martina Keller in GEO (2/2011): Volle Reanimation nach Unfall/Herzattacke Reanimationspause in der Klinik: Herzstillstand (EKG- Nulllinie) von 2 bis 5 Minuten, dann Entscheidung der Ärzte zur Explantation und Reanimation bis zum Anschluss des Patienten an die Herzlungenmaschine Innerhalb von Stunden: vom Unfallopfer zum Reanimationsbedürftigen zum Explantierten Zeit für Sterben in Würde? Was für ein Tod? 14
15 Konsequenzen Dauer der Nulllinie im EKG = neues Kriterium für Zeitpunkt der Einleitung Organentnahme Verzicht auf (Hirn-)Todfeststellung Verlassen der Tote-Spender-Regel Reanimation ( Wiederbelebung ) nur noch zur Aufrechterhaltung eines intakten Herzkreislaufes: lebensfrische Organe Organspende? Gebot von Organmangel (Nützlichkeit)? Seit 2005 in Ländern mit Widerspruchslösung praktiziert: A, B, ES, NL, in Teilen der USA Aktuelles Gesetzänderungsverfahren in D: Erklärungsregelung? Widerspruchlösung? Informierte Zustimmung: eng, erweitert? Recht auf Nicht-Erklärung/-Zustimmung? Persönliche Zustimmung/Ablehnung über eine solche Organentnahme! Votum für enge Zustimmungsregelung 15
16 IV Ausblick - aktuelle Entwicklungen In unserer modernen und alternden Gesellschaft, die an Organmangel leidet (?), bestehen mehrere Todeskonzepte! Es gibt nicht nur einen Tod: Der Tod, der mich ins Jenseits führt, ist ein anderer als der Tod, der erlaubt, meine Organe zu entnehmen. (Wiesemann 2006) (1) Altes (Herz-)Tod-Konzept Für Kranke und Sterbliche, die ohne Organentnahme ins Jenseits eingehen wollen: Bewusste palliative und hospizliche Hinwendung und Begleitung von Schwerkranken, Schwachen und Sterbenden. Symptomlinderung, Schmerzfreiheit... Ermöglichung eines Sterbens in Würde ohne technische oder invasive Eingriffe Ethik des lebendigen Seins (List 2009) 16
17 (2) Neues Herz-Tod-Konzept Bei Schwerstkranken und Sterbenden zum Zwecke der (gewerblichen) Explantation: Verlassen der Tode-Spender-Regel Nulllinien-EKG als Entnahmezeitpunkt Aktuelle Grenzverschiebungen: Präfinale Organentnahme bei Wachkoma-, Demenz- und Krebskranken? (Schöne-Seifert 2011) Ärztliche Assistenz (beim Suizid, Töten)? Rechtsgrundlage: Informierte Zustimmung? Bemächtigung von Sterben und Tod? Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz (tritt am in Kraft) Kritik von Maio (6/2012): Öffentliche Debatte in einseitiger Weise geführt worden: Es geht nicht nur um mehr Organe beschaffen. Der Tod wird nicht als Folge einer schweren Erkrankung, sondern nur noch als Folge einer zu niedrigen Spendenbereitschaft begriffen. Todesdefinition wird der praktischen Notwendigkeit untergeordnet. Von der Gabe zur Bürgerpflicht? 17
18 Aktuell zwei (öffentliche) Diskursstränge (1) Reaktionen auf den Organspendeskandal (Göttingen, Regensburg, München...) Aufklärung Anreizsystem? Bestechlichkeit Bevorzugung mit Todesfolgen? Rolle der Selbstverwaltung? Politische Kontrolle? Konsequenzen AOK: Versandstopp von 24 Mio. Briefe an die Versicherten mit Informationen über Organspende (neues Gesetz) Rückgang der Spendebereitschaft... Bekämpfung von Image-/Vertrauensverlust Offener Brief der MHH zur Transplantationsmedizin (9/12) Offener Brief eines Mitbürgers an einen Anwalt vom : Sehr geehrter Herr Dr. RA, ich bin heute im Internet auf Ihr ausgezeichnetes Merkblatt "aufgeklärte (!) Organspende" gestoßen. Ich bin sehr froh, etwas zu lesen, das sehr genau meinen Standpunkt widerspiegelt. Ich muss dazu sagen, dass ich Betroffener, bin, seit... Jahren dialysepflichtig, davon... Jahre auf der Transplantationsliste. Dann bin ich durch den Artikel von Sabine Müller auf die Wirklichkeit gestoßen worden und habe mich daraufhin auf der Liste "passiv" gemeldet. Der Gedanke, dass ich von einem arglistig getäuschten Menschen ein Organ bekommen könnte, ist völlig unerträglich.... auch die Empfänger werden getäuscht. Die Ärzte erklären uns, dass wir entweder (vorzugsweise) eine Lebendspende bekommen können, oder aber auf eine "Leichenspende" warten sollen. "Leiche", auch hier wieder diese Täuschung! Man kann auch 30 Jahre oder länger Dialyse machen! Zugeben muss ich, dass ich nicht sicher wäre, ob ich auch so denken könnte, wenn ich eine Krankheit hätte, für die es eben keine Ersatztherapie gäbe. Herzliche Grüße... 18
19 (2) Hirntot bei Herztod? In Deutschland ist die Organentnahme bisher Gerd Altmann, Pixelio nur nach festgestelltem Hirntod erlaubt. Es gibt zu wenig Organspender, die Wartelisten sind lang. Warum sollten wir es nicht den Nachbarländern gleich tun und auch den Herztod einführen? 1985 Studie, dass 50% der Patienten, die zwischen 5-20 Min. nach dem Herzstillstand reanimiert wurden, mit voller Hirnfunktion erwachten! New England Journal Medicine : Bei Herzen, die 3 Babies mit Herzstillstand entnommen, warteten die Ärzte 3 Min. bis zur Entnahme bzw. nur noch jeweils 75 Sek.! Bereits 2011 forderte die Deutsche Transplantations- Gesellschaft (DTG) vom Gesundheitsministerium die Debatte über Herztod-Entnahme: Schreiben an Bundesministerium für Gesundheit vom 6. Mai 2011 Seite 2: 19
20 Der Tod ist der große Unbekannte. Gerne verdrängt, vielfach besungen, meistens gefürchtet, manchmal herbei gesehnt Er ist unser düsterer Schatten, der sich nicht abschütteln lässt 2010 Meine Hoffnung ist vielmehr, dass wir begreifen, wie kostbar jeder Moment ist und wie tröstlich unser Miteinander, wenn wir unserer Endlichkeit, unserer kurzen Zeit im Licht, wirklich ins Auge sehen.«20
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