Mosaik / Passagen Sendedatum: Titel: Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manischdepressiven

Transkript

1 Der Roman als Kaleidoskop und Enzyklopädie - Frank Witzels verfasst ein Mammutwerk über den langen Schatten der BRD. Internettext/Anmoderation 25 Jahre Deutsche Einheit galt es in diesem Jahr zu feiern. Ein Jubiläum, bei dem vielfach das Ende der DDR im Mittelpunkt stand. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn auch die BRD, das alte Westdeutschland, hörte 1990 auf zu existieren. Der Autor und Musiker Frank Witzel, Jahrgang 55, hat diesem anderen verlorenen Land nun ein Konzeptalbum gewidmet, das, wäre es tatsächlich in musikalischer Form erschienen, mindestens als Vierfach-Vinyl auf den Markt gekommen wäre. Nicht nur vom Umfang her ein opus magnum, das dem bisherigen Geheimtipp nach mehreren kürzeren Romanen den Durchbruch beschert hat. " " lautet der Titel dieses einzigartigen Werkes. Thorsten Krämer hat das Buch für uns gelesen. 1

2 Beitrag Der Bandwurmtitel dieses Romans ist Programm. Frank Witzel spielt mit offenen Karten, und kein Leser darf sagen, er wäre nicht gewarnt worden. Was ist also die Geschichte dieses 800-Seiten-Romans? Sie ist, und das darf schon mal als erste Überraschung des Buches gelten, erstaunlich überschaubar. Es geht darum, wie der jugendliche Leichtsinn eines Teenagers dessen Leben auf lange Zeit hin verändert; die Handlung dreht sich um einen einzigen Sommer, der auf eigentümliche Weise noch immer anhält. Dieses Verhältnis zur Zeit ist entscheidend für den Roman, denn an dieser Stelle wird deutlich, warum der Autor eine solche Menge an Text benötigt, um seine Geschichte zu erzählen. 2

3 Zitat 1 (Sprecher 1) Mir fällt auf, dass ich Zukunft und Vergangenheit gar nicht vor und hinter mir sehe, sondern mich selbst von oben in der Mitte wie eine Mensch-ärgere-dichnicht-Figur auf einem Spielbrett. Aber wenn ich selbst es bin, der da unten steht, wer sieht dann auf mich herab? Und wenn ich es bin, der herabsieht, wer steht dann dort unten? 3

4 Beitrag Bisschen abstrakt das Ganze? Keineswegs. Denn so, wie der Autor in seine zeitphilosophischen Überlegungen ein schnödes Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel einschleust, so ist das ganze Buch von einem Zug zum Konkreten geprägt. Der Roman fächert ein geradezu komplettes Inventar der dinglichen Welt auf, die das alte Westdeutschland prägte: angefangen von den Zigarettenmarken wie Reval, Ernte 23 und HB bis hin zu den beiden erbitterten Konkurrenten auf dem Modelleisenbahnmarkt, Fleischmann und Märklin. Dabei leistet sich Witzel den charmanten Kalauer, die elektrischen Eisenbahnen zu personalisieren: Dr. Märklin und Pfarrer Fleischmann sind die beiden Menschen, die von Staats wegen um die geistige Gesundheit und das Seelenheil des Protagonisten kämpfen. Denn dieser landet, hier kommt das Manisch-Depressive aus dem Titel ins Spiel, schon recht bald im Sanatorium. Es gibt genug, was den sensiblen Teenager in Bedrängnis bringt: die Verwirrungen der erwachenden Sexualität, die miefige Welt der Erwachsenen mit ihren schlecht gehüteten dunklen Geheimnissen und nicht zuletzt die Abgründe des ländlichen Katholizismus. Der eigentliche Auslöser für den Klinikaufenthalt ist aber eine im Grunde recht harmlose Begeisterung für das revolutionäre Potenzial des Linksextremismus. 4

5 Zitat 2 (Sprecher 1) Und dann eben erschien die RAF. Der Teenager hätte sie sich nicht ausdenken können, und dennoch hat er sie erfunden. Dass man nach ihnen fahndete und ihre Bilder auf Plakaten zeigte, interpretierte der Teenager als Zeichen von Gemeinsamkeit. Wie er hatten sie an der Tafel gestanden, ohne ein Wort sagen zu können. Beitrag Similia similibus curentur - Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden. Das Ähnlichkeitsprinzip der Homoöpathie wird im Buch nicht nur wörtlich zitiert, es stellt auch das wichtigste Kompositionsverfahren dieses komplexen Werkes da. Der Indianerhäuptling Winnetou fällt als Erlöserfigur in eins mit Jesus; eine Wasserpistole wird zum Bindeglied zwischen Teenagern und Terroristen; immer wieder überkreuzen sich auf diese Weise private und historische Geschichte. Die Last der deutschen Vergangenheit verleiht der Pubertät eine existenzielle Note, die Abenteuerlust des Heranwachsenden wiederum macht auch die politische Realität zum Gegenstand wilder Phantasien. 5

6 Schon 2001 wurde ein deutscher Roman veröffentlicht, der einen spielerischen Umgang mit der RAF erprobte. Doch "Rosenfest" von Leander Scholz stieß damals auf massiven Widerstand - so könne man über Terrorismus nicht schreiben, lautete das beinahe einhellige Urteil der Kritik. 14 Jahre später ist das Land ein anderes, und auch der Blick zurück hat sich gewandelt, was dieses Buch zu einem Zeitroman im doppelten Sinn werden lässt. Doch es ist noch vieles mehr. In immer neuen Anläufen schlägt Frank Witzel den Bogen von der detailversessenen Kindheitserinnerung hin zur Gegenwart, variiert Stile und Sprechweisen, pendelt zwischen Erzählung und Analyse, immer aber mit Witz und Verve. So gelingt dem Autor mit diesem Mammutwerk das unwahrscheinliche Kunststück, die verlorene BRD gleichzeitig ins Mythologische zu überhöhen und in ihrer Konkretheit wieder erfahrbar zu machen. Wie auch immer das Rennen um den Buchpreis am Ende ausgehen mag: Man wird sich auf einen griffigen Kurztitel für diesen Roman einigen müssen, denn es wird noch länger über ihn zu reden sein. Abmoderation: Frank Witzel: " ", Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2015, 818 Seiten, 29,90 Euro. 6