I Morphologie: Grundbegriffe
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1 Vorlesung Syntax des Deutschen, Herbstsemester 2011, Claudia Bucheli Berger, Dr., Universität Fribourg CH I Morphologie: Grundbegriffe 1. Wichtige Begriffe und Konzepte Morphem: kleinste bedeutungstragende Einheit Allomorph: komplementär verteilte materielle Varianten eines Morphems mach-en, seh-en vs. sammel-n, änder-n Englisch cat-[s], dog-[z], horse-[əz] geh-e, geh-st vs. seh-e, sieh-st INF = {-en, -n} PL = {-s, -z, -əz} SEHEN = {seh-, sieh} Synkretismus Nominativ ich Tag Bär Akkusativ mich Tag Bären Dativ mir Tag(e) Bären Genitiv (meiner) 1 Tages Bären 2. Derivation Derivation versieht ein Lexem mit einem Affix und liefert ein neues Lexem. A. Derivationsregeln sind wortartsensitiv und können die Wortart verändern: Verb + bar = Adjektiv mach-bar, lös-bar; machbarer, am machbarsten *Nomen + bar *verzeihungs-bar, *bezugs-bar B. Derivation ändert meistens die lexikalische Bedeutung: kaufen verkaufen; laufen entlaufen 3 Komposition Komposition ist rechtsköpfig Tür + schloss Mensa + essen Leder + schuh Modifikator Kopf Die grammatischen Eigenschaften des Kompositums richten sich nach dem Kopf. Der Modifikator ist für die Grammatik unsichtbar: a) Genuszugehörigkeit: [TürFEM+schlossNEUTR]NEUTR b) Flexion: Turm-uhr Turm-uhren *Türme-uhren SG SG SG PL PL PL Welt: 1 Uhr an x Uhren an 1 Turm x Türmen 1 Der Genitiv von Personalpronomen ist defektiv. In der Hauptfunktion des Genitivs, im Attribut, kommt er nicht vor *meiner Auto, *das Auto meiner, und auch kaum nach Präposition mit Genitivrektion: wegen mir,?wegen meiner. 1
2 4. Flexion 4.1. Person/Numerus am Verb (Konjugation) (1) Kongruenz (agreement): Im Deutschen werden zwei Merkmale des grammatischen Subjekts nochmals am Verb angezeigt: Numerus (Sg., Pl.) und Person (1., 2., 3.). Präsens: mach-, lieg- Präteritum: machte-, lag- SG 1 -e PL 1 -n SG 1 PL 1 -n 2 -(e)st 2 -t 2 -st 2 -t 3 -(e)t 3 -n 3 3 -n Anzahl: Total: Numerus am Nomen (Deklination) (2) Trial > Dual > Plural (3) Numerus ist im Deutschen eine grammatische Kategorie. Obligatorizität: Jedes Nomen (bzw. jede Nominalgruppe) muss als Singular oder Plural spezifiziert sein. Exhaustivität: Eine grammatische Kategorie deckt einen konzeptuellen Raum restlos ab. Der konzeptuelle Raum Numerus ist durch Singular und Plural vollständig abgedeckt. Grammatische Kategorien des Nomens haben die folgende Struktur: Numerus Plural Kasus Dativ Genus Feminin Merkmalsklasse Merkmalswert (Sitta/Gallmann 2007) (4) Grammatische Kategorien sind innersprachlich-abstrakt. Singular heisst nicht automatisch Einzelsache, Plural heisst nicht automatisch Vielheit: Immer Sg., auch wenn Vielheit: Immer Pl., auch wenn Einzelsache: Gemüse Flitterwochen Polizei Kosten Unkraut Naturalien (5) Kasus im Deutschen: bei den Pronomen noch sichtbar: ich, mich, mir usw. II Morphologie: Wortarten 5. Die 10 Wortarten In der traditionellen Grammatik wird nach verschiedenen Kriterien klassifiziert: Substantiv/Nomen, Numerale: Semantik Adverb, Konjunktion, Präposition: syntaktische Funktion Pronomen: textuelle Funktion Interjektion: pragmatische Funktion Verb, Adjektiv, Nomen, (Artikel): morphosyntaktisches Merkmal der Flexion 2
3 Beispiel für einen Problembereich: (StuBu S. 81) (a) Sie hat schönes Haar. (Adjektiv) (b) Sie ist schön. (Adjektiv) (c) Er singt schön. (Adverb) (d) Er ist ganz schön gross. (Adverb) 6. Die fünf Wortarten Gallmann, Peter / Sitta, Horst (2007): Deutsche Grammatik. 7. Auflage. Zürich: Lehrmittelverlag des Kantons Zürich. Glinz, Hans (1952): Die innere Form des Deutschen. Eine neue deutsche Grammatik. Bern / München: Francke. (1) Die Wortarten sind Klassen von Lexemen. Eine Klasse ist eine Menge von Elementen, die gemeinsame Merkmale aufweist. Wenn ich sage x ist ein Element der Klasse {K}, dann kann ich auf einige Merkmale und Verhaltensweisen von x schliessen. (Wenn ich als Lerner bei einem neuen Wort die Zugehörigkeit zu einer Klasse errate, folgt daraus ein grosser Teil seines Verhaltens automatisch.) (2) Eine Klassifizierung könnte auf allen möglichen Merkmalen basieren. Beispielsweise könnten alle Wörter, die einen vorderen Vokal im Stamm haben oder solche, die belebte Wesen bezeichnen, Klassen bilden: a) {grün, mit, See} vs. {bunt, doch, Tag} b) {Katze, Student, Mädchen} vs. {Wand, Tag, Buch} (3) Die Klassifikation in fünf Wortarten richtet sich nach einem formalen, genauer nach dem morphologischen Kriterium: nach ihrem Flexionspotential, d.h. nach dem Potential der Lexeme, bestimmte morphosyntaktischen Merkmalen vorweisen zu können. Beispielsweise ist Stadt nicht spezifizierbar für verschiedene Genera (Stadt ist inhärent feminin), aber jeder, jedes, jede schon. (4) Lexeme nicht flektierbar = Partikeln festes Genus = Nomen deklinierbar (nach Kasus) variables Genus flektierbar konjugierbar (nach Tempus) = Verben steigerbar nicht steigerbar = Adjektive = Begleiter oder Stellvertreter 3
4 (5) Typischerweise stimmen die Mitglieder einer Wortart auch noch in einer Reihe von weiteren Merkmalen überein. Es gibt innerhalb der einzelnen Wortarten aber immer auch weniger typische Vertreter, am augenfälligsten bei Nomen und Adjektiv. a) Das Nomen: Typische Merkmale: Deklinierbar nach Kasus und Numerus Festes Genus Feste Deklinationsart: die Tage, *die Tagen vs. die Studenten, *die Studente Definitheit: die Wand, diese Wand vs. eine Wand, manche Wand Untypische Merkmale: Keine Numerusopposition: Leute, Tantiemen, Hass, Sauerstoff Kein erkennbares Genus: Leute, Tantiemen Störungen bei Definitheit: *das/ein Freiburg, *ein Sauerstoff b) Das Adjektiv: Typische Merkmale: Deklinierbar nach Kasus, Numerus, Genus Steigerbar: schöner, am schönsten Deklinationsart stark (ein schöner Tag, aus gutem Holz) oder schwach (der schöne Tag, aus diesem guten Holz) Unflektierte Formen: schön, gut Attributiver Gebrauch: das laute Konzert Prädikativer Gebrauch: das Konzert war laut Adverbialer Gebrauch: sie spielten laut (Achtung: Adverbialer Gebrauch heisst nicht, dass wir es mit der Wortart Adverb zu tun haben, die in die Partikeln gehört!) Untypische Merkmale: Unflektierbar: das Konzert war prima, sie haben prima gespielt, ein prima Konzert (ähnlich lila, rosa, super usw.) Nur prädikativer Gebrauch: plemplem, futsch, quitt Postnominale Stellung des attributiven Adjektivs (immer unflektiert): Forelle blau, Erholung total, Genuss pur (6) Verben, Nomen, Adjektive sind offene Klassen: Sie umfassen unzählige Elemente, es können jederzeit neue aufgenommen werden, und ihre Elemente haben normalerweise eine eigene lexikalische Bedeutung. Die Begleiter, Stellvertreter und grösstenteils die Partikeln und Präpositionen sind geschlossene Klassen: Es gibt nur eine begrenzte Zahl, und sie kodieren meist grammatisch-abstrakte Funktionen und Beziehungen. (7) Die Partikeln werden nach ihren unterschiedlichen syntaktischen Funktionen subklassifiziert: Präposition: Leitet eine Nominalgruppe ein und bestimmt deren Kasus (mit, an, vor, während, für etc.). Einige Präpositionen stehen hinter der Nominalgruppe. Man sollte sie Postpositionen nennen (mir zuliebe). 4
5 Konjunktion: Verbindet Wörter, Wortgruppen, Teilsätze und Sätze Koordinierend: und, oder, sondern etc. Subordinierend: weil, als, damit, dass etc. Interjektion: Steht immer isoliert ausserhalb des syntaktischen Satzes, meist Ausrufe und Ähnliches: he, pfui, brr, au, ja, nein, tschüss Adverb: Der ganze Rest: leider, heute, endlich, doch, nirgends, vielleicht (8) Begleiter/Artikel determinieren eine Nominalgruppe, Stellvertreter/Pronomen vertreten häufig eine Nominalgruppe: [der Bus] kommt [es] kommt [jede Stimme] zählt [jede] zählt Die Begleiter/Artikel und Stellvertreter/Pronomen werden nach teils syntaktischen, teils semantischen Kriterien weiter aufgegliedert: Definiter Artikel Indefiniter Artikel Personalpronomen Reflexivpronomen Possessivum Demontrativum Relativum Interrogativum determinierend: der Hund determinierend: ein Hund pronominal: er, sie, es usw., mich, dich, ihn, sie, es usw. pronominal: sich; meist werden reflexive Verwendungen der Personalpronomen ebenfalls dazu gezählt (ich wasche mich) determinierend: mein Hund pronominal: meiner determinierernd: dieser, derselbe, jener Hund pronominal: dieser bellt der, welcher, wer determinierend: welcher Hund pronominal: wer, was 7. Übung zu den Wortarten 7.1. Klassifizieren Sie die folgenden Wörter nach dem 5-Wortarten-System (Hans Glinz) und diskutieren Sie die Unterschiede zum 10-Wortarten-System: jung, ganz, der, dieser, jener, sonderling, grün, billig, baum, stahl, sehen, ferien, hose(n), mithilfe, weil, , brr, dach, pfui, mir, trinkst Segmentieren und übersetzen Sie die Sätze 2-4 aus dem Inuktitut (Eskimosprache) nach dem Vorbild von Satz 1 und der Morphemliste: Satz 1 Tii-tu-laurit! nimm Tee! Tii = Tee < engl. tea, -tu- = sich.zuführen, -laurit = IMPERATIV.2.SG 5
6 Satz 2 Immutulaurit! Satz 3 Tiiturumanngitunga. Satz 4 Immutulangagama. immu- = Milch, -ruma- = wollen, -nngi- nicht, -tunga = PRÄSENS.1.SG -langa- = FUTUR, -gama = ganz.sicher.modus.1.sg 8. Wie Morphologie entstehen kann: Grammatikalisierung Diewald, Gabriele (1997): Grammatikalisierung. Eine Einführung in Sein und Werden grammatischer Formen. Tübingen: Niemeyer. Grammatikalisierung ist ein gradueller diachroner Vorgang, während dessen sich aus einem lexikalischen Morphem ein grammatisches Morphem entwickelt, wobei gleichzeitig auch die Selbständigkeit des Elements abnimmt. Der synchrone Reflex ist eine gewisse Unschärfe zwischen den Wortarten, insbesondere bei der Frage, ob ein Element in eine der offenen oder geschlossenen Klassen gehört. Ausserdem erklärt Grammatikalisierung, warum es verschiedene Fusionsgrade zwischen Morphemen gibt (Affix eigene Wortform). (1) Lat. cantare habeo singen ich_habe Neufranz. chanter-ai Formal: Syntaktisches Wort (freie Form) Affix Funktional: Lexikalische Bedeutung grammatische Funktion (2) Stärker grammatikalisierte Präpositionen (an, auf, bei, für, vor, um etc.) regieren Akkusativ und/oder Dativ bilden Fusionsformen mit Artikel, v.a. sprechsprachlich (am, beim, fürn) haben relativ abstrakte Bedeutung (s. oben von) sind von einigen Verben als Einleiter für Präpositionalobjekte gefordert (glauben an, warten auf) (3) Weniger stark grammatikalisierte Präpositionen lassen deutlich das Spenderlexem erkennen (angesichts, seitens, zwecks, abzüglich, einschliesslich, dank, kraft, laut, entsprechend, ungeachtet, aufgrund etc.) sind aber verglichen mit dem Spenderlexem versteinert (an Hand, *an der Hand; in Anbetracht, *in diesem Anbetracht) bilden keine Fusionsformen mit Artikel (*dank-er grosszügigen Hilfe) regieren häufig Genitiv oder von-phrase sind häufig austauschbar (kraft/infolge/aufgrund ihres grossen Erfolges) haben vergleichsweise konstante, konkrete Bedeutung sind positionell weniger fixiert (ungeachtet dessen / dessen ungeachtet) 9. Das Problem der Wortgrenzen: Klitika Werner, Ingegerd (1999): Die Personalpronomen im Zürichdeutschen. Stockholm: Almqvist and Wiksell International. (Lunder germanistische Forschungen 63) (1) Klitika (Sg.: das Klitikon) sind Morpheme, die unselbständiger sind als freie syntaktische Wörter, aber selbständiger als Affixe. 6
7 (2) Klitika sind prosodisch parasitär, das heisst, sie sind unbetont und brauchen ein anderes Wort ( Host ), an das sie sich anlehnen. Sie sind also keine selbständigen phonologischen Wörter. Beispiel: Franz. je le vois. (3) Simple clitics: Es gibt neben dem Klitikon eine phonologisch nicht reduzierte Vollform. Das Klitikon hat das gleiche syntaktische Verhalten wie die Vollform. Special clitics: Es gibt keine entsprechende Vollform, oder das Klitikon hat ein anderes (meist eingeschränkteres) syntaktisches Verhalten als die Vollform. (4) Bei den Zürichdeutschen Personalpronomen gibt es Voll- und klitische Formen nebeneinander (ich/i, miir/mr etc.). Einige davon sind Kandidaten für special clitics : a) das han ich gsee ich ha-s gsee das han-i gsee *i-ha-s gsee b) wänn du iischtiigsch du schtiigsch ii wänn-t iischtiigsch *t-schtiigsch ii c) chömed si (3.Pl.) au? si chömed au chömed-s au? *s-chömed au (5) Grammatikalisierung von Klitia: Issime (Aostatal; Zürrer 1999): wiir tie-ber goa z Meiland wir tun-wir gehen nach Mailand 7
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