Wenn Pferde neue Perspektiven bieten

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1 Mensch & Pferd Reitgestützte Therapie Wenn Pferde neue Perspektiven bieten Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung sind in vielen Dingen eingeschränkt. Durch die Reittherapie lernen sie, ihren Körper besser wahrzunehmen, und gewinnen so ein Stück Selbständigkeit zurück. Kavallo besuchte den Therapiehof Schwand und begleitete zwei Patienten mit ihren Therapeutinnen auf einem Ausritt. text Sarah Forrer fotos Esther Kaiser Die Isländerstute Gerdur steht ganz still. Vor ihr sitzt Miria Piccioni in ihrem Rollstuhl. Auf den Oberschenkeln steht eine orange Schüssel mit einer Karotte drin. Vorsichtig knabbert die mausgraue Stute daran. Piccioni streichelt ihr vorsichtig über die Stirn. Die Mundwinkel sind zu einem strahlenden Lachen geformt, ihre Augen leuchten. «Wenns Futter gibt, ist sie zufrieden», sagt sie schmunzelnd. Piccioni ist seit ihrer Geburt gelähmt. Cerebralparese (CP) heisst die Diagnose. Seit knapp einem Jahr kommt sie alle vierzehn Tage auf den Therapiehof Schwand in Münsingen (BE). Mit tatkräftiger Hilfe ihrer Hippotherapeutin Helene Böhlen-Bigler kommt sie von einer speziell installierten Rampe auf Gerdurs Rücken. Rund eine halbe Stunde reitet sie jeweils mit Gerdur im Wald, der direkt an den Hof grenzt. Die Hippotherapeutin stützt die 41-Jährige dabei von der Seite und kontrolliert ihre Sitzposition. Die ausgebildete Pferdeführerin Vreni Wittwer führt Gerdur im Schritt. Auch wenn das Reiten für Piccioni anstrengend ist, geniesst sie es in vollen Zügen: «Es ist einfach schön!», betont sie. Für Böhlen-Bigler hat die Arbeit mit Pferden auch enorme therapeutische Vorteile. «Es verbessert nachhaltig das Gleichgewicht. Zudem beeinflusst die rhythmische Bewegung auf dem Pferderücken die Beweglichkeit positiv», erklärt sie. So können sich Patienten beispielsweise dank der Hippotherapie im Alltag leichter vom Bett in den Rollstuhl hieven und umgekehrt. Böhlen-Bigler arbeitet seit einem Jahr jeden Donnerstagnachmittag auf dem Therapiehof. Daneben führt sie eine eigene Physiotherapiepraxis. Die Therapien sind für die pferdebegeisterte Mutter von zwei erwachsenen Töchtern immer wieder ein Highlight. «Ein so herzliches Lachen auf dem Gesicht wie heute bei Miria das ist für mich das grösste Geschenk!» Unterschiedliche Diagnosen Rund 80 Patienten finden jede Woche den Weg auf den Hof. Von Kindern bis hin zu Pensionierten geht die Bandbreite. Auch die Diagnosen sind sehr unterschiedlich. So reiten Menschen mit körperlicher Behinderung wie multipler Sklerose (MS) oder CP auf den Isländern. Doch auch geistig Behinderte und psychisch Kranke, Menschen mit Depressionen oder Angstzuständen und Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lernstörungen kommen regelmässig. Je nach Behinderung wird eine entsprechende Therapieform angewendet (siehe Box auf Seite 58). Die Zügel in der Hand hält Betriebsleiterin Barbara Blaser. Ihre Eltern hatten die Stiftung vor knapp dreissig Jahren gegründet. Sie organisiert und koordiniert die Einsätze und hat immer ein offenes Ohr für die 40 Teilzeit arbeitenden Mitarbeitern und freiwilligen Helfern. Die Arbeit verlangt einiges. Blaser versucht sie bildlich darzustellen: «Wie ein Pferd steht unsere Stiftung auf vier Beinen: Da sind die Spender, die Isländer, die Mitarbeiter und die Patienten.» Alles unter einen Hut zu packen, sei nicht immer ganz einfach. «Ich habe es immer mit Lebe- >> 64

2 Reitgestützte Therapie Mensch & Pferd Seit 30 Jahren stellt sich die Stiftung Therapiehof Schwand in den Dienst von Menschen mit Behinderungen. 65

3 Mensch & Pferd Reitgestützte Therapie wesen zu tun», sagt sie und lacht herzhaft. Ihr Blick schweift über die Pferdeherde. Neun Islandpferde stehen dem Therapiehof zur Verfügung. Drei Pensionspferde ergänzen die Herde. Untergebracht sind sie in einem grosszügig gebauten Offenstall direkt am Waldrand. Ein einziger Nachteil Die Hitze setzt den Vierbeinern zu. Zwei liegen wie tot am Boden und lassen sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Drei stehen faul im Schatten. Vier der Pferde tragen trotz der Wärme Decken. «Sie leiden an einer Mückenstichallergie, dem sogenannten Sommerekzem», sagt Blaser. Gerade Isländer sind anfällig und wegen ihres Juckreizes reiben und kratzen sie sich ohne Decke das Fell wund. Für Blaser ist das der einzige Nachteil der Isländer. Sie eignen sich von der Grösse und vom Körperbau her hervorragend für Klein und Gross. Bis zu 90 Kilogramm darf ein Patient auf die Waage bringen wer schwerer ist, dem muss Blaser absagen. «Wir wollen ja nicht, dass die Pferde die Freude an der Arbeit verlieren.» Nebst den guten äusseren Eigenschaften verfügen die Isländer auch über gute innere Werte. «Sie sind gelassen und gleichwohl sehr feinfühlig und arbeitswillig», sagt Blaser. Das mache sie zum idealen Therapiepferd. Nicht zuletzt profitieren Patienten von den zwei zusätzlichen Gangarten Tölt und Pass. Gerade der Tölt ist bei den Patienten sehr beliebt. Bevor die Pferde für die Therapie verwendet werden, erhalten sie auf dem Hof eine mehrmonatige Ausbildung. Ruhig stehen bleiben ist das A und O jedes Therapiepferdes. Zudem lernt es die verschiedensten Geräusche und Materialien kennen sodass es nichts mehr so schnell aus der Bahn wirft. Ausgleichsarbeit, artgerechte Haltung mit Weidegang und eine Sommerpause auf der Alp helfen, die Pferde psychisch gesund zu erhalten. Volles Vertrauen geniessen die Isländer bei Rita Schilter. Sie kommt seit fast drei Jahren ins therapeutische Reiten und hat sich damit einen Mädchentraum erfüllt. «Früher hat es mir meine Mutter nicht erlaubt. Nun habe ich mir die Möglichkeit selbst geschaffen», sagt Schilter lachend. Der Therapiehof sei ideal, da sie hier die nötige Unterstützung und Betreuung habe. Vor zwanzig Jahren hatten die Ärzte Polyarthritis also chronische Gelenkschmerzen festgestellt. Für Schilter gehört diese Diagnose trotz den täglichen Schmerzen der Vergangenheit an: Sie will sich nicht über ein Krankheitsbild identifizieren oder sich davon das Leben diktieren lassen. «Der Glaube macht so viel aus. Deswegen ist es umso wichtiger, sich gesund zu fühlen und nicht Gedanken an die Schmerzen zu verschwenden», sagt sie bestimmt. Dank den Pferden kann sie grosse Strecken im Wald zurücklegen, was zu Fuss fast nicht möglich ist. «Zudem werden meine Muskeln auf schonende Art aufgebaut», sagt die 40-Jährige. Der Kontakt mit den Tieren und die frische Luft im Wald sind Balsam für die Seele. Erstaunliches geschieht Schilter reitet Thràinn selbständig. Gezäumt ist der Isländer mit einem speziellen Zügel, an dem Schlaufen angemacht sind. «Das erleichtert das Führen», erklärt ihre Reittherapeutin Jacqueline Rihs. Rihs gehört praktisch schon zum Inventar. Seit über zwanzig Jahren arbeitet sie bei der Stiftung mit. Sie ist mit Pferden aufgewachsen und übernimmt einen wichtigen Part bei der Ausbildung der Vierbeiner. Zudem leitet sie die im Frühling und Herbst stattfindenden Kinderkurse. Der erfahrenen Reiterin geht es vor allem um eines: «Ich möchte die Selbständigkeit meiner Patienten schu len und ihnen Selbstvertrauen geben», sagt sie. Mit Hilfe der Pferde und der beruhigenden Wirkung des Die Stiftung Cerebral hilft Die Schweizerische Stiftung für das cerebral gelähmte Kind unterstützt in der ganzen Schweiz über 8700 Familien und ihre cerebral gelähmten Angehörigen feiert die Stiftung Cerebral ihr 50-Jahre-Jubiläum. Zum Angebot, welches die Stiftung mit Spendengeldern mitfinanziert, gehört auch die Therapie mit Pferden. Hippotherapie: Physiotherapie mit Hilfe des Kleinpferdes. Dabei wird die Schrittbewegung des Pferdes therapeutisch genutzt. Sie ist eine kassenpflichtige, medizinische Massnahme bei MS und CP. Heilpädagogisches Reiten: pädagogisch-therapeutisches Angebot für Menschen mit verschiedenen Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten. Ziel ist die individuelle Förderung beim Pflegen, Führen und Reiten. Therapeutisches Reiten: Der Patient mit körperlichen, geistigen Behinderungen oder psychischen Problemen reitet selbständig und wird dabei von einer Betreuungsperson begleitet. Mehr Informationen unter: >> 66

4 Reitgestützte Therapie Mensch & Pferd Miria Piccioni ist seit ihrer Geburt gelähmt. Alle 14 Tage kommt sie zur Hippotherapeutin Helene Böhlen-Bigler in die Therapiestunde. Vorsichtig helfen Betriebsleiterin Barbara Blaser (links) und Therapeutin Helene Böhlen-Bigler (rechts) Miria Piccioni in den Sattel. Pferdeführerin Vreni Wittwer (links) führt Gerdur im Schritt. So kann sich die Therapeutin (Mitte) ganz auf ihre Patientin Miria konzentrieren. Isländerstute Gerdur hat alles, was ein gutes Therapiepferd ausmacht: Sie ist geduldig, sanft und steht jederzeit so lange wie nötig still da. Reiten ist für Miria Piccioni anstrengend. Doch dank der Hippotherapie hat die 41-Jährige ein besseres Gleichgewicht und ist beweglicher. «Es ist einfach schön», sagt Miria Piccioni über das Reiten. Nach dem Ritt geniesst sie mit Stute Gerdur innige Momente der Zweisamkeit. 67

5 Mensch & Pferd Reitgestützte Therapie Neun Islandpferde und 40 Teilzeitangestellte und freiwillige Helfer arbeiten auf dem Therapiehof Schwand für behinderte Menschen. Ein Therapiepferd zu sein, bedeutet harte Arbeit. Beim Spielen und Rumtoben mit Artgenossen können sich die Pferde gut erholen. Therapeutin Jacqueline Rhis, Wallach Thràinn und Rita Schilter (v. l.) unterwegs: Die 40-Jährige leidet an chronischen Gelenkschmerzen. Die Haltung in der Herde fördert die Ausgeglichenheit der Pferde eine zwingende Grundvoraussetzung für die Arbeit mit behinderten Menschen. 68

6 Waldes hat sie schon Erstaunliches erlebt. So geschieht es öfters, dass Klienten beim Reiten emotional angesprochen werden und sich öffnen können. «Solche Erlebnisse sind schon sehr eindrücklich», sagt Rihs. Ohne Freiwillige geht es nicht Mittlerweile ist es später Nachmittag geworden. Die Mitarbeiterinnen hauptsächlich Frauen trinken im «Wohnzimmer» an einem grossen Holztisch gemeinsam Tee und berichten über Erlebnisse und Erfahrungen mit den Pferden. Die Stimmung ist entspannt. Eine Helferin setzt sich an die Nähmaschine und flickt eine Pferdedecke. Auch die Sofas sind mit gestrickten Decken geschmückt und an den Wänden hängen selbstgemalte Bilder von den Patienten. Auf einem Tablett stehen Marmelade und Strickzeug, diese werden zugunsten der Stiftung verkauft. Viel Engagement ist spürbar. «Ohne dies würde es nicht funktionieren», sagt Blaser. Die Stiftung finanziert sich über verschiedene Quellen Kran kenkassen- und IV-Beiträge, Spender, Sponsoren und Beiträge der Patienten. Für spezielle Fälle hat die Stiftung einen Fonds eingerichtet da werden Personen unterstützt, die sich diese Therapie nicht leisten könnten. Denn die Therapie mit dem Pferd ist kostspielig: 80 Franken kostet allein das Pferd und die Infrastruktur. «Das deckt nicht mal mehr die Kosten», sagt Blaser. Noch nicht einberechnet sind Therapeutin und falls nötig die Pferdeführerin. Bis anhin hat am Ende des Jahres immer eine schwarze Null rausgeschaut. Ein Grund sind die vielen ehrenamtlichen Helfer und das Herzblut der Mitarbeitenden. «Ohne das hätten wir keine Chance. Alles wäre nicht finanzierbar.» Lohn gibt es auf eine andere Art: Die Freude der Patienten und die respektvolle, angenehme Atmosphäre auf dem Hof sind nicht mit Geld aufzuwerten.