Begünstigt oder benachteiligt das IV-Verfahren Migrantinnen und Migranten
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- Linus Braun
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1 Begünstigt oder benachteiligt das IV-Verfahren Migrantinnen und Migranten Christian Bolliger, Büro Vatter AG Fortbildungsveranstaltung der ASIM, Gerberngasse 27 CH-3011 Bern Telefon Fax
2 Überblick Forschungsfragen Theoretische Grundlagen Vorgehen Migrant/innen und Schweizer/innen im Vergleich Anmelde- und Berentungsquoten Dauer und Abklärungsaufwand der IV-Verfahren Unterschiede im Verfahrensverlauf Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 2
3 Forschungsfragen und theoretische Grundlagen 3
4 Übergeordnete Forschungsfrage Ausgangspunkt: Migrant/innen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine IV-Rente zu beziehen als Schweizer/innen. Forschungsfrage: Inwieweit ist die unterschiedliche Invalidisierungswahrscheinlichkeit von Migrant/innen und Schweizer/innen auf Aspekte in Zusammenhang mit dem IV-Verfahren, inwieweit ist sie auf vorgelagerte Ursachen zurückzuführen? Fokus heute: Vergleich der IV-Verfahren von Personen aus der Schweiz mit Personen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei 4
5 Modell: Invalidisierung als dreistufiger Prozess Herkunft / Migrationshintergrund Sprachkenntnisse Berufliche und private Biographie Einstellungen zu Gesundheit, Arbeit und Staat; Anreize Gesundheitsverhalten Verhalten / Interaktion bei Erkrankung Verhalten / Interaktion im IV- Verfahren Erkrankungs- / Unfallrisiko Berentungswahrscheinlichkeit Anmeldewahrscheinlichkeit 5
6 Modell: Invalidisierung als dreistufiger Prozess Herkunft / Migrationshintergrund Sprachkenntnisse Berufliche und private Biographie Einstellungen zu Gesundheit, Arbeit und Staat; Anreize Gesundheitsverhalten Verhalten / Interaktion bei Erkrankung Verhalten / Interaktion im IV- Verfahren Erkrankungs- / Unfallrisiko Berentungswahrscheinlichkeit Anmeldewahrscheinlichkeit 6
7 Modell: Invalidisierung als dreistufiger Prozess Herkunft / Migrationshintergrund Sprachkenntnisse Berufliche und private Biographie Einstellungen zu Gesundheit, Arbeit und Staat; Anreize Gesundheitsverhalten Verhalten / Interaktion bei Erkrankung Verhalten / Interaktion im IV- Verfahren Erkrankungs- / Unfallrisiko Berentungswahrscheinlichkeit Anmeldewahrscheinlichkeit 7
8 Modell: Invalidisierung als dreistufiger Prozess Herkunft / Migrationshintergrund Sprachkenntnisse Berufliche und private Biographie Einstellungen zu Gesundheit, Arbeit und Staat; Anreize Gesundheitsverhalten Verhalten / Interaktion bei Erkrankung Verhalten / Interaktion im IV- Verfahren Erkrankungs- / Unfallrisiko Berentungswahrscheinlichkeit Anmeldewahrscheinlichkeit 8
9 Forschungsfragen im Einzelnen Verfahrensverläufe: Unterschiede hinsichtlich der Anmeldungen und des Verfahrensausgangs, der Verfahrensdauer und des Verfahrensaufwands? Vorgelagerte Faktoren: Gibt es biographische Invalidisierungsrisiken, welche besonders ausgeprägt unter Migrantinnen und Migranten der untersuchten Herkunftsländer aufzufinden sind? Faktoren im Verfahren: Inwieweit erklären unterschiedliche Muster der Interaktion zwischen den Versicherten und den Fachpersonen der IV sowie der Medizin die unterschiedlichen Verfahrensverläufe? Anpassungsbedarf: Ergibt sich aus den gewonnen Erkenntnissen Anpassungsbedarf seitens der IV? Bedeutung der 5. IV-Revision und anderer Massnahmen für Eingliederung von Migrant/innen. 9
10 Vorgehen 10
11 Vorgehen: Auswertung von vier Datenquellen 1. Vergleich der Anmeldequoten nach Herkunftsland ZAS: Register der IV-Anmeldungen 2008, kombiniert mit der Statistik der Bevölkerung im Erwerbsalter (ESPOP, PETRA) 2. Vergleich der Verfahrensverläufe: Berentungen, Dauer, Abklärungen ZAS: Anmeldungen bei der IV (2003/2004) und Leistungsbezüge ( ) Männer von 40-64; Vergleich Schweizer mit Ex-Jugoslawen + Türken 11
12 Vorgehen: Auswertung von vier Datenquellen 3. Inhaltsanalyse von IV-Dossiers: Ähnliche Fälle Je 45 Männer: Schweiz vs. Ex-Jugoslawien oder Türkei niedrige sozioökonomische Ressourcen; Schmerzsymptomatik Keine Bagatellfälle, Rentenprüfung im Vordergrund BE, VD, ZH; Anmeldung 2003/04; Verlauf während 4 Jahren Interessierende Variablen: Interaktion zwischen Versicherten, IV und Experten Biographischer Hintergrund: Interviews mit involvierten Fachleuten des IV-Systems 4. Leitfadengespräche BE, VD, ZH Fachpersonen IV-Stelle, Anwaltschaft, Medas-Ärzte 12
13 Resultate I: Anmeldungen und Verlauf des IV-Verfahrens 13
14 Anmelde- und Berentungsquoten im Vergleich 1.60% 1.40% 1.20% 1.00% 0.80% 0.60% 0.40% 0.20% 0.00% UK Deutschland Frankreich Spanien Portugal Schweiz Oesterreich Italien Ex-Jugoslawien Türkei Anmeldequote 2008 Neuberentungsquote nach IV-Statistik 2008 (BSV 2009) 14
15 Anmelde- und Berentungsquoten im Vergleich Tendenz: Nationalitäten mit hoher Neuberentungsquote weisen auch eine hohe Anmeldequote bei der IV auf Bevölkerungsgruppen aus Ex-Jugoslawien und Türkei haben die höchsten Anmelde- und Neuberentungsquoten. Anteil Neuberentungen an Anmeldungen: Schweiz: 50,7% Ex-Jugoslawien: 55,3% Türkei: 56,1% Fazit: Der Unterschied in der Berentungsquote ist wohl eher mit Faktoren ausserhalb des Verfahrens zu begründen Aber: offene Frage, aus welchen Gründen sich Personen anmelden 15
16 Der Ausgang der Verfahren im Vergleich Schweizer (40-64jährig) Ex-Jugoslawen und Türken 11% 1% 24% keine Leistung 19% 1% 23% Rente 36% Hilfsmittel und/oder medizinische Massnahme 5% Berufliche Massnahme(n) 41% Hilfsmittel, medizinische und/oder berufliche Massnahme(n) 39% N = 18'534 Schweizer N = 3'366 Ex-Jugoslawen 832 Türken 16
17 Dauer und Abklärungsaufwand der Verfahren somatisch ohne Knochen Knochen ohne 738 Sammelcode 738 psychisch ohne 646 Sammelcode 646 keine Angabe Mittlere Dauer in Tagen Schweizer Ausländer (Türkei und Ex-Jugoslawien) Differenz A-CH Verfahren von Ausländern dauern durchschnittlich länger (1017 vs. 777 Tage) Dies gilt auch für Personen gleicher Gebrechens- oder Leistungsgruppen Herkunft ist aber nicht der überragende Erklärungsfaktor Ähnliches Bild bei der Häufigkeit von Abklärungen, besonders deutlich: MEDAS 17
18 Zwischenfazit: Migrant/innen melden sich häufiger für eine IV-Leistung an, ab Verfahrensbeginn ist die Berentungswahrscheinlichkeit ähnlich wie bei den Schweizer/innen. Höhere Berentungsquote von Personen aus Türkei und Ex-Jugoslawien liegt an Gründen, die dem Verfahren vorgelagert sind. Verfahren der Migrant/innen dauern durchschnittlich länger und sind mit mehr Abklärungen verbunden 18
19 Resultate III: Interaktion im Verfahren 19
20 Exkurs: Besonderheiten des biographischen Hintergrunds von Migranten (Dossieranalyse) Klassische Ernährerrolle In niedrigerem Alter krankheitsbedingt arbeitsunfähig Tiefere sozioökonomische Ressourcen (tiefere Bildung, Sprachkenntnisse, grössere finanzielle Probleme, weniger Selbständigerwerbende und Vorgesetzte) Migrationsgeschichte als zusätzliche Belastung Weniger angepasste Tätigkeiten Grössere Eingliederungshypothek 20
21 Akteursverhalten und Interaktion I ((Wahrnehmungen der beteiligten Akteure)) Angebliche Rentenfixierung in einer Minderheit der Dossiers, bei Migranten leicht häufiger Diskrepanz Selbst- und Fremdwahrnehmung Arbeitsfähigkeit : IV > Migranten zu Beginn des Verfahrens Gesundheitszustand: IV < Migranten (Verdeutlichungstendenz) Aggravationsverdacht 1/4 bis 1/3 der Migrantendossiers, 0 bei Schweizern Signifikanter Einfluss auf Verfahrenskomplexität 21
22 Akteursverhalten und Interaktion II Konflikthaftigkeit der Verfahren Unzufriedenheit der IV und der Gesuchsteller über das Verhalten der anderen Seite: selten. Migranten: Mehr Anwälte Mehr Beschwerden Sprachlicher Aspekt Verständigungsprobleme bei Migranten 22
23 Akteursverhalten und Interaktion III Erklärungsansätze der Verfahrensunterschiede: Schlechtere Eingliederungsperspektiven Kulturell geprägte Lebensentwürfe Erwartungen an den Sozialstaat Andere Anreizstrukturen Wirkung der Verfahrensunteschiede auf den Verfahrensausgang? Durchwink-Effekt nicht bestätigt Mehr Abklärungen, längere Verfahren, (geringere Berentungswahrscheinlichkeit) 23
24 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 24
25 Wichtigste Befunde Die höhere IV-Quote von Migrant/innen ist vor allem Gründen zuzuschreiben, die dem IV-Verfahren zeitlich vorgelagert sind. Das IV-Verfahren begünstigt Migrant/innen nicht. Die Verfahren dauern im Gegenteil tendenziell länger, sind abklärungsintensiver und die Interaktion verläuft reibungsvoller als bei Verfahren von Schweizer/innen. Die Eingliederungshypothek erkrankter Migrant/innen führt nicht automatisch zur IV-Rente. Die IV trennt gesundheitliche und nicht-gesundheitliche Faktoren strikt. 25
26 Schlussfolgerungen Die höhere IV-Quote von Migrant/Innen ist eine Folgeerscheinung der Einwanderungs- und Integrationspolitik. Die IV selbst kann daran grundsätzlich wenig ändern. Wirkungen der 5. IV-Revision und weiterer Massnahmen werden kontrovers diskutiert. 26
27 Diskutierte Massnahmen Im Rahmen der 5. IV-Revision Verstärkte Früherkennung niederschwellige Eingliederungsinstrumente Weitere Massnahmen (kontrovers) Voraussetzungen für Umschulung senken? Berücksichtung kulturell unterschiedlicher Krankheitsbegriffe Im Verfahren mehr Rücksichtnahme auf Sprachprobleme 27
28 Weiterführende Literatur Bolliger, Christian, Isabelle Stadelmann-Steffen, Eva Thomann und Christian Rüefli (2010). Migrantinnen und Migranten in der Invalidenversicherung: Verfahrensverläufe und vorgelagerte Faktoren. Bern: BSV (Beiträge zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht 3/10). Bolliger, Christian, Isabelle Stadelmann-Steffen, Eva Thomann und Christian Rüefli (2010). Erhöhte IV-Quote von Migrantinnen und Migranten liegt nicht am Verfahren. Soziale Sicherheit (CHSS) 4/2010: Wyssmüller, Chantal und Efionay, Denise (2007). Literatur- und Datenstudie zum Thema Migration und Invalidenversicherung. Neuchâtel: Schweizerisches Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien.
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