Deutsches und Europäisches Kartellrecht (2016/17) 11. Sanktionen, Durchsetzung und Rechtsschutz Josef Drexl
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1 Deutsches und Europäisches Kartellrecht (2016/17) 11. Sanktionen, Durchsetzung und Rechtsschutz Josef Drexl Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
2 I. Behördliche Durchsetzung (1) 1. Durchsetzung des europäischen Rechts a) Zuständige Behörden Art. 4, 5 VO 1/2003: Parallele Zuständigkeit von Kommission und nationalen Behörden Art. 35 VO 1/2003, 50 Abs. 1 GWB: Zuständigkeit des BKartA sowie der Landeskartellbehörden (Abgrenzung untereinander nach tatsächlichen Auswirkungen; 48 Abs. 2 S. 1 GWB) Art. 11 ff. VO 1/2003: Regeln über die Behördenzusammenarbeit (dazu auch ECN- Bekanntmachung, ABl C 101/43) Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003: Selbsteintrittsrecht der Kommission
3 I. Behördliche Durchsetzung (2) 1. Durchsetzung des europäischen Rechts b) Ermittlungsbefugnisse der Kommission (Art. 17 ff. VO 1/2003) Art. 17 VO 1/2003: Sektorenuntersuchung (zur Ermittlung allgemeiner Wettbewerbsprobleme) Art. 18 VO 1/2003: Auskunftsverlangen Unterscheide: Einfaches Auskunftsverlangen und Entscheidung EuGH, Orkem gegen Kommission, Rs. 374/87, ECLI:EU:C:1989:387: keine Unschuldsvermutung (nemo tenetur) nach Art. 6 Abs. 2 EMRK (kein Strafverfahren), aber Anspruch auf faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) keine Selbstbezichtigungspflicht, wenn Kommission die Beweislast hat Art. 28 VO 1/2003: Verschwiegenheitspflicht der Kommissionsmitarbeiter EuGH, Akzo Nobel gegen Kommission, C-550/07 P, ECLI:EU:C:2010:512: Schutz der Vertraulichkeit nur mit einem unabhängigen Anwalt (sog. Legal privilege), nicht dagegen einem Syndikusanwalt Art. 20 Abs. 2 VO 1/2003: Weitreichende Durchsuchungsbefugnisse (sog. dawn raids ) Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
4 I. Behördliche Durchsetzung (3) 1. Durchsetzung des europäischen Rechts c) Entscheidungsbefugnisse der Kommission Art. 7 VO 1/2004: Untersagungsverfügung Art. 8 VO 1/2003: Einstweilige Anordnung Art. 9 VO 1/2003: Verpflichtungszusagen ( Commitment Decisions ) Unternehmen bieten an, durch bestimmte Maßnahmen Bedenken der Kommission anzustellen (sog. Verpflichtungszusage). Diese kann die Behörde annehmen und durch Entscheidung für verpflichtend erklären Vorteil: schnelle Erledigung und geringe Gefahr der gerichtlichen Aufhebung; weitreichendere Entscheidung möglich (Ermessen der Kommission) EuGH, Alrosa, Rs. C-441/07 P, ECLI:EU:C:2010:377, Rn. 41: keine inhaltliche Überprüfung (Abhilfemaßnahmen müssen nur verhältnismäßig sein) Art. 10 VO 1/2003: Feststellung der Nichtanwendung von Art. 101 oder 102 AEUV
5 I. Behördliche Durchsetzung (4) 1. Durchsetzung des europäischen Rechts d) Sanktionen der Kommission (1) Geldbußen (Art. 23 VO 1/2003) als Strafe bei Verstoß gegen gesetzliche Verpflichtungen (u.a. Art. 101 f. AEUV) Vorsatz oder Fahrlässigkeit erforderlich (2) Zwangsgeld (Art. 24 VO 1/2003) erzwingt Einhaltung einer Kommissionsentscheidung (3) Verjährung (Art. 25 f. VO 1/2003) Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
6 I. Behördliche Durchsetzung (5) 1. Durchsetzung des europäischen Rechts e) Grundsätze in Bezug auf Geldbußen der Kommission (1) Höhe (Art. 23 VO 1/2003) bis 1 % des Gesamtjahresumsatzes bei bestimmten Verstößen gegen VO 1/2003 (Abs. 1) bis 10 % des Gesamtjahresumsatzes bei Verstößen gegen Art. 101 f. AEUV, bei Verstößen gegen einstweilige Maßnahmen sowie Verpflichtungszusagen Art. 23 Abs. 3 VO 1/2003: Schwere und Dauer des Verstoßes entscheidend außerdem: Leitlinien zur Festsetzung von Geldbußen, ABl C 210/2 Zwei Schritt: (a) Grundbetrag Anteil des Umsatzes bzgl. betroffener Waren und Dienstleistungen bis 30 % (nach Schwere des Verstoßes) x Jahre des Verstoßes % des relevanten Jahresumsatzes als Aufschlag zur Abschreckung (b) Anpassung Berücksichtigung von erschwerenden oder mildernden Umständen Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
7 I. Behördliche Durchsetzung (6) 1. Durchsetzung des europäischen Rechts e) Grundsätze in Bezug auf Geldbußen der Kommission (2) Adressat (Art. 23 VO 1/2003) nicht das Unternehmen i.s.d. Kartellrechts, sondern nur eine juristische Person Konzernhaftung: Bei Vorliegen wirtschaftlicher Einheit haftet die Mutter (Grundsatz, dass derjenige haftet, der das Unternehmen leitet) mit gesamtschulderischer Haftung auch des Tochterunternehmens Problem: Unternehmensnachfolge => Grundsatz der Kontinuität und Identität (kein Tatbestand der Unternehmensnachfolge; es haftet, wer zum Zeitpunkt des Verstoßes das Unternehmen geleitet hat) => Haftung des Rechtsnachfolgers, wenn der frühere Rechtsträger nicht mehr existiert (so im Falle der Verschmelzung), im Falle der Insolvenz des früheren Rechtsträgers oder bei Umstrukturierungen innerhalb eines Konzerns Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
8 I. Behördliche Durchsetzung (7) 1. Durchsetzung des europäischen Rechts f) Befugnisse der nationalen Behörde Merke: Handelt das BKartA zum Zwecke der Durchsetzung europäischen Rechts, sind die VO 1/2003 und das GWB nebeneinander anzuwenden. Die VO 1/2003 regelt nur die grundsätzliche Zuständigkeit und in Ansätzen die Zusammenarbeit mit der Kommission und den anderen nationalen Kartellämtern 32 ff. GWB: Befugnisse der nationalen Behörden (BKartA, LKartA) gelten für EU- Recht und nationales Recht starke Angleichung an die VO 1/2003 Art. 22 Abs. 1 VO 1/2003, 22 Abs. 4 GWB: Ermittlungen in Zusammenarbeit mit anderen nationalen Behörden Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
9 I. Behördliche Durchsetzung (8) 2. Durchsetzung nationalen Kartellrechts a) Behörden (1) Bundeskartellamt (BKartA mit Sitz in Bonn, 51 GWB) 51 Abs. 2 GWB: Beschlussabteilungen garantieren Unabhängigkeit 48 Abs. 2 S. 1 GWB: Zuständig für Fälle, die über ein Bundesland hinausreichen; aber ausschließliche Zuständigkeit für Zusammenschlusskontrolle (2) Landeskartellbehörden 51 Abs. 2 S. 2 GWB: nach Landesrecht oberste Landesbehörde = Wirtschaftsminister zuständig für Verstöße, deren Wirkungen sich auf das Bundesland begrenzen (3) Bundeswirtschaftsminister 42 GWB: Zuständig für die Ministererlaubnis (Zusammenschlüsse) (4) Monopolkommission 44 Abs. 1 GWB: zweijährige Gutachten über Unternehmenskonzentration + Sondergutachten 42 Abs. 4 S. 2 GWB: Stellungnahmen zu Fusionen Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
10 I. Behördliche Durchsetzung (9) 2. Durchsetzung nationalen Kartellrechts b) Befugnisse der nationalen Behörden 32 GWB: Untersagungsverfügung (vgl. Art. 7 VO 1/2003) 32a GWB: Einstweilige Maßnahmen (vgl. Art. 8 VO 1/2003) 32b GWB: Verpflichtungszusagen (vgl. Art. 9 VO 1/2003) 32c GWB: Entscheidung, dass kein Anlass zum Tätigwerden besteht (Selbstbindung) 32d GWB: Entzug der Freistellung 32e GWB: Untersuchung einzelner Wirtschaftszweige (Sektorenuntersuchung) und einzelner Arten von Verstößen
11 I. Behördliche Durchsetzung (10) 2. Durchsetzung nationalen Kartellrechts c) Sanktionierung mit Bußgeldern 81 Abs. 1 GWB: Verstößen gegen Art. 101 und 102 AEUV 81 Abs. 2 und 3 GWB: Verstöße gegen GWB Verfahren: Grundsätzliche Geltung des OWiG mit zusätzlichen Regeln im GWB Problem: Adressat 30 OWiG: Geldbußen gegen juristische Personen möglich (seit 1986) Im Grundsatz aber natürliche Personen (z.b. der handelnde Mitarbeiter, aber auch Vorstandsmitglieder wegen Verletzung von Aufsichtspflichten) Unternehmensnachfolge: Haftung nur bei nahezu vollständiger Identität Keine Konzernhaftung wie nach europäischen Recht! Folge: Bei Ausgliederung eines Tochterunternehmens keine Haftung der Tochter (vehementer Streit: Anpassung an EU-Standard oder Vorrang des Gesellschaftsrechts?) 9. GWB-Novelle: Haftung auch des Rechtsnachfolgers bei partieller Rechtsnachfolge!
12 I. Behördliche Durchsetzung (11) 4. Bonusprogramme (Kronzeugenregelung; Leniency ) Funktion: EU: Bonusprogramme gewähren jenen Kartellteilnehmern als Whistlblowen Immunität in Bezug auf die Verhängung von Geldbußen/Bußgeldern, wenn sie den Ämtern dazu verhelfen, die Kartelle aufzudecken. Die Einführung von sog. Leniency-Programmen zuerst in den USA hat dazu geführt, dass heute sehr viel mehr Kartelle enttarnt werden als früher. Leniency-Bekanntmachung : Mitteilung der Kommision über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl C 298/17. Deutschland: Bekanntmachung Nr. 9/2006 des BKartA vom über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen ( Bonusregelung ) Grundsätze: (1) Vollständiger Erlass für das erste Unternehmen, dass Beweise vorlegt, die die Feststellung des Kartellverstoßes ermöglichen Merke: (2) Reduktion bei weiteren Unternehmen, die Beweise mit erheblichen Mehrwert vorlegen (3) Keine Immunität von Unternehmen, die zentrale Rolle im Kartell spielen Keine ausdrückliche Grundlage im Gesetz Kommission und BKartA handeln im Rahmen ihres Verfolgungsermessens Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
13 I. Behördliche Durchsetzung (12) 4. Vergleiche (im Bereich der Hardcore-Kartelle) = Beendigung von Verfahren im Vergleichswege (1) EU: Verordnung (EG) Nr. 622/2008 der Kommission vom 30. Juni 2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 733/2004 hinsichtlich der Durchführung von Vergleichsverfahren in Kartellfällen + Mitteilung der Kommission über Vergleichsverfahren Geltung nur bei horizontalen Hardcore-Kartellen Gesteht ein Unternehmen die Beteiligung, kann es mit Geldbußenrabatt bis 10 % rechnen Vorteil: schnellere Erledigung (2) Deutschland: Ohne gesetzliche Grundlage, aber Anwendung im Rahmen des Verfolgungsermessens vom BKartA praktiziert Achtung: Solche Vergleiche sind nicht zu verwechseln mit Verpflichtungszusagen (Art. 9 VO 1/2003). Letztere kommen vor allem bei einseitigen Wettbewerbsbeschränkungen vor.
14 II. Rechtsschutzverfahren (1) 1. Rechtsschutz gegen Handeln der Kommission Art. 263 AEUV: Nichtigkeitsklage gegen Entscheidungen der Kommission Art. 265 AEUV: Untätigkeitsklage gegen Kommission (insbes. durch Beschwerdeführer) Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV: Erstinstanzliche Zuständigkeit des Gerichts (EuG) Art. 256 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV: Auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel zum EuGH
15 II. Rechtsschutzverfahren (2) 2. Rechtsschutz gegen Handeln der deutschen Behörden a) Beschwerdeverfahren 63 Abs. 4 GWB: Zuständigkeit des Oberlandesgerichts im Sitzland des BKartA ( OLG Düsseldorf) 63 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 GWB: Statthaftigkeit 63 Abs. 2, 54 Abs. 2 und 3 GWB: Beschwerdebefugnis 66 Abs. 1 GWB: Frist und Form (Einreichung bei der Ausgangsbehörde) 64 Abs. 1 GWB: Wirkung: in der Regel aufschiebende Wirkung 70 GWB: Geltung des Untersuchungsgrundsatzes (Handeln als Verwaltungsgericht) b) Weitere Beschwerde zum BGH ( Kartellsenat ) 74 Abs. 1 GWB: Statthaft, soweit vom OLG zugelassen 76 Abs. 2 S. 1 GWB: Reine Rechtsinstanz Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
16 II. Rechtsschutzverfahren (3) 2. Rechtsschutz gegen Handeln der deutschen Behörden c) Bußgeldverfahren 83, 84 GWB: Zuständigkeit für Überprüfung von Bußgeldentscheidungen auch bei OLG Düsseldorf und BGH Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
17 II. Rechtsschutzverfahren (4) 3. Zusammenarbeit deutscher Gerichte mit europäischer Ebene a) Verhältnis zur Kommission Art. 16 Abs. 1 VO 1/2003: Bindung an bereits getroffene Entscheidungen der Kommission; ev. Aussetzung bei laufenden Verfahren der Kommission Art. 15 Abs. 1 VO 1/2003: Fragen an die Kommission zur Anwendung des EU-Rechts Art. 15 Abs. 3 VO 1/2003: Stellungnahmen der Kommission und der nationalen Behörden an das nationale Gericht b) Verhältnis zum EuGH Art. 267 AEUV: Vorlagen nationaler Gerichte zum EuGH Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
18 III. Private Rechtsdurchsetzung (1) 1. Nichtigkeit von Verträgen Art. 101 Abs. 2 AEUV: Im Grundsatz nur ex-tunc-nichtigkeit der konkreten Klausel. Ob diese zur Nichtigkeit des Vertrages im Übrigen führt, ist eine Frage des anwendbaren Vertragsrechts 134 BGB i.v.m. 1 GWB: Nichtigkeit kartellrechtswidriger Verträge 139 BGB: Im Grundsatz vollständige Nichtigkeit, es sei denn es ist anderes bestimmt (sog. salvatorische Klausel) Beachte: Salvatorische Klausel führt nach Rspr. lediglich zu Beweislastumkehr. Wer sich auf die Gesamtnichtigkeit des Vertrages beruft, muss darlegen, dass Vertrag im Übrigen keinen Bestand haben kann.
19 III. Private Rechtsdurchsetzung (2) 2. Schadensersatz a) Europarechtliche Grundlagen Fall 53 (EuGH, Courage, C-453/99, ECLI:EU:C:2001:465): Courage, eine im Vereinigten Königreich niedergelassene Brauerei, verfügt über mehrere Pubs, deren Pächter ihr Bier bei Courage zu beziehen haben (Alleinbezugsverpflichtung). Dabei wurde eine Mindestbezugsmenge festgelegt. Ein Jahr nach Vertragsschluss verweigerte der Pächter Crehan die Zahlung für die Bierlieferungen, da Courage Bier an ungebundene Schankwirte viel billiger abgebe. Courage erhebt schließlich Zahlungsklage. Im Wege der Widerklage begehrt Crehan Schadensersatz. Der englische Court of Appeals legt den Fall dem EuGH vor. Der Court of Appeal hält einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV für gegeben. Nach englischem Recht könne aber eine Partei, die selbst an einem rechtswidrigen Vertrag beteiligt ist, nach dem Tort of breach of statutory duty keinen Schadensersatz verlangen. Das englische Gericht fragt den EuGH, ob sich aus dem EU-Recht eine Verpflichtung ergibt, Schadensersatz zu gewähren.
20 III. Private Rechtsdurchsetzung (3) 2. Schadensersatz a) Europarechtliche Grundlagen EuGH, Courage, C-453/99, ECLI:EU:C:2001:465: 25 Was die Befugnis angeht, Ersatz des Schadens zu verlangen, der durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder ein entsprechendes Verhalten verursacht worden ist, so müssen die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Gemeinschaftsrecht anzuwenden haben, die volle Wirkung von dessen Bestimmungen gewährleisten und die Rechte schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen verleiht (Rs. 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rdnr. 16; Rs. C-213/89, Factortame, Slg. 1990, I-2433). 26 Die volle Wirksamkeit des Artikels [101 AEUV] und insbesondere die praktische Wirksamkeit des in Artikel 81 Abs. 1 ausgesprochenen Verbots wären beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist.
21 III. Private Rechtsdurchsetzung (4) 2. Schadensersatz a) Europarechtliche Grundlagen EuGH, Courage, C-453/99, ECLI:EU:C:2001:465: 27 Ein solcher Schadensersatz erhöht nämlich die Durchsetzungskraft der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln und ist geeignet, von oft verschleierten Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können. ( ) 29 Mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung ist es jedoch Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sofern diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die entsprechender innerstaatlicher Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (siehe Urteil vom 10. Juli 1997 in der Rechtssache C-261/95, Palmisani, Slg. 1997, I-4025, Randnr. 27).
22 III. Private Rechtsdurchsetzung (5) 2. Schadensersatz a) Europarechtliche Grundlagen EuGH, Manfredi, C-294 und 298/04, ECLI:EU:C:2006:461: Anspruchsberechtigt ist jedermann, der in kausaler Weise einen Schaden erlitten hate Verjährung nach nationalem Recht unter Berücksichtigung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes Schadensberechnung nach nationalem Recht unter Berücksichtigung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes. Das nationale Recht darf eine ungerechtfertigte Bereicherung des Anspruchsstellers verhindern, muss aber nach dem Effektivitätsgrundsatz Ersatz auch für den entgangenen Gewinn gewähren EuGH, Kone, C-557/12, EU:C:2014:1317: Anspruchsberechtigt ist auch ein Unternehmen, dass bei einem Kartell als Kunde einen Vertrag mit einem Kartellaußenseiter geschlossen hat, aber dennoch einen Schaden erlitten hat, weil das Kartell zu einer allgemeinen Erhöhung des Marktpreises geführt hat (sog. Schirmeffekt; umbrella effect).
23 III. Private Rechtsdurchsetzung (6) 2. Schadensersatz a) Europarechtliche Grundlagen Heute: Richtlinie 2014/104/EU vom über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union Umsetzungsfrist am abgelaufen Umfassende Geltung (1) für kartellrechtswidrige Vereinbarungen und einseitige Verhaltensweisen und (2) auch für Verletzungen gegen nationales Recht Vorschriften sind dennoch für horizontale Hardcore-Vereinbarungen konzipiert
24 III. Private Rechtsdurchsetzung (7) 2. Schadensersatz b) Deutsches Recht Vor Courage: Schadensersatzanspruch nach 823 Abs. 2 BGB i.v.m. Art. 101 und 102 AEUV; 33 GWB a.f. Schutz nur nach Schutzzwecktheorie 2005: Schaffung des heutigen 33 GWB als Reaktion auf Courage Entwurf der 9. GWB-Novelle: Umsetzung der Schadensersatz-RL
25 III. Private Rechtsdurchsetzung (8) 3. Die Passing-on -Defence im Besonderen a) Ausgangslage nach der Courage-Rechtsprechung Problem: Bei einem Kartell werden die unmittelbaren Abnehmer den Schaden häufig den Schaden an die nachfolgende Wirtschaftsstufe weitergeben. Kann sich der Kartellbeteiligte bei einer Klage des unmittelbaren Abnehmers hierauf berufen? Wie sind Fälle zu lösen, in denen sowohl der unmittelbare, als auch der mittelbare Abnehmer einen Schaden einklagt? EuGH: Nach Manfredi ist anzunehmen, dass auch mittelbare Abnehmer einen Anspruch haben. Da nationales Recht die Bereicherung des Anspruchsstellers verhindern darf, ist die Passing-on-Defence europarechtlich zulässig. Folgeproblem: Die Passing-on-Defence verringert die Effektivität der Rechtsdurchsetzung. Daher Diskussion über Einführung von Gruppenklagen zugunsten der Verbraucher (Empfehlung der Kommission vom ohne Beschränkung auf Kartellrecht) Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb München
26 III. Private Rechtsdurchsetzung (9) 3. Die Passing-on -Defence im Besonderen b) Rechtslage nach dem aktuellen 33 Abs. 3 GWB 33 Abs. 3 S. 2 GWB: Kein Ausschluss der Passing-on-Defence, sondern Behandlung nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung BGHZ 190, 145 ORWI (2011): Anwendung der Grundsätze der Vorteilsausgleichung: Schaden ist mit dem ersten Vertrag entstanden, kein automatischer Verlust des Anspruchs, wenn Schaden weitergereicht wird Lösung des Konflikts zwischen Klägern auf verschiedener Wirtschaftsstufe über Regeln der Streitverkündung (Klagt Endverbraucher, kann Beklagter dem unmittelbaren Abnehmer den Streit verkünden, um Doppelverurteilung zu vermeiden)
27 III. Private Rechtsdurchsetzung (10) 3. Die Passing-on -Defence im Besonderen c) Rechtslage nach der Schadensersatz-RL Art. 3 RL: Grundsatz des vollständigen Schadensersatzes Art.12 Abs. 1 RL: Anspruchsberechtigung von unmittelbaren und mittelbaren Erwerber, aber nur für jeweils eigenen Schaden (Verhinderung einer Überkompensation sowie Garantie der Vermeidung der Nichthaftung des Verletzers) Art. 13 RL: Passing-on-Defence zulässig! Aber Beweislast für Weitergabe beim Schädiger, der jedoch Auskunft vom Kläger verlangen kann Art. 14 Abs. 1 und 2 RL: Mittelbarer Abnehmer hat Beweislast für Weitergabe des Schadens, aber Vermutung der Weitergabe, wenn der unmittelbare Abnehmer geschädigt wurde und der mittelbare Abnehmer vom unmittelbaren erworben hat. Art. 15 RL: Berücksichtigung von Parallelverfahren durch Gerichte von Parallelverfahren, um Doppelverurteilung zu vermeiden
28 III. Private Rechtsdurchsetzung (11) 4. Follow-on-Klagen Problem: Geschädigte sind oft nicht in der Lage, zu beweisen, dass sie Opfer eines Kartells geworden sind. In der Praxis ist daher die Erhebung von Schadensersatzklagen davon abhängig, dass zuvor das Kartell durch Kartellbehörden aufgedeckt wird 33 Abs.4 GWB (jetzige Fassung): Bindung des Gerichts an vorausgegangene Entscheidungen der Kommission oder einer jeden nationalen Kartellbehörde eines EU-Mitgliedstaates, soweit es um die Feststellung des Verstoßes geht Art. 9 Abs. 2 RL: Bindung an Entscheidungen von Kartellbehörden anderer Mitgliedstaaten nicht zwingend vorgeschrieben nur prima facie-beweis 9. GWB-Novelle ( 33b GWB n.f.): Keine Änderung beabsichtigt
29 III. Private Rechtsdurchsetzung (12) 5. Verhältnis Leniency und private Schadensersatzansprüche Merke: Die Leniency-Programme der Europäischen Kommission sowie der nationalen Kartellämter nehmen keine Auswirkung auf die Schadensersatzpflicht. Es haftet danach also auch der Leniency-Begünstigte Art. 11 Abs. 5 und 6 RL: Leniency wird aber beim Gesamtschuldnerausgleich berücksichtigt. Der Begünstigte muss im Innenverhältnis nicht mehr Schaden ersetzen, als denjenigen, den er seinen eigenen Abnehmern verursacht hat Hauptproblem: Zugang zu den Leniency-Akten der Wettbewerbsbehörden EuGH, Pfleiderer, C-360/09, EU:C:2011:389, Rn. 31; Donau Chemie, C-536/11, EU:C:2013:366, Rn. 48: Grundsätzlicher Anspruch auf Zugang zu den Leniency-Akten, wenn der Geschädigte darauf angewiesen ist, seinen Anspruch zu beweisen; aber auch EuGH, EnBW Energie Baden-Württemberg, C-365/12, EU:C:2014:112, Rn. 100 (mögliches öffentlichen Interesse an der Verweigerung im Grundsatz anerkannt). Art. 6 Abs. 6 RL: Grundsätzlicher Ausschluss der Offenlegung von Kronzeugenerklärungen und Vergleichserklärungen von Kartellteilnehmern (wohl keine Vereinbarkeit mit EuGH-Rechtsprechung)
30 III. Private Rechtsdurchsetzung (13) 6. Private Rechtsdurchsetzung und Kontrahierungszwang Merke: Besteht der Rechtsverstoß in der Verweigerung eines Vertragsschlusses, führen der Unterlassungs- und Schadensersatzanspruch ( 33 Abs. 1 und 3 GWB) zu einem Kontrahierungszwang. Der Geschädigte kann dann auf Vertragsschluss klagen Sonderkonstellation: Berufung auf Kartellrecht als Verteidigung gegen die Unterlassungsklage eines Inhabers eines standardessenziellen Patents (Argument: Kartellrechtswidrigkeit der Lizenzverweigerung) BGH GRUR 2009, 694 Orange-Book-Standard: Lösung nach Treu und Glauben ( 242 BGB: dolo facit- Einrede): Beklagter darf nur nutzen, wenn er ein unbedingtes und annahmefähiges Angebot unterbreitet und die angemessene Lizenzgebühr hinterlegt EuGH, Huawei, C-170/13, ECLI:EU:C:2015:477: Orange-Book-Standard widerspricht Art. 102 AEUV, jedenfalls in den Fällen einer vorherigen FRAND-Erklärung des Patentinhabers. Patentinhaber muss als erster Handeln und ein FRAND-konformes Angebot unterbreiten.
31 III. Private Rechtsdurchsetzung (14) 7. Vorteilsabschöpfung 34, 34a GWB: Möglichkeit der Vorteilsabschöpfung durch die Kartellbehörde und Verbände Sicherstellung, dass Rechtsverletzer Vorteile aus dem Verstoß nicht behalten Aber Vorrang der Schadensersatzklagen (keine Doppelbelastung) Einnahmen fließen auch bei Verbandsklagen in den Bundeshaushalt
32 III. Private Rechtsdurchsetzung (15) 8. Kollektiver Rechtsschutz? Bisherige Rechtslage: 33 Abs. 2 GWB: Nur Verbandsklagen mit Beschränkung auf Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen (Diskussion, ob Beseitigungsansprüche auch zur expost-kompensation von Geschädigten führen können) Kommissionsempfehlung zu Gruppenklagen 2014: gegen den toxic cocktail der US Class Actions für opt in und gegen opt out (anders jetzt Großbritannien) Kein Strafschadensersatz und keine contingency fees Deutschland: Diskussion über Musterklagen auch im Kartellrecht nach Vorbild des Kapitalmarktrechts.
33 III. Private Rechtsdurchsetzung (16) 9. Gerichtliche Durchsetzung a) Staatliche Gerichte 87 GWB: Zuständigkeit der Landgerichte Örtliche und internationale Zuständigkeit beurteilt sich nach allgemeinen Regeln (u.a. EuGVVO = Brüssel I-VO) 89 GWB: Konzentration in einzelnen Landgerichte möglich Merke: Voraussetzung ist, dass Kartellrecht überhaupt zur Anwendung kommt. Es muss sich nicht der Anspruch selbst aus dem Kartellrecht ergeben 90 Abs. 1 GWB: BKartA ist sofort zu informieren 90 Abs. 2 GWB: Beteiligungsrecht des BKartA
34 III. Private Rechtsdurchsetzung (17) 9. Gerichtliche Durchsetzung b) Schiedsgerichte Problem: Aber: Kartellrechtliche Klagen stellen sich häufig im Rahmen von Schiedsgerichtsverfahren (z.b. bei Lizenzverträgen). Anwendung des Kartellrechts nicht garantiert; Verfahren und Entscheidungen bleiben intransparent Nationales Recht lässt gerichtliche Überprüfung regelmäßig nur bei Verstößen gegen Ordre Public zu EuGH, Eco Swiss, C-126/97, ECLI:EU:C:1999:269: Vollständige Wirksamkeit des Unionsrechts verlangt umfassende Überprüfbarkeit der Kartellrechtsanwendung durch das staatliche Gericht, da nur dieses dem EuGH Anwendungsfragen vorlegen kann.
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