Das Gehirn ein Beziehungsorgan
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- Wilhelm Kappel
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1 Das Gehirn ein Beziehungsorgan Von der verkörperten Psyche zur Ökologie psychischer Störungen Thomas Fuchs
2 Die Welt im Kopf?
3 Der Ego-Tunnel Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel. Die moderne Neurowissenschaft hat gezeigt, dass der Inhalt unseres bewussten Erlebens nicht nur ein inneres Konstrukt, sondern auch eine höchst selektive Form der Darstellung von Information ist Unser Gehirn erzeugt eine Simulation der Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel. (Metzinger 2010)
4 The Brain in a Vat Im Prinzip könnten wir dieses Erlebnis der Welt also auch ohne Augen haben, und wir könnten es sogar als entkörpertes Gehirn in einer Nährlösung haben. (Metzinger 2010)
5 Psychische Krankheiten sind Gehirnkrankheiten... so haben wir vor allem in den psychischen Krankheiten jedesmal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen. Wilhelm Griesinger ( )
6 Mental Disorders are Brain Disorders Mental disorders are dysfunctions of brain circuits. Thomas R. Insel Director of the National Institute of Mental Health (NIMH)
7 Enzephaliatrie? Psychische Störungen werden damit zunehmend Gehirnfunktionsstörungen und unterscheiden sich nicht mehr grundsätzlich von anderen ZNS-Erkrankungen. (Maier 2002) Im Kern handelt es sich immer um ein Ungleichgewicht in der Biochemie der Zellen des Gehirns. ( ) Natürlich ist das individuelle Leid der Patienten eingebettet in die jeweiligen Lebensumstände ( ) Das eigentliche Problem aber wurzelt in Hirnprozessen, dort muss die Behandlung ansetzen. (Holsboer 2011)
8 Im Spiegel des Gehirns: Patienten über ihre Hirnscans Dieses Bild - das ist das genaueste Porträt, das du jemals haben kannst. Ein Bild davon, wer du wirklich bist. Innen drin. Ich sage den Leuten: Das ist mein Selbstporträt. Man braucht nicht Beschreibungen anzuhören oder sonst etwas, man kann es mit eigenen Augen sehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wichtig das für mich ist. All die Jahre, und nun können sie es endlich beweisen. Ich bin sicher, das macht einen riesigen Unterschied. Ich fühle mich schon anders. Fast wie neu. (Choudhouri u. Slaby 2012)
9 Konsultation des Psychiaters ( Clinical Neuroscientist )
10 Fragliche Fortschritte Decade of the brain ( ) Dekade des menschlichen Gehirns ( ) Decade of mental disorders ( ) Decade of translation ( ) Century of the brain ( ) There is great promise for development of more effective treatments in the upcoming decade (Insel, Understanding Mental Disorders as Circuit Disorders, 2014)
11 Deep Brain Stimulation has shown promise as a treatment for depression and OCD. (Insel 2014) may be a strategy to produce this type of targeted therapeutic change. (Krystal & State 2014)
12 Ökologie des Gehirns Die Welt ist nicht im Kopf. Das Ich ist nicht im Gehirn. Psychische Krankheiten sind nicht Gehirnkrankheiten.
13 Ökologie des Gehirns Einbettung des Gehirns in Wechselbeziehungen mit der natürlichen und sozialen Umwelt, als Vermittlungs- und Transformationsorgan für biologische, psychische und soziale Prozesse.
14 Überblick I. Ökologie des Gehirns II. Ökologische Sicht psychischer Krankheit
15 II. Ökologie des Gehirns
16 Kritik des neurowissenschaftlichen Reduktionismus Sind Erlebnisse (Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken) im Gehirn lokalisierbar? Der Mensch denkt, nicht das Gehirn. (Erwin Straus 1956) Das Gehirn ist nur ein Organ eines Lebewesens ein Vermittlungs- und Beziehungsorgan.
17 Austausch- und Kreisprozesse
18 Das Gehirn als Organ des Lebewesens Weder die Seele denkt und empfindet, noch das Gehirn; denn das Hirn ist eine physiologische Abstraktion, ein aus der Totalität herausgerissenes, vom Leib abgesondertes Organ. Das Gehirn ist nur solange Denkorgan, als es mit einem lebendigen Leib verbunden ist. Ludwig Feuerbach 1835
19 Menschlicher Geist ist lebendiger, verkörperter Geist.
20 Embodied Cognitive Science (Varela 1991, Clark 2000, Thompson 2007 u.a.) Bewusstsein ist verkörpert in der senso-motorischen Aktivität des Organismus in seiner Umwelt ( embodied, embedded, enactive ) Verknüpfung von Wahrnehmung und Bewegung Die erlebte Welt entsteht im Dialog zwischen der Aktivität des Lebewesens und den Antworten seiner Umgebung. Bewusstsein erstreckt sich über Leib und Umwelt (extended mind)
21 Embodied Cognitive Neuroscience Gehirn als Vermittlungs- und Beziehungsorgan für die Interaktionen von Organismus und Umwelt Funktion des Gehirns: statt inneren Repräsentationen Handlungsmöglichkeiten für den Organismus in seiner Umwelt
22 Ökologie des Gehirns (1) Interaktion von Gehirn und Organismus (2) Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt (3) Interaktion von Personen
23 (1) Interaktion von Gehirn und Körper Basales Selbst Körper Leibliches Hintergrunderleben, Kernbewusstsein basales, präreflexives Selbst
24 Biologische Grundlagen des Erlebens Das somatische Hintergrundempfinden setzt nie aus, obwohl wir es manchmal kaum bemerken, weil es keinen bestimmten Teil des Körpers, sondern den übergreifenden Zustand praktisch aller Bereiche repräsentiert. (Damasio 1995) Prozesse des Lebens und Prozesse des Selbsterlebens sind untrennbar miteinander verknüpft.
25 (1) Interaktion von Gehirn und Körper Gefühle Körper Leibliches Hintergrunderleben, Kernbewusstsein Stimmungen, Gefühle
26 Körper und Gefühle Auch Gefühle sind, biologisch betrachtet, gesamtorganismische Zustände, die nahezu alle Subsysteme des Körpers einbeziehen: zentrales und autonomes Nervensystem, endokrines und Immunsystem, Herz, Kreislauf, Atmung, Eingeweide und Ausdrucksmuskulatur (Mimik, Gestik und Haltung).
27 (2) Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt Umwelt Wahrnehmung Objekt Körper Bewegung Sensomotorischer Funktionskreis Ökologische Subjektivität
28 Zange! Repräsentationen: Die Welt im Kopf
29 Verkörperung: In-der-Welt-Sein /-Handeln kanonische Neurone Wahrnehmen Sensomotorischer Funktionskreis zuhanden Handeln
30 Verkörperte Wahrnehmung Wahrnehmen Funktionskreis zuhanden Handeln Ein Objekt zu erkennen bedeutet zu wissen, wie man mit ihm umgeht.
31 Instrumentengebrauch Instrument Körper ökologisches Selbst
32 (3) Interaktion von Personen Körper Körper Verkörperte Interaktionen Zwischenleibliche Resonanz soziales Selbst
33 Zwischenleiblichkeit Ausdrucksimitation (Meltzoff & Moore 1989)
34 Verkörperte soziale Wahrnehmung Früher Mutter-Kind-Dialog: - Proto-Konversationen, Affektabstimmung - Musikalische Qualitäten ( crescendo, decrescendo, fließend, weich, explosiv etc.) Erwerb affektiv-interaktiver Schemata: schemes of being-with, (D. Stern), implizites Beziehungswissen, zwischenleibliches Gedächtnis Andere zu verstehen heißt zu wissen wie man mit ihnen umgeht.
35 Rückwirkung auf Gehirnstrukturen Körper Körper Neuroplastizität
36 Gehirnentwicklung durch Interaktion Sur et al. (2000): Neuverschaltung des Sehnerven bei Frettchen Hör-Areal wird durch visuomotorische Stimulierung zum Seh-Areal Die Funktion schafft sich ihr zerebrales Organ.
37 Gehirnentwicklung durch Interaktion Erst durch das Denken wird das Hirn zum Denkorgan ausgebildet, ans Denken gewöhnt, und durch die Gewohnheit, dieses oder jenes, so oder so zu denken, auch modifiziert, bleibend bestimmt; aber durch das ausgebildete Denkorgan wird auch das Denken erst selbst gebildetes, geläufiges, gesichertes. Was Wirkung ist, wird zur Ursache, und umgekehrt. (Feuerbach 1838)
38 Wechselbeziehung von Prozess und Struktur Psyche top down bottom up Gehirn
39 Geist und Gehirn Das Gehirn dient als Matrix von interaktiven Erfahrungen. Es ist ein durch den Lebensvollzug, also sozial und biographisch geformtes Organ.
40 Zusammenfassung: Verkörperte Subjektivität (1) Leibliches Hintergrundempfinden basales Selbst (2) Beziehung von Organismus und und Umwelt (3) Verkörperte Intersubjektivität, Zwischenleiblichkeit ökologisches Selbst soziales Selbst Gehirn als Beziehungsorgan
41 Bewusstsein als Integral der Beziehung von Organismus und Umwelt Organismus Bewusstsein Umwelt Nur das Lebewesen als ganzes ist bewusst, nimmt wahr oder handelt.
42 II. Eine ökologische Sicht psychischer Krankheit
43 Sind psychische Krankheiten Gehirnkrankheiten? - Gehirn als Substrat? - Gehirn als Ursache? - Fehlschluss der Lokalisierung aufgrund von Aktivitätsunterschieden
44 Störungen der Respiration Dyspnoe: - O 2 - Verlegung der Atemwege - Hyperventilation - Anämie - Herzinsuffizienz - u.a. Alle Dyspnoen sind Lungenkrankheiten. (?)
45 Eine ökologische Sicht psychischer Krankheiten Monokausalität nur bei läsionsbedingten Ausfällen Statt monokausaler Ätiologie psychische Krankheit als zirkuläres Geschehen Wechselbeziehung biologischer, psychologischer, familiärer bzw. sozialer Einflüsse (d.h. innerorganismisch umweltbezogen) Statt Gehirn als Ursache Gehirn als Transformationsorgan
46 Psychische Krankheit als zirkuläres Geschehen: Beispiel Depression Epidemiologie: signifikante Zunahme in westlichen Gesellschaften Auslösung: Subjektiv wahrgenommene Belastungssituation Physiologische Stressreaktion Eigenwahrnehmung negative Rückkoppelung Subjektive Wahrnehmung als zentrale Komponente Selbstverhältnis als zentrale Komponente
47 Zirkuläre Prozesse: Selbstverhältnis Physiologische Symptome Dysfunktionale Reaktion des Organismus Subjektives Erleben Subjektive Bewertung/ Deutung
48 Psychische Krankheit als zirkuläres Geschehen: Interpersonaler Aspekt Psychische Krankheiten sind Beziehungsstörungen. Rückwirkung des Krankheitsverhaltens auf das soziale System Teufelskreise
49 Zirkuläre Prozesse II: Interpersonalität Dysfunktionale Reaktion des Organismus Subjektives Erleben Bewertung Beziehungsverhalten Interpersonale Reaktionen
50 Zusammenfassung: Psychische Krankheit als zirkuläres Geschehen Gehirn als Organ der Verknüpfung und Umwandlung der kreisförmigen Beziehungen des Krankheitsgeschehens Die subjektiven und interpersonalen Anteile des Krankheitsgeschehens werden vom neuronalen Substrat aufgenommen bzw. realisiert, haben aber selbst einen strukturierenden Einfluss auf dieses Substrat. Polyperspektivität in der Therapie
51 Makroebene (psychosozial) Mesoebene (organismisch) Mikroebene (neuronal/ molekular)
52 Zirkuläre Beziehung von Prozess und Struktur Psyche top down bottom up Gehirn
53 Therapie: Das Gehirn als Transformationsorgan Phänomenaler Aspekt Biologischer Aspekt Subjektives Erleben (Wahrnehmungen, Gefühle, Motive...) Hochstufige Prozesse (v.a. kortikal) top down bottum up Psychotherapie Psychopharmaka Basale Prozesse (z.b. Transmitter- Metabolismus im limbischen System)
54 Überblick Top-down-Wirkung von Psychotherapie Bottom-up-Wirkung von Pharmakotherapie Aktivitätsveränderungen nach KVT bzw. Pharmakotherapie bei Depression (Goldapple et al. 2004)
55 Resümee
56 (1) Ist das Subjekt im Gehirn? Nein. Subjektivität ist das In-der-Welt-Sein eines verkörperten Wesens. Ein Gehirn-im-Tank ist eine unsinnige Vorstellung. Das Gehirn ist nicht der Produzent, sondern der Vermittler psychischer Prozesse ein Beziehungsorgan.
57 (2) Ist die Welt im Gehirn? Nein. Die erlebte Welt ist immer die gemeinsame Welt verkörperter Subjekte. Gehirne konstruieren keine virtuellen Welten, sondern vermitteln die Wahrnehmung der Welt und der Anderen. Das Gehirn ist das Organ der Möglichkeiten realisieren kann diese Möglichkeiten nur die Person.
58 (3) Sind psychische Krankheiten nur Gehirnkrankheiten? Nein, denn Erleben und Verhalten eines psychisch kranken Menschen stellen selbst wesentliche Komponenten des Krankheitsgeschehens dar. Keine psychische Erkrankung kann unabhängig von der Subjektivität und den interpersonalen Beziehungen des Patienten diagnostiziert, beschrieben oder behandelt werden. Psychische Krankheiten sind immer Krankheiten der Person in ihrer Beziehung zu anderen Personen.
59 Psychiatrie als Beziehungsmedizin Wir selbst sind das Instrument, das die Tiefen der Seele des Patienten sondiert, das mit seinen Gefühlen mitschwingt, seine verborgenen Konflikte entdeckt und die Gestalt seiner wiederkehrenden Verhaltensmuster erkennt. John C. Nemiah ( )
60 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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