1.3 Wirkorte Tab. 1.2 Leitsymptom veränderte Beweglichkeit Bewegungssystem Innere Organe Verhalten und Erleben Bewegungsentwicklung/- kontrolle Ursachen verminderter Beweglichkeit Gelenk: Kapsel (Kapselmuster festes Endgefühl, reduziertes Joint play, v. a. Traktion) reduzierte Gleitbewegung der Gelenkflächen (z. B. durch Fettbrücken) führt zum Überwiegen der Rollkomponente im Gelenk Dezentrierung (festes Endgefühl, Gleiten kann auch unter Kompression eingeschränkt sein) Muskelverkürzung: Unterschied zwischen reflektorischer und struktureller Muskelverkürzung Faszien: Verklebungen durch Narben, Hämatome Eiweiße fördern Verklebungen Haut, Unterhaut (z. B. durch Narben) Neuralstrukturen: reduzierte intra- und extraneurale Beweglichkeit Vermehrte Beweglichkeit: Unterschied zwischen Hypermobilität und Instabilität Hypermobilität: Bewegungsleitsystem ist intakt Instabilität: Bewegungsleitsystem ist nicht intakt (z. B. Strukturzerstörung des Ligaments) Verminderte Beweglichkeit des Bewegungssystems führt zu reduzierter Organbewegung, die Einfluss auf den lokalen Stoffwechsel des Organs hat (arteriell, venös, lymphatisch) Veränderte Bewegung hat Einfluss auf die Durchblutung der Strukturen des Bewegungssystems Verklebungen der Bindegewebsschichten der inneren Organe beeinflusst die Beweglichkeit des Bewegungssystems (z. B. Atemwegserkrankungen beeinflussen die Thoraxmobilität, Verklebungen der Pleurablätter) Reduzierte Beweglichkeit kann den Patienten in seiner Selbstständigkeit im Alltag beeinträchtigen Frustration Instabilität kann Ängste vor bestimmten Bewegungen auslösen (z. B. habituelle Schulterluxation) Bewegung ist auch Körpersprache Gefühle werden durch Bewegung ausgedrückt Verminderte Bewegungsfähigkeit behindert den Patienten in seinem Bewegungsausdruck Bewegungserleben ist auch Körpererleben Immobilität eines Gelenks verändert die Arthrozeption (z. B. Gelenk- und Muskelrezeptoren registrieren weniger Bewegung und Spannungsveränderungen: die Funktionsstörung eines Facettengelenks verändert den Tonus der autochthonen Muskulatur) Intra- und intermuskuläre Koordination verändern sich durch Schonung und Nichtgebrauch Schonung und Nichtgebrauch führen zur Abnahme der kortikalen Repräsentanz (Kandel et al. 1996) Hypermobilität und Instabilität verändern ebenfalls die Propiozeption (z. B.: bei Ruptur eines Ligaments fehlt die Meldung der Rezeptoren über die Stellung des Gelenks im Raum) 19
Charakteristika der Physiotherapie in der Orthopädie Tab. 1.3 Leitsymptom verändertes Bewegungsverhalten Bewegungssystem Innere Organe Verhalten und Erleben Bewegungsentwicklung/ -kontrolle Veränderte Belastbarkeit von Körperstrukturen beeinflusst das Bewegungsverhalten Der Körper entwickelt eigenständig Strategien, die Einfluss auf die Belastung haben Bewegungsarmut wiederum führt zur Veränderung der Belastbarkeit, fehlende Belastungsreize lassen Körperstrukturen schneller degenerieren Veränderte Beweglichkeit und Schmerz von Strukturen des Bewegungssystems haben Veränderung des Bewegungsverhaltens im Sinne der Schonung des Störherdes zur Folge (z. B. Leitsymptome Schmerz und veränderte Beweglichkeit im Bereich der unteren Extremität führen zu Veränderungen des Ganges, Treppensteigen, Aufstehen/Hinsetzen, Anziehen von Schuhen und Strümpfen) Schmerz und veränderte Beweglichkeit der oberen Extremität führen zur Veränderung von Greifbewegungen und Überkopfarbeiten (z. B. Painful arc bei subakromialen Schmerzsyndromen) Feinmotorische Tätigkeiten (v. a. bei Störungen im Bereich der Hand) Schmerz und veränderte Beweglichkeit in LWS und thorakolumbalem Übergang beeinflussen v. a. die gleichen Tätigkeiten wie die untere Extremität BWS und HWS beeinflussen v. a. Armund Kopfbewegungen Kopfgelenke beeinflussen auch das Gleichgewicht Leitsymptome Schmerz und veränderte Beweglichkeit können den Einsatz von Hilfsmitteln erforderlich machen (z. B. Gehen an Unterarmgehstützen) Biomechanische Hintergründe fördern das Verständnis für die Entstehung von Kompensationsmechanismen zur Schonung bestimmter Körperstrukturen (z. B. Duchenne führt zur Lastarmverkürzung und reduziert damit die Belastung des Hüftgelenks) Reduzierte Beweglichkeit und Schmerz führen zu vorzeitig weiterlaufenden Bewegungen und können damit benachbarte Körperregionen überlasten Schmerzen und veränderte Beweglichkeit der inneren Organe haben Schonhaltungen zur Folge (z. B. Tonuserhöhungen des Diaphragmas führen zur Lateralflexion zur gestörten Seite) Mangelnde Thoraxmobilität durch Atemwegserkrankungen hat Einfluss auf Armbewegungen und Gang Schmerzen im Bewegungssystem können zu Vermeidungsstrategien führen der Patient traut sich aus Angst vor Schmerz nicht mehr, endgradig zu bewegen und entwickelt Kompensationsmechanismen Hinkmechanismen beim Gehen sind dem Patienten eventuell peinlich Der Patient lehnt Hilfsmittel ab, weil er sich behindert fühlt Gefühle haben Einfluss auf das Bewegungsverhalten(z. B. erhöht Angst den Muskeltonus, Bewegungen wirken starr, Patient zieht die Schultern hoch) Depressive Menschen zeigen Bewegungsarmut, die Körperhaltung verändert sich Bewegungsverhalten im Sinne der Schonung des Störherdes wird subkortikal gesteuert, daher besteht der Kompensationsmechanismus häufig noch nach der Beseitigung des Gewebsschadens (z. B. Patient mit Totalendoprothese nach Koxarthrose geht weiterhin mit den gleichen Hinkmechanismen wie präoperativ den Basalganglien hat niemand gesagt, dass das zerstörte durch ein neues Hüftgelenk ersetzt wurde ) 20
Kapitel 2 Leitsymptome in der Orthopädie 2.1 Leitsymptom Schmerz 22 2.2 Leitsymptom veränderte Bewegungen verminderte Beweglichkeit 81 2.3 Leitsymptom veränderte Bewegungen vermehrte Beweglichkeit mangelnde Bewegungskontrolle 129 2.4 Leitsymptom verändertes Bewegungsverhalten 162
Leitsymptome in der Orthopädie 2 Leitsymptome in der Orthopädie 2.1 Leitsymptom Schmerz 2.1.1 Definitionen Bei Schmerz handelt es sich um eine unangenehme sensorische und emotionale Empfindung, die mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung verbunden ist oder im Sinne einer solchen Beschädigung beschrieben wird (Merskey u. Bogduk 1994). Schmerz ist die Perzeption eines körperlichen Ereignisses mit folgenden Merkmalen: Körperliche Wahrnehmung, die während gewebeschädigender oder potenziell gewebeschädigender Reize (nozizeptive Wahrnehmung) auftritt. Die Erfahrung einer Bedrohung des Körpers, die diese nozizeptive Wahrnehmung begleitet. Ein unangenehmes Gefühl, das die nozizeptive Wahrnehmung und die Erfahrung der Bedrohung des Körpers begleitet (modifizierte Definition Price 1999). In dieser neuen Definition wird die Annahme vermieden, dass Schmerz immer durch ein aktuelles oder potenziell gewebeschädigendes Ereignis gebunden ist. Das Leitsymptom vieler orthopädischer Erkrankungen ist der Schmerz, der den Patienten zum Arzt und anschließend zum Physiotherapeuten führt. Die Lebensqualität wird durch einen dauerhaft bestehenden Schmerz massiv beeinträchtigt. Die Erwartung des Patienten an den Arzt und den Physiotherapeuten ist meistens die möglichst schnelle Reduzierung des Schmerzes. Neuere Schmerzerkenntnisse lassen diese Erwartungen an Bedeutung gewinnen. Die schnelle Beseitigung des Schmerzes vermeidet zentrale Hypersensibilisierung. Wiederholte und lang andauernde Schmerzen haben eine Veränderung der zentralen Schmerzumschaltstellen im Sinne einer Hypersensibilisierung zur Folge. Dadurch werden physiologische Afferenzen derart verändert, dass sie als Schmerz wahrgenommen werden. Der Patient empfindet Schmerz, obwohl keine Gewebeschädigung mehr vorliegt. Dies ist die Besonderheit des chronischen Schmerzes. Die Schmerzwahrnehmung ist subjektiv und kann bei einzelnen Patienten sehr differieren. Es besteht eine enge Verflechtung zwischen Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung. Psychosoziale Faktoren bestimmen die Schmerzwahrnehmung. Der Schmerz wird von unseren Gedanken und Gefühlen beeinflusst. Die Nervenbahnen, die Informationen über Komponenten wie Lokalisation und Intensität eines schädlichen Reizes weiterleiten, unterscheiden sich von denjenigen, die affektive oder emotionale Reize transportieren. Unsere Reaktion auf einen schädlichen Reiz spiegelt die Aktivitäten beider Systeme wider. Physiotherapeuten behandeln in der Orthopädie sowohl Patienten mit akutem als auch chronischem Schmerz. Schmerzeinteilung Akuter Schmerz Ihm gehen eine Gewebeschädigung oder ein mehr oder weniger bedrohlicher Reiz voraus. Dieser nützliche Schmerz macht den Organismus darauf aufmerksam. Die Gewebeschädigung muss nicht immer mit einem akuten Trauma verbunden sein, sondern kann auch aus einer Überlastung von Körperstrukturen resultieren. Akuter Schmerz entsteht durch gewebeschädigende chemische, mechanische oder thermische Reize. Bleibt der Reizherd bestehen, kann sich die akute Symptomatik über unbegrenzte Zeit erstrecken. Merke H Besteht der Schmerz über einen langen Zeitraum, manifestiert sich der zunächst sinnvolle und nützliche Schmerz durch fehlerhafte Anpassungsprozesse des Nervensystems möglicherweise körperlich. Das bedeutet, er kann bestehen bleiben, ohne dass er weiter benötigt wird! Wird die Schmerzwahrnehmung zu sensibel (Hypersensibilisierung), werden auch unschädliche Reize (z. B. mechanische) als Schmerz weitergeleitet. Dieser unnütze Schmerz wird auch chronifizierter oder neuropathischer Schmerz genannt. 22
2.1 Leitsymptom Schmerz Chronischer Schmerz Für chronischen Schmerz existieren unterschiedliche Definitionen. Die International Association for the Study of Pain (IASP) definiert chronischen Schmerz als einen Schmerz, der entweder dauernd oder intermittierend schon 6 Monate auftritt (IASP 2004). Günstiger ist es, den Aspekt der Gewebeheilung in die Definition mit einzubeziehen. Die Bezeichnung chronische Schmerzen sollte auf jene Fälle begrenzt werden, in denen Schmerzen über einen Zeitraum von 6 Monaten andauern, obwohl sie durch normale Heilungsprozesse hätten beseitigt sein müssen (Linton 1996). Dadurch werden Patienten mit Krankheitsbildern wie beispielsweise chronischer Polyarthritis nicht in den Kreis chronischer unnützer Schmerzen eingereiht. Der Nachteil der Definition besteht darin, dass sie von vornherein von einer vorausgegangenen Gewebeschädigung ausgeht, die sich aber nur bei einer Minderheit chronifizierter Schmerzpatienten feststellen lässt. Die Auffassung von chronischem Schmerz hat sich in letzter Zeit insofern verändert, als für die Definition nicht primär die Dauer, sondern mehr die Art des Schmerzes verantwortlich ist. Es wurde erkannt, dass der Schmerz in vielen Fällen nicht mehr nozizeptive Vorgänge widerspiegelt, sondern ein Eigenleben entwickelt. Dabei stehen psychologische Aspekte im Vordergrund, denn der Schmerz ist nicht nur Ausdruck einer Gewebeschädigung, sondern auch dessen, was er in positiver oder negativer Hinsicht für den Patienten bedeutet. Die positiven Erfahrungen dienen als positive Verstärker der Chronifizierung. Beispiele Positiv: Erfahrung körperlicher Zuwendung (z. B. durch Hands-on-Therapien); nicht mehr arbeiten müssen. Negativ: Soziale Isolation; Schlaflosigkeit. Linton (1999) sieht das primäre Ziel aller sich mit muskuloskelettalen Schmerzen befassenden Therapeuten darin, Risikopatienten zu identifizieren, bei denen die Gefahr der Chronifizierung von Schmerzen und Behinderungen besteht. Er hebt die Tatsache hervor, dass bei vielen Patienten mit akuten muskuloskelettalen Schmerzen die Gefahr einer Chronifizierung droht. Physiotherapeuten müssen ein klinisch nützliches Verständnis von Schmerz entwickeln. Dabei reicht die nüchterne Betrachtung von Schmerzzentren und -bahnen sowie beteiligten Neuronen und chemischen Interaktionen nicht aus. Schmerz muss in einem größeren, vielschichtigen, mehrdimensionalen Kontext untersucht werden. Das soziale Umfeld des Patienten wie die Familie und die Arbeit wird genauso berücksichtigt, wie seine Art der Auffassung und Bedeutung des Schmerzes. Ebenso muss Schmerz auf forschende, diagnostische Art betrachtet werden mit dem Ziel, dem Patienten adäquate Erklärungen und Prognosen abzugeben und die bestmögliche Grundlage für die Behandlung zu erarbeiten. Das Geschick des Therapeuten besteht in der Fähigkeit, aus vielen Ebenen mehrdimensionale Informationen für seine Behandlung heranzuziehen (Giffords Mature Organism Model MOM, van den Berg 2000 u. 2001). Dimensionen von Schmerzwahrnehmung Nach Melzack und Wall (1996) lassen sich die 3 folgenden Dimensionen unterscheiden: Sensorisch-diskriminierende Schmerzdimension: Bereich, Intensität und Verhalten des Schmerzes werden wahrgenommen. Kognitiv-evaluierende Schmerzdimension: Die Einstellung des Patienten zum Schmerz wird durch vorangegangene Erfahrungen und Kenntnisse beeinflusst (hat z. B. eine physiotherapeutische Maßnahme Schmerzen verursacht, signalisiert der Patient beim nächsten Mal früher eine Schmerzauslösung). Affektiv-motivationale Schmerzdimension: Gedanken des Patienten über und emotionale Reaktion auf den Schmerz (z. B. Wut, Angst, Furcht, Besorgnis). Alle Dimensionen sind essenzielle Teile der Schmerzerfahrungen und arbeiten zusammen, um physiologische Outputs zu ändern und damit schließlich auch das Schmerzverhalten des Patienten zu beeinflussen. Negative Gedanken über Verletzung und Schmerz können das autonome und neuroendokrine System stimulieren. Diese belasten wahrscheinlich wiederum das sensorische System. Gleichzeitig werden geänderte Bewegungsmuster unter Einfluss unbewusster Verarbeitungsprozesse des Schmerzes benutzt. 23