Die IV-Revision im Kontext der aktivierenden Sozialpolitik

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Transkript:

Die IV-Revision im Kontext der aktivierenden Sozialpolitik Prof. Dr. Eva Nadai 4. Invaliditätstagung, Lenzburg 15. März 2007 1

5. IV-Revision im Überblick Sparen Leistungsanspruch erst ab Anmeldung Mindestbeitragsdauer 3 Jahre Kostenüberwälzung medizinischer Massnahmen an Krankenkassen Abschaffung Karrierezuschlag Aufhebung von Zusatzrenten Abklärung durch regionale ärztliche Dienste Angleichung Taggeldsystem an ALV Früherkennung und Begleitung Integrationsmassnahmen mit Pflicht zur Mitwirkung finanzieller Ausgleich bei Erhöhung Erwerbsgrad Integrieren 2

Hintergrund: Krise des Sozialstaats Finanzierung sozialstaatlicher Sicherungssysteme demographische, fiskalische, wirtschaftliche Faktoren Steuerungsprobleme Umverteilung falsche Anreize Legitimationsprobleme Markt als überlegener Steuerungsmechanismus Sozialpolitik als Standortfaktor! Umbau des Sozialstaats 3

Rentenexplosion? Quelle: BSV, IV Statistik 2006 4

gebremster Anstieg der Neurenten Quelle: BSV, IV-Statistik 2006 5

Der neue Sozialstaat: Aktivieren, Investieren, Strafen Aktivieren Eigenverantwortung Gegenleistung Investieren Sozialpolitik als Instrument für Wettbewerbsfähigkeit Investition in Humankapital als Förderung von Beschäftigungsfähigkeit Indirekte Unterstützung anstatt direkte Transfers Markt- oder marktähnliche Steuerungsmechanismen für soziale Dienste Kontrollieren und Strafen Verhaltenskontrollen Sanktionen für mangelnde Eigenverantwortung staatliche Leistung gegen Arbeitspflicht! Sozialleistungen nur für die echt Bedürftigen 6

Etappen des Umbaus in der Schweiz ALV Teilrevisionen 1995, 2002 Sozialhilfe Revisionen SKOS 1998, 2005 IVG Revision 2007? 7

sichtbare und unsichtbare Handicaps "Körperliche Ohnmacht, (...) eine möglichst unheilbare Krankheit, für den Blick möglichst unerträgliche Gebrechen sind stets die besten Passierscheine gewesen, um in den Genuss von Fürsorge zu kommen." (Robert Castel) Quelle: BSV, IV-Statistik 2006 8

IV-Rente anstatt Frühpensionierung? Quelle: BSV, IV-Statistik 2006 9

IV-Beziehende im Spiegel der IV-Revision Sie akzeptieren Bescheide nicht! (Rekursproblem) Sie wollen sich nicht integrieren! (Selbsteingliederungspflicht) Sie profitieren von höheren Einkommen! (Karrierezuschlag) Sie arbeiten auf (lebenslange) Rente hin! (verzögerte Anmeldung) Sie kommen gratis zum Recht! Sie kommen gratis zum Recht! (Kostenpflicht vor Versicherungsgericht) Sie verbünden sich mit Ärzten! (RAD anstatt Hausarzt) 10

scharf beobachtet: Früherfassung und Begleitung Begründung 80% der IV-Renten krankheitsbedingt Verhinderung von Chronifizierung keine systematische Erfassung nicht berufsbedingter Krankheiten Durchführung Fachstellen der IV bzw. Delegation an andere Versicherungsträger Funktionen Beratung, Abklärung, Triage Schätzung: 500 Dossiers pro Vollzeitstelle, rund 20 000 Fälle Abklärung keine Meldepflicht breiter Kreis an Meldeberechtigten ab 4 Wochen Arbeitsunfähigkeit und Verdacht auf Chronifizierung Abklärung auch ohne Einwilligung der Betroffenen 11

Selbsteingliederungspflicht Pflichten ab Anmeldevorschlag der FEB-Stelle Mitwirkungspflicht Mitwirkung an: Frühintervention, Integrationsmassnahmen, Massnahmen beruflicher Art medizinischen Behandlungen Sanktionen: Kürzungen und Verweigerungen von Leistungen (Geld u. Sachleistungen) Rechte kein Rechtsanspruch auf Massnahmen der Frühintervention kein Anspruch auf Taggeld während Frühintervention Taggeld während Massnahmen zur Vorbereitung auf berufliche Eingliederung Zumutbarkeit prinzipiell jede Massnahme, die der Eingliederung dient, sofern sie dem Gesundheitszustand der versicherten Person angemessen ist 12

Optimale Verwertung der Restarbeitsfähigkeit : Integrationsmassnahmen Begründung Frühintervention: Erhalt des Arbeitsplatzes bzw. neuer Arbeitsplatz Unterstützung psychisch Kranker und beruflich Unqualifizierter Eingliederung statt Rente Ansatzpunkte Frühintervention (nach Anmeldung, bis 6 Monate) Vorbereitung auf berufliche Eingliederung (ab 6 Monaten Arbeitsunfähigkeit, bis 1 Jahr) Massnahmen zur beruflichen Eingliederung Massnahmen Beratung von Betroffenen und Arbeitgebern Anpassung Arbeitsplatz Ausbildungskurse Arbeitsvermittlung (in Zusammenarbeit mit RAV) Berufsberatung sozialberufliche Rehabilitation Beschäftigungsmassnahmen Einarbeitungszuschüsse (maximal 180 Tage) 13

Integration durch Beschäftigungsmassnahmen? zwischen Ausrichtung am Markt und Betreuung Logik des Marktes: Leistung, Qualifizierung, Ausrichtung am Arbeitsmarkt Logik der Unterstützung: Herstellung von Handlungsfähigkeit im Einzelfall Konformitätstest Nachweis von Arbeitswilligkeit Nachweis von minimaler Beschäftigungsfähigkeit begrenzter Erfolg Massnahmen schaffen keine Arbeitsplätze Kurse und Ausbildung nützen mehr als Beschäftigungsmassnahmen Einzelarbeitsplätze nützen mehr als kollektive Beschäftigungsprogramme Risiko der Massnahmenkarrieren 14

Fallstricke der Aktivierungspolitik Ungleicher Vertrag viele Pflichten, wenig Rechte für Betroffene Betroffene: Sanktionen für mangelnde Mitwirkung Institutionen: Folgenlosigkeit von Erfolglosigkeit Paradoxe Annahmen Passivität versus Handlungsfähigkeit Sanktionen trotz Anreizen Leistungserwartung an die Leistungsschwachen Rekommodifizierung Verschärfung der Handicapologie : Behinderung entbindet nicht von Arbeitspflicht Delegitimierung von arbeitsfreien Einkommen Stigmatisierung von Hilfsbedürftigkeit " Konvergenz von Sozialversicherungen und Sozialhilfe 15

Aktivierung als Empowerment? Verhältnis von Rechten und Pflichten keine Massnahmen ohne Mitsprache der Betroffenen Anreize ohne Sanktionen Rechtsanspruch der Betroffenen auf Massnahmen differenzierte Massnahmen Nur Erwerbsarbeit versus Tätigkeiten jenseits des Arbeitsmarkts Qualität vor Tempo Investitionen in die Betroffenen Qualifizierung anstatt nur Beschäftigung Qualifikationsverbesserungen ermöglichen Bearbeitung sozialer Probleme Professionalisierung der Institutionen längerfristige Integrationsbegleitung fachlich qualifiziertes Personal angemessene Fallbelastung 16