LE 1 Allgemeines Völkerrecht und Rechtsfragen der Globalisierung 1 Lektion 1 ALLGEMEINES VÖLKERRECHT UND RECHTSFRAGEN DER GLOBALISIERUNG 9/11 Die Anschläge auf das Word Trade Center in New York am 11. September 2001 haben die Weltöffentlichkeit erschüttert. Im Gefolge dieser Vorfälle sah und sieht sich die internationale Staatengemeinschaft in zunehmendem Ausmaß mit neuartigen Problemen konfrontiert. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus scheinen die klassischen völkerrechtlichen Instrumente wie bi- oder multilaterale Abkommen, wirtschaftliche Sanktionen gegen einzelne Staaten oder im Extremfall Kriegshandlungen weitgehend ineffektiv zu sein. Dies hängt damit zusammen, dass im Rahmen einer globalisierten Welt terroristische Vereinigungen vermehrt ohne Bindung an einzelne Regierungen und über Staatsgrenzen hinweg agieren und somit oftmals schwer einzelnen Staaten zurechenbar sind. Auch treffen pauschale Bekämpfungs- oder Vergeltungsmaßnahmen gleichgültig, ob wirtschaftlicher oder militärischer Natur, die an Terroristen selbst, aber auch gegen ihre Förderer oder Hintermänner gerichtet sind, häufig die unschuldige Zivilbevölkerung in ungleich stärkerem Ausmaß als jene, deren Bekämpfung sie bezwecken. Die USA (und ihre Verbündeten) reagierten auf den Anschlag zunächst mit einem militärischen Angriff auf Afghanistan, hauptsächlich mit der Begründung, das dortige Taliban-Regime unterstütze Al-Qaida-Terroristen, oder gewähre ihnen zumindest ein Rückzugsgebiet ("safe haven"). Dieses Argument wurde auch beim nachfolgenden Angriff auf den Irak unter seinem Diktator Saddam Hussein angedeutet ("axis of evil"); hauptsächlich wurde dieser Schritt aber mit der Gefährdung des internationalen Friedens durch den Bestand von Massenvernichtungswaffen im Irak eine später zurückgezogene Behauptung sowie mit dem Schutz der Menschenrechte der irakischen Bevölkerung begründet. In beiden Fällen fehlten ermächtigende Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrates. Wohl aber gab es später Beschlüsse des Sicherheitsrates, durch die die UNO-Mitgliedstaaten zu anderen Maßnahmen verpflichtet wurden, ua etwa dazu, Konten von namentlich in diesen Beschlüssen genannten Personen einzufrieren, von denen angenommen wird, sie seien Mitglieder der Al-Qaida. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was ist das Völkerrecht und welcher Instrumente bedient es sich? Wem kommt Handlungsfähigkeit im internationalen Spektrum zu? Wie sind die Vereinten Nationen aufgebaut und worin bestehen ihre Aufgaben? Was ist unter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU zu verstehen und welche Handlungsformen stehen zur Verfügung?
2 Allgemeines Völkerrecht und Rechtsfragen der Globalisierung LE 1 Was sind dabei die Interessen von Industrienationen und Entwicklungsländern? Ist die Kompetenzverteilung zwischen EU und ihren Mitgliedstaaten praktikabel in einer globalisierten Welt? Was sind die rechtlichen Grundlagen für das politische Handeln der EU auf internationaler Ebene?
LE 1 Allgemeines Völkerrecht und Rechtsfragen der Globalisierung 3 Inhalt I. Begriff, Wesen und Grundsätze des Völkerrechts... 5 II. Quellen des Völkerrechts... 6 A. Allgemeines... 6 B. Die Völkerrechtsquellen im Überblick... 6 1. Völkerrechtliche Verträge... 6 2. Völkergewohnheitsrecht... 7 3. Allgemeine Rechtsgrundsätze... 7 4. Richterliche Entscheidungen und Lehrmeinungen... 8 III. Subjekte des Völkerrechts... 8 A. Übersicht... 8 B. Staaten... 8 1. Staatsvolk... 9 2. Staatsgebiet... 9 3. Staatsgewalt... 9 4. Entstehen und Untergehen von Staaten... 10 C. Internationale Organisationen... 11 1. Allgemeines... 11 2. Die Vereinten Nationen... 13 IV. Ausgewählte Regelungsbereiche des materiellen Völkerrechts... 19 A. Internationaler Menschenrechtsschutz... 19 1. Internationale Abkommen... 19 2. Human Rights Clauses in internationalen Verträgen der EU... 20 3. Handelssanktionen als politisches Instrument... 20 B. Internationales Umweltrecht... 20 C. Internationales Strafrecht... 21 1. Extraterritoriale und internationale/universelle Gerichtsbarkeit... 21 2. Kriegsverbrechertribunale... 22 3. Der Internationale Strafgerichtshof... 23 V. Rechtsdurchsetzung im Völkerrecht... 23 VI. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union... 24 A. Die Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik... 24 B. Wesen und Ziele der GASP... 25 1. Intergouvernementalität und Rechtspersönlichkeit... 25 2. Ziele und Mittel der GASP... 26 C. Welche EU-Organe handeln in der GASP?... 26 D. Instrumente der GASP... 27 1. Rechtscharakter der GASP-Akte... 28 2. Kompetenzen des Europäischen Rates... 28 3. Kompetenzen des Rates... 28 VII. Rechtsfragen der Globalisierung... 28 VIII. Weiterführende Literatur... 31 IX. Wiederholungsfragen... 31
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LE 1 Allgemeines Völkerrecht und Rechtsfragen der Globalisierung 5 I. Begriff, Wesen und Grundsätze des Völkerrechts Das Völkerrecht umfasst jene Rechtsvorschriften, welche die Beziehungen zwischen Völkerrechtssubjekten (siehe zu diesen Abschnitt III.) regeln und nicht dem autonomen Recht eines dieser Völkerrechtssubjekte zugehören. Diese Vorschriften haben Rechtscharakter, mag es auch vorkommen, dass sich die Völkerrechtssubjekte aus politischen Erwägungen über völkerrechtliche Verpflichtungen hinwegsetzen und diese Rechtsverletzungen sanktionslos bleiben (siehe unten Abschnitt V.). Die Grundsätze des modernen Völkerrechts kommen in der Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen vom 24.10.1970 (UN-Prinzipiendeklaration 1970) zum Ausdruck, verdichten sich aber in zahlreichen weiteren Rechtsakten der internationalen Gemeinschaft. Im Einzelnen wird das Völkerrecht von folgenden Grundsätzen geleitet: Grundsatz des Gewaltverbots Jeder Staat hat die Pflicht, in seinen internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen. Grundsatz der friedlichen Streitbeilegung Jeder Staat hat seine internationalen Streitigkeiten mit anderen Staaten durch friedliche Mittel (etwa durch Verhandlung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch oder gerichtliche Entscheidung) beizulegen. Grundsatz des Interventionsverbots Kein Staat hat das Recht, in die inneren oder äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen. Grundsatz der internationalen Zusammenarbeit Die Staaten haben die Pflicht, in den verschiedenen Bereichen der internationalen Beziehungen miteinander zusammenzuarbeiten. Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker Alle Völker haben das Recht, frei und ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten. Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten Alle Staaten genießen souveräne Gleichheit. Sie haben gleiche Rechte und Pflichten und sind ungeachtet wirtschaftlicher, sozialer, politischer und anderer Unterschiede gleichberechtigte Mitglieder der internationalen Gemeinschaft (vgl zb den Abstimmungsgrundsatz "ein Staat - eine Stimme" in internationalen Organisationen). Grundsatz von Treu und Glauben Jeder Staat hat seine völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Treu und Glauben (bona fides) zu erfüllen, also unter Achtung der Gemeinschaftswerte und der Interessen der anderen Mitglieder.