Heimerziehung nach dem DDR- System Erreichtes und Offenes in einem komplexen Spannungsfeld Fachtagung des TMSFG zur DDR- Heimerziehung Erfurt 12.10.2012 Prof. Dr. Birgit Bütow (Jena/Marburg)
Gliederung 1. Würdigung des Erreichten 2. Nachhaltigkeit von Aufarbeitung 3. Sicht auf das System von DDR-Jugendhilfe 4. Strukturelle Probleme von Heimerziehung im komplexen Spannungsfeld 5. Zusammenfassung und Ausblick
1. Würdigung des Erreichten Langer Weg des Gehört-Werdens und der Anerkennung des erfahrenen Unrechts von DDR- Heimkindern Wiederholung von Marginalisierung und Stigmatisierung von DDR-Heimkinderfahrungen Betroffene als Aktive (Verfassungsbeschwerde 2009) Politisch: initiative Rolle von Thüringen, Arbeitskreis, Thüringer Modell, Bundestagsbeschluss über DDR- Heimkinder, Anlauf- und Beratungsstellen Trend: gesellschaftliches Klima der differenzierten Aufarbeitung nach über 20 Jahren
1. Würdigung des Erreichten in Thüringen Einberufung eines Thüringer Runden Tisches Juni (2010): Rahmen für eine sachliche, differenzierte und offene Auseinandersetzung mit DDR- Jugendhilfe, insbesondere für Betroffene AK Kindesmisshandlung/Kindesmissbrauch in ehemaligen DDR-Kinderheimen und Jugendwerkhöfen (Reinhard Höppner als Vorsitzender) Prävention und Aufarbeitung sollten zusammen gedacht und bearbeitetet werden (Untergruppen)
1. Würdigung des Erreichten in Thüringen Die Aufgaben der AG Aufarbeitung Klärung der methodologischen Grundlagen zur historischen Aufarbeitung von DDR-Heimkindern bzw. DDR-Jugendhilfe: Fragestellungen, Synopse vorhandener bzw. Vergabe von Aufträgen an Dritte; Hinzuziehung von Betroffenen/anderen Expert/innen optimierte Vernetzung von Schnittstellen (Jugendhilfe, Rehabilitierung von SED-Opfern; Optimierung von Hilfen), die Aktenlagerung/Aktenbewertung sowie die Prüfung von rechtlichen, finanziellen und therapeutisch-beraterischen Hilfsangeboten Unterstützung der individuellen Aufarbeitung: z.b. verbesserte Akteneinsicht für Betroffene, Netzwerk von traumatologisch erfahrenen Therapeut/innen in Thüringen initiieren
Das Thüringer Modell der Aufarbeitung von Erfahrungen der DDR-Heimkinder (vgl. Bütow 2011) Ausgangspunkt: DDR-Heimerfahrungen als nicht gelebte Kindheit und Jugend mit vielen Tabus bis in die Familien Fortsetzung von Objektstatus, Fremdbewertung, Ausschluss vermeiden psychosoziale Folgeschäden Betroffener bedürfen spezifischer, professioneller Begleitung und zugleich einer systematischen Erhebung: Re- Viktimisierungen vermeiden Settings von Schutz, Transparenz und Vertrauen: Betroffene und ihre Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt stehen Erinnerungsarbeit im Kleinen statt großer Tribunale enge Rückkopplung zwischen AG und Betroffenen, v.a. über Manfred May
AG: Zuhören lernen Biographien und Erfahrungen von DDR-Heimkindern an vier Orten in Thüringen Betroffene: einen Ort der Sprache, des Gehört- Werdens gegeben, konkrete Wünsche und Vorstellungen zur individuellen und gesellschaftlichen Aufarbeitung konnten identifiziert werden. Hürden, über erfahrene Torturen zu reden, sind selbst in Familien hoch Frustration und Angst von Betroffenen im Umgang von Institutionen mit ihren Schicksalen (Arbeitsagentur, Jugendamt), nicht selten begegnen ihnen die früheren Peiniger AG: Reden über das Erfahrene, Schmerzhafte, Unsagbare Zerrspiegel von DDR-Gesellschaft
Ergebnisse der AG Initiierung und Begleitung der Installation von Hilfen für Betroffene in Thüringen (z.t. auch federführend in der Bundesrepublik für DDR- Heimkinder) Expertenanhörungen (Sozialwissenschaftler, Historiker, Juristen) Publikationen, Tagungen, Öffentlichkeitsarbeit Übergang nach 2012 zu einem Beirat, der die Anlaufstelle Thüringen weiterhin zur Seite steht
2. Nachhaltigkeit von Aufarbeitung Langfristperspektive für Betroffene: Akteneinsicht, Gehört-Werden, professionelle Begleitung ( Thüringer Modell ) Sicherstellung und Ausbau therapeutischer Hilfen Erstellung von Datenbanken für Betroffene und ihre Familien, Forschung Thema für nachwachsende Generationen (z.b. Schule, Jugendbildung) Kritische Erinnerungs- und Anerkennungskultur von Leid und Unrecht statt Abspaltung und einseitiges Vorwärtsdenken
3. Sicht auf das System von DDR- Jugendhilfe Erzieher/innen: Aufarbeitung im Kleinen, Klima des Redens, Anerkennung von Schuld statt Schön-Reden und Abspalten Einrichtungsgeschichte/n ( Gedächtnisse von Organisationen ) Sozialräumliche Öffentlichkeit: Wie kann es gelingen, dass Betroffene wieder mit erhobenem Haupt durch ihr Dorf gehen können? erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten (vgl. Konjunkturen von repressiven Ansätzen): Thema ist marginal, Forschungsförderung schwierig
Bilder aus dem ehemaligen JWH Hummelshain, April 2011
4. Strukturelle Probleme von Heimerziehung im komplexen Spannungsfeld Heimerziehung als komplexer Speicher von gesellschaftlichen Konflikten (Maurer) (Familien- vs. Fremderziehung; Hilfe und Kontrolle; Verhältnis Staat-Familie im Kontext von Kindeswohl) Herausforderungen an Disziplin, Profession und Politik (vgl. Winkler; Wolf) Wie kann Heimerziehung gelingen? Wie kann eine Wiederholung von repressiven, die Würde und Persönlichkeit von Kindern verletzende Heimpraxis verhindert werden? (Missbrauch, Kindeswohlgefährdung, Kinder- und bzw. vs. Familienrechte) Komplexe Fragen komplexe Antworten
4. Strukturelle Probleme von Heimerziehung im komplexen Spannungsfeld Kriterien von Inobhutnahmen und Fremdplatzierung im Kontext von komplizierten Familiendynamiken Norm und Abweichung Gestaltung von Beziehungen im Heimkontext: Vertrauen als zentrale Herausforderung; Zwiespalt zwischen emotionaler Zuwendung und professionellem Handeln, grenzwahrendes Verhalten (Bütow 2012) viele Ambivalenzen: Notwendigkeit einer Atmosphäre von Offenheit und Transparenz statt Diskreditierung Fachkräfteproblem: hohe Belastung, Dienstzeiten und hohe Erwartungen
4. Strukturelle Probleme von Heimerziehung im komplexen Spannungsfeld Politische Antworten auf Präventionsherausforderungen: Gesetze, Maßnahmen, Empfehlungen, Kriterien-Kataloge, Checklisten normativer Rahmen: Reduktion von Handlungsunsicherheit und Rechtssicherheit Erhöhung des Drucks auf Träger und Einrichtungen Erhöhung des Misstrauens gegenüber Institutionen der Heimerziehung, aber auch gegenüber Familien Hilfe und Kontrolle aus dem Gleichgewicht Professionalisierungsproblem: Ausbildungsstrukturen fordern Effektivität statt Reflexivität; Heimerziehung tendenziell in einer Randständigkeit
5. Zusammenfassung und Ausblick Umfassende, alle Seiten berücksichtigende Lösungen von historischen wie aktuellen Konflikten in der Heimerziehung gibt es nicht Vielfalt an Ansätzen und Ebenen = Prozessorientierung statt Konjunkturen Wachhalten der gesellschaftlichen Debatten und Kontroversen um Erziehung und Fremdplatzierung, auch im Kontext sozialer Ungleichheit hohe Bedeutung von Erfahrungen der Geschichte wichtiger Beitrag DDR-Heimkinder und ihrer Begleiter/innen: Erinnerungs- und Anerkennungskultur Notwendigkeit des intensiveren Engagements von Disziplin und Profession für Geschichte und Zukunft von Heimerziehung