Gesellschaftlicher Wandel und soziale Sicherheit sozialpolitische Diskurse im Widerstreit



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Transkript:

Schweizer Kälte-Forum 2013 Gesellschaftlicher Wandel und soziale Sicherheit sozialpolitische Diskurse im Widerstreit Prof. Dr. Carlo Knöpfel, FHNW

Die Kühlkette sollte niemals unterbrochen werden! 2

3

Inhalt 1. Quellen sozialer Sicherheit 2. Sozialpolitische Diskurse 3. Sozialpolitische Leitlinien 4

Teil 1 Quellen sozialer Sicherheit 5

Generalstreik 1918: Zürich, Paradeplatz 6

Fundament: Arbeitsgesellschaft 1950-1975 Normalarbeitsverhältnis Ernährerlohnmodell Sozialversicherungsstaat Nationalstaatlich begrenzte Volkswirtschaft Sozialer Lift Pyramidenförmiger Altersaufbau Eigenverantwortung 7

Arbeitsgesellschaft Schweiz 8

Soziale Sicherheit als Primat der Sozialpolitik Soziale Sicherheit 9

Ziele sozialer Sicherheit Ziele für sich und seine Angehörigen sorgen können vor den Wechselfällen des Lebens geschützt sein für das Alter Vorsorge leisten können Prof. Dr. C. Knöpfel FHNW 10

Quellen sozialer Sicherheit I: Erwerbsarbeit Soziale Sicherheit Erwerbsarbeit 12

Einer Erwerbsarbeit nachgehen und ein Lohneinkommen erzielen Erwerbsarbeit als primäre Quelle sozialer Sicherheit Erwerbsarbeit als Identitätsmoment («ich arbeite, also bin ich») Lohnprozente zur Finanzierung der Sozialversicherungen 13

Quellen sozialer Sicherheit II: Familie Familie Soziale Sicherheit Erwerbsarbeit 14

Lohneinkommen in den Familienhaushalt einbringen Familie als sekundäre Quelle sozialer Sicherheit Eltern haben Pflichten gegenüber den Kindern und ihren Eltern wahrzunehmen Verwandtenunterstützungspflicht im Notfall 15

Quellen sozialer Sicherheit III: Sozialstaat Familie Sozialstaat Soziale Sicherheit Erwerbsarbeit 16

vor Lohnausfällen schützen Nationale Sozialversicherungen nach dem Kausalprinzip Kantonale Sozialtransfers nach dem Zielgruppenprinzip Kommunale Sozialhilfe nach dem Finalprinzip 17

18

19

Gesellschaftlicher Wandel und soziale Sicherheit Sozialer Wandel Familie Wirtschaftlicher Wandel Sozialstaat Soziale Sicherheit Erwerbsarbeit Demographischer Wandel 20

Facetten des gesellschaftlichen Wandels 1975 bis heute Wirtschaftlicher Wandel Globalisierung und Standortwettbewerb Dritte technologische Revolution Sozialer Wandel Individualisierung Vielfalt familiärer Lebensformen Demographischer Wandel Verschiebung der Gewichte zwischen den Altersgruppen Wachsender Einfluss der Migration 21

Folgen I: Schleichende Abkehr vom Normalarbeitsverhältnis Verzögerte Übergänge: Generation Praktikum! Neue Arbeitszeitformen: Flexibilisierung! Atypische Arbeitsverhältnisse: Prekarisierung! Unstete Erwerbsbiographien: Tätigkeitsportfolio! Entwertung des Humankapitals: permanentes Lernen! 22

Folgen II: Schleichende Abkehr von der bürgerlichen Kleinfamilie Familie wird es immer geben, aber die Form wandelt sich Familien werden kleiner und grösser zu gleich Familienfrauen bleiben mehrfach belastet, weil die innerfamiliäre Arbeitsteilung nicht stattfindet Familien werden bi-kulturell Familien werden geographisch dispers 23

Folgen III: Schleichende Abkehr vom Sozialversicherungsstaat Keine neuen Sozialversicherungen Kein weiterer Ausbau der materiellen Leistungen Schleichende Begrenzung der Leistungen und des Versichertenkreises Engere Verknüpfung von Existenzsicherung und Integration: fordern und fördern 24

Teil 2 Sozialpolitische Diskurse 25

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 1 Der Sozialstaat wird zu teuer und muss zurückgefahren werden 26

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 1 Der Sozialstaat wird zu teuer und muss zurückgefahren werden Steigende Kosten der sozialen Sicherheit gefährden Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die Standortqualität der Schweiz Begrenzung des Sozialstaates über Teilrevisionen und Forderung nach einer Schuldenbremse Verlagerung der Lasten vom Bund auf die Kantone und Gemeinden (und die Betroffenen) Primat der Leistungsgerechtigkeit und Geringschätzung des gesellschaftlichen Zusammenhalts 27

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 2 Der Sozialstaat hat primär eine aktivierende Aufgabe 28

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 2 Der Sozialstaat hat primär eine aktivierende Aufgabe Relativierung der Existenzsicherung und Betonung der arbeitsmarktlichen Integration mit dem Motto «fordern und fördern» Betonung der Schadenminderungspflicht ohne verpflichtenden Einbezug der Wirtschaft Gleichsetzung von «arbeitsfähig» und «arbeitsmarktfähig» Zunehmende Bedeutung der sozialen Integration für Langzeitarbeitslose (Sozialhilfeverrentung) 29

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 3 Der Sozialstaat darf nicht missbraucht werden 30

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 3 Der Sozialstaat darf nicht missbraucht werden Dominierende Befürchtung, dass sozialstaatliche Leistungen erschlichen werden: Scheinasylanten, Scheininvalide, Sozialschmarotzer Höhere Eintrittsbarrieren in den Sozialstaat: Karenzfristen, Testarbeitsplätze Ausbau der Sanktionen bis hin zur Ausschaffung Unterstützungsleistungen nur für die wirklich Arbeitslosen, Invaliden und Armen Kritik der Verhältnismässigkeit und Betonung des Leistungs- und Gegenleistungsmodells 31

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 4 Der Sozialstaat muss verteidigt werden 32

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 4 Der Sozialstaat muss verteidigt werden Die Schweiz kann sich einen guten Sozialstaat für alle leisten Der Sozialstaat muss den gesellschaftlichen Wandel nachvollziehen Es braucht soziale Innovationen: Ergänzungsleistungen für Familien, eine Allgemeine Erwerbsausfallversicherung und ein Bundesrahmengesetz zur Existenzsicherung und Integration Gefordert wird eine eine investive Sozialpolitik, welche die Chancengerechtigkeit betont 33

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 5 Der Sozialstaat muss fundamental neu gestaltet werden H Ä L F T E / M O I T I É 34

Sozialpolitische Diskurse Diskurs 5 Der Sozialstaat muss fundamental neu gestaltet werden Soziale Sicherheit neu denken: das bedingungslose Grundeinkommen Entkoppelung der Erwerbsarbeit und der Existenzsicherung Radikale Liberale möchten mit einer negative income tax den Sozialstaat «verwesentlichen» Radikale Progressive möchten mit dem Bürgergeld ein sozialstaatliches Fundament bauen 35

Ein sozialpolitischer Kompromiss tut Not Der Sozialstaat steht unter Druck Zentrale sozialpolitische Werte wie Solidarität und Chancengerechtigkeit verlieren an Bedeutung Der Wert des sozialen Friedens für den Standort Schweiz gerät in Vergessenheit Die sozialpolitischen Akteure blockieren sich niemand will sich bewegen Fazit: Wem es gelingt, neue sozialpolitische Kompromisse zu formulieren, wird die Sozialpolitik der nächsten Jahre dominieren. 36

Teil 3 Sozialpolitische Leitlinien 37

Einige sozialpolitische Leitlinien I Die politische und soziale Stabilität ist ein zentraler Standortfaktor Sozialpartner auf das Primat der Erwerbstätigkeit verpflichten Weiter in die Bildung, Forschung und Entwicklung investieren Endlich eine offenen Gesellschaft mit einem hohem Mass an Chancengerechtigkeit realisieren 38

Einige sozialpolitische Leitlinien II Prosperierende Wirtschaft und ein guter Sozialstaat gehören zusammen Steuerbasierte Finanzierung der soziale Sicherheit ausbauen Mehr Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Karriere für beide Geschlechter ermöglichen Personenfreizügigkeit dank effektiven flankierenden Massnahmen erhalten 39

Einige sozialpolitische Leitlinien III Das «flexicurity»-konzept ist eine zentrale Orientierungshilfe Balance von flexiblem Arbeitsmarkt und soziale Sicherheit wieder herstellen Soziale Sicherheit als Voraussetzung für Innovationsfähigkeit erkennen Arbeitsmarktfähigkeit (employability) für alle fördern 40

Einige sozialpolitische Leitlinien IV Aus- und Umbau des Sozialstaates als Kompensation für einen flexiblen Arbeitsmarkt und sehr belastete Familien verstehen working poor-haushalte besser absichern Familien bei Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen unterstützen Nachhaltige Finanzierung der sozialen Sicherheit sicher stellen 41

Wirtschaft und Sozialstaat wachsen im Gleichschritt 42

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!