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Transkript:

Bsw 16354/06 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Mouvement Raëlien Suisse gg. die Schweiz, Urteil vom 13.7.2012, Bsw. 16354/06. Art. 9, 10 EMRK - Verbot der Plakatwerbung durch die Raël-Bewegung. Zurückweisung der Einrede der Regierung (einstimmig). Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (9:8 Stimmen). Keine gesonderte Untersuchung der Beschwerde unter Art. 9 EMRK (einstimmig). B e g r ü n d u n g : Sachverhalt: Die bf. Vereinigung ist der nationale Zweig der sogenannten Raël-Bewegung. Nach ihren Statuten ist es das Ziel der Bewegung, erste Kontakte und gute Beziehungen zu Außerirdischen herzustellen. Anhänger der Bewegung glauben, dass wissenschaftlicher und technischer Fortschritt von fundamentaler Bedeutung sind und dass es u.a. durch Klonen für die Menschen möglich sein wird, unsterblich zu werden. In manchen Texten der Bewegung wird zudem das Regierungsmodell der»geniokratie«befürwortet eine Lehre, wonach Macht nur denjenigen zugestanden werden soll, die auf der höchsten Stufe der Intelligenz stehen. Am 7.3.2001 beantragte die Bf. bei der Polizeidirektion der Stadt Neuenburg die Genehmigung einer Plakatkampagne. Im oberen Teil des Plakats fand sich in großen gelben Schriftzeichen auf dunkelblauem Hintergrund die Aussage:»Die Nachricht von Außerirdischen«; im unteren

2 Bsw 16354/06 Teil des Posters fand sich in gleicher Größe, aber fettgedruckt die Webadresse der Bewegung zusammen mit einer französischen Telefonnummer. Ganz unten stand der Satz»Die Wissenschaft wird am Ende die Religion ersetzen«und in der Mitte befanden sich Bilder von Gesichtern von Außerirdischen, einer Pyramide, einer fliegenden Untertasse und der Erde. Die Polizeidirektion lehnte den Antrag am 29.3.2001 ab, da die Bewegung sich Aktivitäten gewidmet habe, die der öffentlichen Ordnung entgegen stünden und unmoralisch seien. Der Gemeinderat Neuenburg wies ein Rechtsmittel der Bf. am 19.12.2001 zurück. Diese Entscheidung wurde am 27.10.2003 vom Raumnutzungsamt Neuenburg bestätigt. Das Verwaltungsgericht für den Kanton Neuchâtel wies die Berufung der Bf. am 22.4.2005 ab. Das Bundesgericht wies eine weitere Berufung der Bf. am 20.9.2005 ebenfalls ab. Es kam zu dem Schluss, dass das Plakat eindeutig als Einladung zum Besuch der Website der Bf. oder zur Kontaktaufnahme mit ihr per Telefon angesehen werden musste und daher zu untersuchen war, ob die fragliche Website Informationen, Daten oder Links enthielt, die geeignet waren, Menschen zu kränken oder das Gesetz zu verletzen. Zum einen verwies das Bundesgericht sodann darauf, dass auf der Internetseite der Gesellschaft Clonaid, die über die Homepage der Bewegung erreichbar sei, spezifische Dienstleistungen bezüglich des Klonens und der Eugenik angeboten würden. Zum anderen betonte es, dass die Lehre der»geniokratie«offensichtlich geeignet sei, die demokratischen und antidiskriminatorischen Überzeugungen zu kränken, die den Rechtsstaat stützen. Außerdem seien zahlreiche Mitglieder der Bewegung wegen sexueller Praktiken mit Kindern strafrechtlich verfolgt worden. Die

3 Bsw 16354/06 Entscheidung gegenüber der Bf. sei daher durch ausreichende Gründe des öffentlichen Interesses gerechtfertigt, da es notwendig sei, die Begehung von strafbaren Handlungen nach Schweizer Recht wie Klonen zu Fortpflanzungszwecken und sexuelle Handlungen mit Kindern zu verhindern. Bestimmte Passagen (insbesondere über das»sinnliche Erwachen«von Kindern und»geniokratie«) aus Werken, die über die Website der Bf. verfügbar waren, wären zudem sehr dazu angetan, Leser ernsthaft zu kränken. Rechtsausführungen: Die Bf. rügt, das Verbot ihrer Plakate würde gegen ihr Recht nach Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) verstoßen. Daneben sei ihr Recht nach Art. 9 EMRK (Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit) verletzt. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK Hinsichtlich der Einrede der Regierung, die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet, weist die Große Kammer darauf hin, dass die I. Kammer in ihrem Urteil festgestellt hat, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet sei. Es gibt keine Gründe, von diesem Ergebnis abzuweichen. Der GH weist daher die Einrede der Regierung zurück (einstimmig). Inhaltlich hatte die Kammer durch das Verbot der Plakate einen Eingriff in Art. 10 EMRK festgestellt, der allerdings gesetzlich vorgesehen war und die legitimen Ziele der Verhütung von Straftaten, des Schutzes der Gesundheit und Moral und des Schutzes der Rechte anderer verfolgte. Zur Notwendigkeit des Eingriffs stellte die Kammer zwar fest, dass das Plakat keine unrechtmäßigen oder schockierenden Inhalte aufwies, aber die Webadresse der Bf. zeigte. Unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs und

4 Bsw 16354/06 insbesondere der über die Website verbreiteten Ideen und der dortigen Links kam sie zum Schluss, dass die Schweizer Gerichte ihre Entscheidungen sorgfältig begründet und ihren weiten Ermessensspielraum hinsichtlich der Nutzung von öffentlichem Raum nicht überschritten hätten. Es steht nicht in Streit, dass die Bf. durch das Verbot der Plakatkampagne eine Beschränkung ihres Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit erlitt. Im vorliegenden Fall hält es der GH nicht für notwendig zu untersuchen, ob die Beschränkung eine negative oder positive Verpflichtung berührt, da das Verbot jedenfalls einen Eingriff darstellte und der Staat in beiden Fällen einen bestimmten Ermessensspielraum genießt. Der vorliegende Fall ist insofern einzigartig, als er die Frage aufwirft, ob die nationalen Behörden gehalten waren, der Bf. zu erlauben, ihre Ideen durch eine Plakatkampagne zu verbreiten, indem sie ihr für diesen Zweck einen bestimmten öffentlichen Raum zur Verfügung stellten. Wie die Kammer und das Schweizer Bundesgericht festgestellt haben, haben Individuen kein vorbehaltloses und uneingeschränktes Recht auf die erweiterte Nutzung von öffentlichem Raum, insbesondere hinsichtlich Einrichtungen, die für Werbung und Informationskampagnen gedacht sind. Der Ermessensspielraum, der den Staaten unter Art. 10 EMRK hinsichtlich der Beurteilung der Notwendigkeit und des Ausmaßes eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit zukommt, variiert abhängig von einer Zahl von Faktoren. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Art der fraglichen Äußerung. Während unter Art. 10 Abs. 2 EMRK wenig Raum für die Einschränkung politischer Äußerungen gegeben ist, kommt den Staaten ein weiteres Ermessen zu, wenn sie die Meinungsfreiheit hinsichtlich

5 Bsw 16354/06 Angelegenheiten regeln, die geeignet sind, intime persönliche Überzeugungen im Rahmen von Moral oder insbesondere Religion zu kränken. Desgleichen genießen die Staaten einen weiten Ermessensspielraum, wenn es um die Regelung von Äußerungen in gewerblichen Sachen oder Werbung geht. Im vorliegenden Fall kann vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass die Plakatkampagne hauptsächlich versuchte, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Ideen und Aktivitäten einer Gruppe mit angeblich religiöser Assoziation zu ziehen. Die Website der Bf. bezieht sich daher nur beiläufig auf soziale oder politische Ideen. Die gegenständliche Äußerung ist nach Ansicht des GH nicht politisch, da das Hauptziel der Website ist, die Leute auf den Zweck der Bf. hinzuweisen und nicht, politische Fragen anzusprechen. Sogar wenn die Äußerungen der Bf. aus dem Kontext der Wirtschaftswerbung herausfallen, da kein Anreiz zum Kauf eines speziellen Produkts geliefert wird, steht sie gewerblichen Äußerungen näher als politischen Äußerungen per se, da sie eine bestimmte bekehrende Funktion hat. Das staatliche Ermessen ist daher weiter. Angesichts der vorstehenden Ausführungen zum Umfang des staatlichen Ermessensspielraums befindet der GH, dass nur schwerwiegende Gründe dazu führen könnten, seine eigene Beurteilung an die Stelle jener der nationalen Behörden zu setzen. Der GH muss folglich die Gründe untersuchen, die die Behörden angeführt haben, um die fragliche Plakatkampagne zu verbieten, zusammen mit dem Umfang des Verbots, um sich zu vergewissern, ob diese Gründe»maßgeblich«und»ausreichend«waren und ob daher angesichts des Ermessensspielraums für die nationalen Behörden der Eingriff verhältnismäßig zu den verfolgten

6 Bsw 16354/06 Zielen war und ob er einem»dringenden sozialen Bedürfnis«entsprach. Die Parteien haben darüber diskutiert, ob es angebracht war, zum Zwecke der Untersuchung der Notwendigkeit der strittigen Maßnahme wie die nationalen Gerichte den Inhalt der Website der Raël-Bewegung zu berücksichtigen, deren Adresse auf dem fraglichen Plakat angegeben war. Unter Bedachtnahme auf den Grundsatz, dass die Konvention und ihre Protokolle im Lichte der heutigen Voraussetzungen ausgelegt werden müssen, war die Kammer der Ansicht, dass die Website zu berücksichtigen sei, da die Auswirkungen der Plakate auf die allgemeine Öffentlichkeit durch die Bezugnahme auf die Webadresse vervielfacht worden wäre, weil die Website für jedermann einschließlich Minderjähriger zugänglich war. Der angefochtene Eingriff muss im Lichte des Falles als Ganzem untersucht werden, um festzustellen, ob er»verhältnismäßig zum verfolgten legitimen Ziel ist«und ob die von den nationalen Behörden zur Rechtfertigung angeführten Gründe»maßgeblich und ausreichend«erscheinen. Da das fragliche Plakat eindeutig das Ziel hatte, die Aufmerksamkeit der Leute auf die Website zu lenken (die Adresse der Website war fettgedruckt), wäre es für den GH unlogisch, allein das Plakat selbst zu betrachten. Es ist vielmehr notwendig, den Inhalt der Website zu untersuchen. Was die Gründe als solche anbelangt, bemerkt der GH wie schon die Kammer dass die fünf nationalen Behörden, die den Fall untersuchten, ausführliche Gründe für ihre Entscheidungen lieferten, um zu erklären, warum sie es für angemessen hielten, die Plakatkampagne nicht zu genehmigen. Das Bundesgericht nahm insbesondere auf Art. 10 EMRK und die Rechtsprechung des GH in diesem

7 Bsw 16354/06 Bereich Bezug und untersuchte die Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Maßnahme. Im Rahmen der Feststellung, dass die Weigerung, die Kampagne zu genehmigen, gerechtfertigt gewesen sei, untersuchte das Bundesgericht nacheinander jeden der Gründe, auf den sich die unteren Gerichte gestützt hatten, nämlich die Förderung des Klonens, die Befürwortung der»geniokratie«und die Möglichkeit, dass die Literatur und Ideen der Raël-Bewegung zum sexuellen Missbrauch von Kindern führen könnten. Auch wenn einige dieser Gründe gesondert betrachtet nicht geeignet wären, die angefochtene Weigerung zu rechtfertigen, ist der GH der Ansicht, dass die nationalen Behörden angesichts aller Umstände des Falles vernünftigerweise berechtigt waren zu erwägen, dass es unabdingbar war, die fragliche Kampagne zu verbieten, um die Gesundheit und Moral sowie die Rechte anderer zu schützen und Straftaten zu verhüten. Der GH sieht keinen Anlass dafür, von den Erwägungen der Kammer abzugehen. Folglich befindet der GH, dass die von den nationalen Behörden geäußerten Bedenken auf maßgeblichen und ausreichenden Gründen beruhten. Die Kammer war der Ansicht, dass die angefochtene Maßnahme letztendlich im Umfang beschränkt war, da es der Bf. freistand,»ihre Überzeugungen durch zahlreiche andere ihr verfügbare Mittel der Kommunikation zum Ausdruck zu bringen«. Die Kammer verwies auch darauf, dass»es nie in Frage gestanden ist, die Bf. selbst oder ihre Website zu verbieten«. Die Bf. rügte, dass diese Ansicht der Kammer widersprüchlich wäre und einer exzessiven Erschwerung der

8 Bsw 16354/06 Verbreitung ihrer Ideen gleichkomme, da ihr verboten sei, Informationen über Plakate zu verteilen, weil sie eine Website hatte; wenn sie aber die Adresse ihrer Website auf einem Plakat angab, wurde sie unter dem Vorwand, dass dies eine Verbindung zu ihren Ideen schaffen würde, die angeblich gefährlich für die Öffentlichkeit waren, daran gehindert. Der GH ist aber wie die Regierung der Ansicht, dass eine Unterscheidung getroffen werden muss zwischen dem Ziel der Vereinigung und den Mitteln, die sie zum Erreichen dieses Ziels verwendete. Folglich wäre es im vorliegenden Fall vielleicht unverhältnismäßig gewesen, aus den oben genannten Gründen die Vereinigung selbst oder ihre Website zu verbieten. Den Umfang der angefochtenen Einschränkung auf die Zurschaustellung der Plakate an öffentlichen Orten zu beschränken war daher ein Weg, um eine nur minimale Beeinträchtigung der Rechte der Bf. sicherzustellen. Angesichts der Tatsache, dass die Bf. in der Lage ist, ihre Ideen weiterhin über ihre Website und auch über andere, ihr verfügbare Mittel wie die Verteilung von Flugblättern auf der Straße oder in Briefkästen zu verbreiten, kann die angefochtene Maßnahme nicht als unverhältnismäßig angesehen werden. Im Ergebnis haben die nationalen Behörden im vorliegenden Fall ihren weiten Ermessensspielraum nicht überschritten und waren die Gründe, die sie für die Rechtfertigung ihrer Entscheidungen angeführt haben,»maßgeblich und ausreichend«und folgten einem»dringenden sozialen Bedürfnis«. Der GH sieht deshalb keinen ernsthaften Grund dafür, seine eigene Beurteilung an die Stelle jener des Bundesgerichts setzen zu müssen, da dieses die gegenständliche Frage sorgfältig und in Einklang mit den in der Rechtsprechung des GH ausgearbeiteten Grundsätzen

9 Bsw 16354/06 untersucht hat. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (9:8 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Bratza; gemeinsames Sondervotum der Richter und Richterinnen Tulkens, Sajó, Lazarova Trajkovska, Bianku, Power-Forde, Vucinic und Yudkivska sowie der Richter Sajó und Vucinic und Richterin Lazarova Trajkovska; Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque). Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK Der GH erachtet es wie die Kammer nicht für notwendig, die Beschwerde gesondert unter Art. 9 EMRK zu untersuchen (einstimmig). Anmerkung Die I. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 13.1.2011 (NLMR 2011, 12) die Beschwerde einstimmig für zulässig erklärt und mit 5:2 Stimmen festgestellt, dass Art. 10 EMRK nicht verletzt worden sei sowie einstimmig befunden, dass es nicht notwendig sei, die Beschwerde auch unter Art. 9 EMRK zu untersuchen. Vom GH zitierte Judikatur: Handyside/GB v. 7.12.1976 = EuGRZ 1977, 38 Müller u.a./ch v. 24.5.1988 = EuGRZ 1988, 543 = ÖJZ 1989, 182 Murphy/IRL v. 10.7.2003 = NL 2003, 203 Tüzel/TR v. 21.2.2006 Tüzel/TR (Nr. 2) v. 31.10.2006 Association Rhino u.a./ch v. 11.10.2011 Hinweis: Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.7.2012, Bsw. 16354/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 243) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem

10 Bsw 16354/06 OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt. Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf- Format): www.menschenrechte.ac.at/orig/12_4/raelien Suisse.pdf Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.