Rechtliche Beurteilung BGE 9C_446/2017 1. Einleitung/Prozessgeschichte 2. Erwägungen des Bundesgerichts 3. Allgemein anwendbare Grundsätze 4. Anwendung auf die 26 Kantone Pflegefinanzierung, Olten 11.2018
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Was man im Blick halten muss: Es geht einzig um die Pflegekosten, nicht um andere Aufenthaltskosten Die kantonale Ausgangslage ist unterschiedlich, es bestehen 26 eigenständige Systeme Das Urteil ist aus Sicht des BGer bedeutend: Nicht nur Veröffentlichung in Sammlung, sondern sogar zusätzliche Medienmitteilung 3
Klage einer Bewohnerin gegen die SVA SG SG kennt Höchstansätze für Pflegefinanzierung Die Vergütungslimite liegt auf dem 75. Perzentil aller Heime (25% der APH nicht ausfinanziert) Heimbewohner bezahlen alle Kosten inkl. Pflege ans Heim, erhalten Pflegerestkosten rückerstattet Rückforderung an kantonale Ausgleichskasse des Kantons SG (SVA) = Beklagte/Beschwerdeführerin Bewohnerin hat mehr Pflegekosten bezahlt, als sie anschliessend vergütet erhielt = Klageinhalt 4
Klage einer Bewohnerin gegen die SVA SG Klage auf Finanzierung des Gesamtbetrags der Pflegekosten (hatte nur 75. Perzentil erhalten) Die Ausgleichskasse (SVA-SG) weigerte sich, diese Kosten zu tragen (weil unwirtschaftlich ) Das kantonale Versicherungsgericht veranlasste ein pflegeökonomisches Gutachten zu den Kosten Gestützt darauf verurteilte das kantonale Gericht die SVA zur Zahlung der nicht gedeckten Kosten Die SVA erhob Beschwerde beim Bundesgericht 5
Anwendbares Recht und dessen Inhalt Die massgebende Gesetzesgrundlage im Bundesrecht ist Art. 25a Abs. 5 KVG: «Der versicherten Person dürfen von den nicht von Sozialversicherungen gedeckten Pflegekosten höchstens 20 Prozent überwälzt werden. Die Kantone regeln die Restfinanzierung.» Meinung des Parlaments betreffend 2. Satz: Die Kantone müssen die Ausfinanzierung der nach Beitrag von Versicherung und Patient verbleibenden Pflegekosten sicherstellen. 6
Zweck der Regelung in Art. 25a Abs. 5 KVG Beitrag der Patienten an die Pflegekosten soll klar begrenzt sein auf derzeit max. CHF 21,60/Tag Sog. Tarifschutz in Art. 44 KVG KEINE Querfinanzierung über Patienten (E. 7.4.1): «Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass es den Leistungserbringern untersagt ist, Kosten von KVG-Pflegeleistungen in Form von überhöhten Betreuungs- und Pensionstaxen den Heimbewohnern in Rechnung zu stellen.» 7
Deshalb volle Kostendeckung (E. 3.2.1/3.3) Aufteilung in 3 Zahler (Versicherer/Patient/Rest): «Der verbleibende Teil wird schliesslich gemäss der von den Kantonen zu treffenden Regelung finanziert (sog. Restfinanzierung )» So dass keine Lücke mehr übrig bleibt: «Der verbleibende Betrag, der weder von der Krankenversicherung noch von den Bewohnern bezahlt wird, ist von der öffentlichen Hand (Kanton oder Gemeinden) zu übernehmen, was im Gesetz nicht klar gesagt, aber gemeint ist.» 8
Sind Kostenobergrenzen rechtswidrig? Kantone dürfen Obergrenzen festlegen (E. 6.1): «Nach den vorstehenden Erwägungen ist es den Kantonen rechtsprechungsgemäss grundsätzlich erlaubt, ihrer Pflicht zur Restfinanzierung mittels Festlegung von Pauschaltarifen - hier in Form von Höchstansätzen - nachzukommen.» Wenn sie die Pflegekosten voll decken (E. 7.4.3): «Sind diese im Einzelfall nicht kostendeckend, erweisen sie sich als mit der Regelung von Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG nicht vereinbar.» 9
Pflichten der Alters-/Pflegeheime Gemäss VKL haben sie eine Kostenrechnung und Leistungsstatistik zu führen (E. 6.2/7.4.4.2): «das Pflegeheim muss gestützt auf die Vorgaben der Verordnung VKL die Kosten nach Leistungsart bzw. Kostenträger ermitteln» Hierfür sind auch Zeiterfassungen vorzunehmen (z.b. Arbeitszeitanalyse, Zeitstudie; E. 6.2/7.4.3): «dass die Zuteilung der Kosten an die Pflege, Betreuung und Hotellerie anhand einer Zeiterfassung zu erfolgen habe.» 10
Zählt das Argument der Wirtschaftlichkeit? Gegen Heime, welche die festgelegten Obergrenzen nicht einhalten, muss der Restfinanzierer die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung beurteilen (E. 7.4.3): «Es ist mithin die Aufgabe der Kantone, welchen die Restfinanzierung für die Pflegekosten obliegt, die Einhaltung der entsprechenden Vorgaben sicherzustellen, sowie - auch im Rahmen ihrer Aufsichtspflicht - bei Bedarf einzugreifen und die notwendigen Schritte in die Wege zu leiten.» 11
Zählt das Argument der Wirtschaftlichkeit? Dafür steht ihm das Verfahren der sog. Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Art. 8 f. VKL zur Verfügung (E. 7.4.4.2): «Das vom kantonalen Gericht in Auftrag gegebene Pflegegutachten kann und darf nämlich nicht als Grundlage für den Rechtsstreit dienen... Wenn sich zeigt, dass unwirtschaftlich gehandelt wurde, kommt ein Kontroll- und Schlichtungsverfahren (nach Art. 8a KLV) bzw. - bei der Krankheitsbehandlung - das schiedsgerichtliche Verfahren zum Zug.» 12
Aufgabe der Restkosten-Finanzierer Aufsicht wahrnehmen und zahlen (E. 7.4.3): «Es ist mithin die Aufgabe der Kantone, welchen die Restfinanzierung für die Pflegekosten obliegt, die Einhaltung der Vorgaben sicherzustellen, allenfalls in Form von Tarifvorschriften, sowie - auch im Rahmen ihrer Aufsichtspflicht - bei Bedarf einzugreifen und die notwendigen Schritte in die Wege zu leiten. Als ultima ratio ist die Streichung einer Einrichtung Geschieht dies nicht, hat die öffentliche Hand die daraus resultierenden Mehrkosten zu tragen.» 13
Alters-/Pflegeheime haben ihre Pflicht: Möglichst genauer Nachweis der Pflegekosten Restfinanzierer haben ihre Pflicht: Ausfinanzierung der Pflegekosten Wirtschaftlichkeit spielt weiterhin eine Rolle: Keine Ausfinanzierung bei nachgewiesener Unwirtschaftlichkeit (zu prüfen durch Kanton) Obergrenzen haben weiterhin ihre Vorteile: Bis zu diesem Betrag sind keine aufwändigen Rechnungslegungen und Nachweise nötig 14
Finanzierung der Pflege-Restkosten Bei bestehender Ausfinanzierung jedes Betriebs: -> Kein Handlungsbedarf Bei festgelegten Obergrenzen: -> Prüfung der Bundesrechtskonformität -> Mögliche Rückforderungen (bis zu 5 Jahre) -> Wahrnehmung der Aufsichtspflichten -> Abwägung Aufwand vs. Risiko 15