Dokumentation. Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Niedergang der DDR

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Transkript:

Dokumentation Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Niedergang der DDR Hans-Hermann Hertle, Potsdam I. Im Laufe des Jahres 1982 griff unter den führenden SED-Wirtschaftsfunktionären die Furcht vor dem drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR um sich. Zentrale Arbeitsgruppen des Politbüros und des Ministerrates unter dem Vorsitz von ZK-Wirtschaftssekretär Günter Mittag und Planungs-Chef Gerhard Schürer standen im»täglichen Kampf um die Gewährleistung der Zahlungsfähigkeit«(Schürer). Ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit der Geschäfte und überwiegend zu Lasten der inländischen Versorgung wurden zusätzlich Rohstoffe und Konsumgüter wie Erdölprodukte und chemische Erzeugnisse, Stickstoff und Kali, Eier und Zement, Möbel, Haushalts- und Industrienähmaschinen, Mähdrescher, Gasherde und Fahrräder, Fleisch und Düngemittel, Butter und Waffen gegen Devisen verkauft, um den Ausfall von Waren- und Finanzkrediten zu kompensieren und auf diese Weise den Schuldendienst bedienen zu können. Der Konsumsozialismus unter SED-Generalsekretär Erich Honecker hatte die DDR an den Rand des Bankrotts geführt. Die Erhöhung des Lebensstandards und die Verbesserung der Sozialleistungen in den 1970er-Jahren hatten nicht auf eigener Wirtschaftskraft beruht, sondern auf einem Rückgang der Investitionsquote und zunehmender Verschuldung vor allem im Westen. 1 Gleichzeitig litt die Außenwirtschaft der DDR unter steigenden Rohstoffkosten und der mangelnden Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte auf dem Weltmarkt, die Ausdruck unzureichender Innovationsfähigkeit und einer im Vergleich zum Westen erheblich niedrigeren Arbeitsproduktivität war. 2 Seit 1978 steckte die DDR in der Schuldenfalle: Fällige Kredite und Zinsen mussten durch die Aufnahme neuer Kredite finanziert werden. Die Zahlungsfähigkeit der DDR hing von der Bereitschaft westlicher Banken ab, der SED neue Kredite zu gewähren. Aus Furcht vor Protesten und inneren Unruhen lehnte das Politbüro 1979 zunächst durchgreifende Preiserhöhungen, dann auch eine Umschichtung von Investitionen zugunsten des produktiven Bereiches ab. Rückläufige Investitionsquoten, unterlassene wirtschaftliche Anpassungsmaßnahmen, steigende Zinsen für die West- Schulden, ein Kreditstopp des Westens, der auf die Zahlungsschwierigkeiten Rumäniens und Polens und die Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 folgte, und die Kürzung sowjetischer Rohöllieferungen seit Anfang 1982 stürzten die DDR in die bis dahin tiefste ökonomische Krise. Anfang Juni 1983 begab sich Alexander Schalck- Golodkowski als Leiter des Günter Mittag unterstellten Bereiches Kommerzielle Koordinierung (KoKo), persönlicher Beauftragter von Erich Honecker für die deutsch-deutschen Verhandlungen und zugleich 1 Vgl. detailliert: Hans-Hermann Hertle/Stefan Wolle, Damals in der DDR. Der Alltag im Arbeiter- und Bauernstaat, München 2004, S. 155 226; André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, insb. S. 165 196. 2 Siehe Ralf Ahrens, Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Die DDR im RGW, Köln 2000, insb. S. 262 268. Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 495

Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? 477 Oberst in Erich Mielkes Stasi-Ministerium Diener dreier Herren auf seine bis dahin vielleicht schwierigste Mission: Er übermittelte dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß die massive Warnung Honeckers, dass die»schotten dichtgemacht«würden, wenn der Handel der Bundesrepublik mit der DDR»eingeschränkt oder nicht durchgeführt«werde. Die DDR werde in diesem Fall ihre»aufgaben mit Hilfe des RGW lösen«. 3 Wenn er der DDR jedoch helfen könne, die Zahlungsbilanzkrise zu überwinden, erinnerte sich Strauß später an die Botschaft Honeckers, wäre diesem»der Weg nach Westen«lieber. 4 Bekanntermaßen übernahm die konservativ-liberale Bundesregierung in den Jahren 1983 und 1984 die Garantie für zwei ungebundene Finanzkredite von westdeutschen Landes- und Privatbanken über eine Milliarde bzw. 950 Millionen DM an die DDR, wobei sie ihr Risiko durch die Verpfändung der Transitpauschale absicherte. 5 Weitgehend geheim dagegen blieben weitere Unterstützungsleistungen in Höhe von einer Milliarde D-Mark: Im Zuge der Neufestsetzung der Postpauschale ließ die Bundesregierung der DDR am 15. November 1983 300 Millionen DM zukommen. 6 Und weitere 700 Mio. DM flossen der SED-Führung in den Jahren 1984 und 1985 für den Verkauf von 4 905 politischen Häftlingen zum Kopf-Preis von rund 95 000 DM und die Übersiedlung von mehr als 45 000 Ausreisewilligen in den Westen zu je 5 000 DM zu. Die DDR verbrauchte den überwiegenden Teil dieser drei Milliarden DM nicht, sondern legte sie als Guthaben bei westlichen Banken an und erlangte dadurch ihre Bonität auf den internationalen Finanzmärkten zurück. Der von den Wirtschaftsverantwortlichen in der SED-Spitze befürchtete ökonomische Zusammenbruch der DDR mit unabsehbaren sozialen und politischen Folgen wurde maßgeblich durch die Hilfe der Bundesregierung hinausgeschoben. Ein förmliches Junktim zwischen der Kreditvergabe und der Gewährung»menschlicher Erleichterungen«seitens der DDR gab es nicht, doch gestand die DDR neben der Ausweitung des Verkaufs von Häftlingen und der weitreichenden Genehmigung von Ausreiseanträgen in der Folgezeit erhebliche Erleichterungen im Reise- und Besucherverkehr zu. Auch der Abbau der Selbstschussanlagen und Splitterminen an der Grenze zur Bundesrepublik bis Ende 1985 wird als Gegenleistung für die Vergabe der Milliardenkredite gesehen; allerdings war die DDR dazu ohnehin durch eine UN-Konvention verpflichtet. Mit den Milliardenkrediten hatte sich ein Konkurrenzprojekt erledigt, das unter der Bezeichnung»Zürcher Modell«der DDR für die Bereitstellung eines milliardenschweren Finanzkredits als Gegenleistung eine schriftliche Verpflichtung zur Herabsetzung des Reisealters in die Bundesrepublik abverlangte was zum völligen Gesichtsverlust der SED-Führung gegenüber der sowjetischen Vormacht geführt hätte und auch deshalb scheitern musste. 7 Zusammenarbeit mit dem Westen oder totale Abschottung? Fielen Franz Josef Strauß und Bundeskanzler Helmut Kohl damals auf einen Trick der SED- Führung herein? Blufften Honecker und Schalck-Golodkowski nur, als sie Strauß vor diese Alternative stellten, oder gab es in der SED-Spitze tatsächlich ernstzunehmende Bestrebungen, die»schotten zum Westen dichtzumachen«? Wie wurde die ökonomische Lage der DDR zu dieser Zeit intern eingeschätzt? Akten des Ministeriums für Staatssicherheit belegen, dass der bayerische Ministerpräsident und die CDU/FDP-Bundesregierung die Drohung möglicherweise zu Recht ernst nahmen. In einem Geheimpapier (im Anschluss an diesen Beitrag in Auszügen dokumentiert) kam die für die»sicherung der Volkswirtschaft«zuständige Hauptabteilung XVIII des MfS am 25. Januar 1982 zu dem Ergebnis, dass die DDR zu einer Lösung ihrer ökonomischen Probleme aus eigener Kraft nicht mehr imstande sei. Als letzten Ausweg aus der Krise schlug sie vor, die Sowjetunion 3 So Alexander Schalck, Niederschrift über das geführte Gespräch [ ] am 5.6.1983 in Spöck/Chiemsee, Berlin 6.6.1983, S. 3, in: Deutscher Bundestag, Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses [ ], BT-Drs. 12/7600, Bonn 1994, Anlagenbd. 3, Bl. 3395. RGW: Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. 4 Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 473. 5 Vgl. Manfred Kittel, Franz Josef Strauß und der Milliardenkredit für die DDR 1983, in: DA 40 (2007) 4, S. 647 656. 6 Vgl. die Aufstellung in HWWA, Gutachten»Die Bedeutung [ ]«, in: BT-Drs. 12/7600 (Anm. 3), Anhangbd., S. 124 f. 7 Vgl. Reinhard Buthmann, Megakrise und Megakredit. Das Zürcher Modell im Spiegel der Stasi-Akten, in: DA 38 (2005) 6, S. 991 1000. W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009

478 Dokumentation um die Übernahme des Großteils der DDR-Schulden im Westen zu bitten und im Gegenzug die Handelsbeziehungen zum Westen weitgehend abzubrechen. II. Die»Sicherung der Volkswirtschaft«gehörte vom Beginn bis zum Ende der DDR zu den wichtigsten Aufgaben der Staatssicherheit.»Die Wirtschaft«, so Stasi-Minister Erich Mielke 1982, sei»das entscheidende Kampffeld für das revolutionäre Handeln der Partei.«8 Die Partei- und Staatsführung über tatsächliche und drohende, aus der Sicht des MfS sicherheitsund planerfüllungsrelevante Gefährdungspotentiale umfassend zu informieren, genoss deshalb hohen Stellenwert. 9 Die Voraussetzungen dafür waren ausgezeichnet: Schon die Informations- und Entscheidungskanäle, an die das Ministerium für Staatssicherheit offiziell angeschlossen war, gewährten ihm uneingeschränkte Einsicht in die krisenhafte ökonomische Entwicklung der DDR und ihre in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre einsetzenden Zahlungsbilanzprobleme. Einen noch tieferen Eindruck gewann das MfS darüber hinaus durch seine vielfältigen Wege der konspirativen Informationsbeschaffung auf allen Ebenen des Partei- und Staatsapparates, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Zuständig für die»sicherung der Volkswirtschaft«war im MfS die Hauptabteilung XVIII, die von 1974 bis 1989 von Alfred Kleine geleitet wurde. 10 Die Ausarbeitung von Stellungnahmen zu Vorlagen des Politbüros und Ministerrates, die makroökonomische Fragen betrafen, oblag in der HA XVIII federführend der für die Sicherung der zentralen wirtschaftsleitenden Staatsorgane auf den Gebieten Planung, Finanzen und Statistik sowie RGW verantwortlichen Abteilung 4, geleitet von Horst Roigk. Die sich auf wirtschaftlichem Gebiet anbahnende Katastrophe der DDR wurde im MfS exakt und frühzeitig registriert. Informationen der HA XVIII aus der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre disqualifizierten Honeckers Grundauffassung, dass»auch heute noch nicht die Arbeiterklasse den Anteil aus dem produzierten Nationaleinkommen erhält, der ihr als Produzent aller Werte zustehe«, als»nicht den Tatsachen«entsprechend. Verantwortliche Funktionäre der Staatlichen Plankommission und der Fachabteilungen des ZK verträten»einhellig die Auffassung, dass sich Genosse E. Honecker in einem für die Volkswirtschaft der DDR schwerwiegenden Irrtum«befände. 11 Und unter Berufung auf leitende Wirtschaftsfunktionäre warnte die Stasi 1979 eindringlich vor Preiserhöhungen,»die politisch nicht zu vertreten sind und konterrevolutionäre Ausschreitungen herbeiführen können«. 12 Damit trug sie maßgeblich dazu bei, dass entsprechende Pläne im Politbüro fallen gelassen wurden. Immer häufiger beschäftigten sich Informationen der HA XVIII aus den Jahren 1978 und 1979 mit der zunehmend prekärer werdenden Zahlungsbilanz und deren Verschleierung durch die Parteiführung. Sie gipfelten Anfang 1979 in der Wiedergabe einer Äußerung von Staatsbank-Präsident Horst Kaminsky gegenüber der ZK-Abteilung Planung und Finanzen:»Wenn nichts geschieht, werden wir im Laufe des II. Quartals zahlungsunfähig.«13 Zwar erfüllte sich diese Prognose nicht, doch kamen zu den bereits vorhandenen Probleme neue hinzu beispielsweise, als die DDR in Verbindung mit dem NATO-Doppelbeschluss von der Sowjetunion auf eine Ausweitung der Rüstungsproduktion und eine schärfere Abgrenzung zum Westen verpflichtet wurde. III. Die ökonomische Krise spitzte sich schon im Laufe des Jahres 1980 weiter zu. Honeckers Balanceakt, 8 Erich Mielke, Referat [ ], Potsdam-Eiche 11.10.1982, BStU, MfS, ZAIG Nr. 4810, Bl. 31. 9 Vgl. Dienstanweisung Nr. 1/82, Berlin 30.3.1982, BStU, MfS, DS Nr. 102836. 10 Vgl. Maria Haendke-Hoppe-Arndt, Die Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft. Anatomie der Staatssicherheit III/10, Berlin 1997. 11 HA XVIII, Kleine, Berlin, 18.11.1977, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12478, Bl. 2 f. 12 HA XVIII, Information über die Ausarbeitung von Vorschlägen [ ], Berlin 7.8.1979, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12480, Bl. 1 6, hier 6. 13 HA XVIII, Information Nr. 28/79 zum Stand und zur Problematik der Zahlungsbilanz der DDR [ ], 5.2.1979, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12478, Bl. 15. Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 495

Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? 479 einerseits den sowjetischen Abgrenzungsforderungen zum Westen zu entsprechen, andererseits insbesondere die Handelsbeziehungen mit der Bundesrepublik auszuweiten, rief im SED-Politbüro mächtige Gegner auf den Plan. Eine Gruppe moskau-orientierter Politbüro-Mitglieder befürchtete einen»verrat der DDR gegenüber der Sowjetunion«. Zu dieser»moskau-gruppe«wurden Ministerrats-Vorsitzender Willi Stoph, die Politbüro-Mitglieder Werner Krolikowski, Alfred Neumann, Kurt Hager und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, vor allem aber auch Stasi-Chef Erich Mielke gezählt. 14 Dessen berufsbedingtes Misstrauen war im März 1980 durch einen Hinweis des Bruderorgans KGB geweckt worden, dass es»in der DDR Vertreter gäbe, die durch verstärkte Kreditnahme und Kooperationsgeschäfte mit westlichen Konzernen bewusst oder unbewusst starke Abhängigkeiten von den imperialistischen Staaten«schüfen. 15 Schon im April 1980 begann die Moskau-Gruppe in der SED-Spitze, Honecker und Mittag bei der Kreml- Führung anzuschwärzen. Im Anschluss an eine Sitzung des SED-Politbüros vom 22. April 1980, in der Günter Mittag über einen Besuch bei Bundeskanzler Helmut Schmidt informierte, verfassten Stoph und Krolikowski ein Dossier, in dem sie den ZK-Wirtschaftssekretär eines konspirativen»kontaktes mit dem Feind«bezichtigten,»woraus Schlussfolgerungen für die Gewährleistung der Sicherheit in der DDR- Führung gezogen werden«müssten. In den Beziehungen zur Bundesrepublik verträten Honecker und Mittag nur»teil- und Sonderinteressen entsprechend ihrer falschen politischen Konzeption«; sie führten die DDR in neue politische und ökonomische Abhängigkeiten von der Bundesrepublik. 16»EH [Erich Honecker] verschaukelt uns und die sowjetischen Freunde«, leitete Werner Krolikowski Mitte November 1980 die Einschätzung Erich Mielkes über eine Begegnung von Erich Honecker und Günter Gaus, dem Leiter der Ständigen Vertretung Bonns in Ost-Berlin, nach Moskau weiter. Nach Mielkes Meinung spiele Honecker»nach beiden Seiten, einmal so, einmal so.«man müsse damit rechnen,»dass EH weitere politische Geschäfte mit der BRD macht.«17 Offenbar um dies zu verhindern und um Material gegen Honecker und Mittag in der Hand zu haben, ließ der Stasi-Chef in seinem Ministerium zwischen 1980 und 1982 mehrere Geheimstudien zur ökonomischen Lage der DDR anfertigen. IV. Am 14. Oktober 1980, sechs Monate vor dem X. Parteitag der SED, erteilte Mielke dem Leiter der HA XVIII den Auftrag, Vorschläge für die»lösung volkswirtschaftlicher Schlüsselprobleme 1981 und im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Direktive des X. Parteitages«zu unterbreiten. 18 Der dafür gebildeten und zu besonderem Stillschweigen verpflichteten Arbeitsgruppe gehörte auch Horst Roigk an, der Leiter der Abteilung XVIII/4. Roigk zufolge konnte sich die Ausarbeitung auf alle verfügbaren Dokumente stützen 19 ; daneben wurden schriftlich ausgearbeitete Problemstellungen mit Experten aus der Staatlichen Plankommission, den Finanzorganen, dem Außenhandel und aus ausgewählten Kombinaten in individuellen Aussprachen beraten. Die Brisanz der Studie, die das Datum des 24. November 1980 trägt 20, lag nicht darin, dass sie die Grundprobleme der DDR-Ökonomie offen benann- 14 Vgl. Hans-Hermann Hertle, Der Sturz Erich Honeckers. Zur Rekonstruktion eines innerparteilichen Machtkampfes, in: Klaus-Dietmar Henke u. a. (Hg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln u. a. 1999, S. 327 346. 15 [Operativgruppe Moskau,] Information, Moskau, 18.4.1980, BStU, MfS, Sekr. Mittig Nr. 141, Bl. 511. 16 Aufzeichnungen über einen Bericht von Günter Mittag [ ], dok.: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Von Hubertusstock nach Bonn, Berlin 1995, S. 49. 17 Notiz von Werner Krolikowski [ ], 13.11.1980, in: Peter Przybylski, Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 345 348. 18 Vgl. HA XVIII/Leiter, Persönlich: Genossen Minister, Berlin, 18.10.1980, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4692, Bl. 9; u. ders., Konzeption und inhaltliche Orientierung für die Lösung volkswirtschaftlicher Schlüsselprobleme 1981 [ ], Berlin, 18.10.1980, ebd., Bl. 10 12. 19 Dr. Horst R[oigk], ehem. Oberst des MfS, Hauptabteilung XVIII, in: Gisela Karau, Stasiprotokolle. Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Frankfurt a. M. 1992, S. 27. 20 HA XVIII, [o. T.,] Berlin 24.11.1980, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4692, Bl. 13 41. Bei dieser Stasi-Studie handelt es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Analyse, über die Roigk berichtet. W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009

480 Dokumentation te. Brisant waren vielmehr die strukturellen Kritikpunkte am Leitungssystem der Wirtschaft: - Mit der ZK-Wirtschaftskommission und der ZK-Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz sei neben dem Ministerrat ein»zweites Leitungssystem«in der Volkswirtschaft etabliert worden. Auch durch Fachabteilungen des Zentralkomitees würden Aufgaben entschieden, wodurch»die verantwortlichen Funktionäre der Staatsund Wirtschaftsführung aus ihrer Verantwortung entlassen«würden. - Die Orientierung auf eine wertmäßige Erhöhung der Leistungen schaffe systematisch und gewollt Möglichkeiten der Planmanipulation mit der Folge, dass der Plan scheinbar bilanziere,»aber die konkreten Erzeugnisse und Leistungen für die materiell-technische Sicherung der Produktion und der Investitionen, für den Export und für die Versorgung der Bevölkerung nicht zur Verfügung«stünden. - Zur Erlangung westlicher Waren habe sich eine»sogenannte 2. Währung«herausgebildet, die nicht nur zu Spekulationen führe, sondern auch negative Auswirkungen wie»sinkende Arbeitsmoral und -disziplin, mangelnde Leistungsbereitschaft und steigende Wirtschaftskriminalität«zeitige. Weil»die Gesamtproblematik [ ] von so ernsthafter Natur«sei, empfahl die Studie als generelle Lösung,»eine Bestandsaufnahme zum gegenwärtigen Zustand in der Volkswirtschaft«anzufertigen. Damit solle»eine kleine Zahl sachkundiger Genossen«beauftragt, die Ergebnisse dem Politbüro vorgelegt, die Kontinuität der Wirtschafts- und Sozialpolitik gewahrt und»ein Hineintragen der Probleme in die Breite der Partei vermieden«werden. Im Ergebnis müsste der Verschuldungsprozess im Westen gestoppt und dadurch neuer Handlungsspielraum geschaffen werden. Unter den kurzfristig empfohlenen Lösungen springen vor allem die Überprüfung sämtlicher Kompensationsvorhaben mit den westlichen Industrieländern, das Verbot von Importen aus dem»nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet«(NSW), die nicht der Aufrechterhaltung der Produktion dienen, die Abschaffung des Delikat- und Exquisit-Angebotes, die Konzentration aller Valutaeinnahmen und -ausgaben in einer Hand und die Einstellung der Sondergeschäfte im Bereich des Außenhandels ins Auge. Zu den langfristigen Maßnahmen gehört neben Vorschlägen zur Reform des Planungssystems und zum Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zu den Entwicklungsländern an vorderster Stelle die Stärkung der wirtschaftsleitenden Instanzen des Staatsapparates gegenüber der Partei:»Die Praktiken, die der vollen Durchsetzung der Verantwortlichkeit des Ministerrates und seiner Organe bei der einheitlichen Leitung der Volkswirtschaft entgegenstehen, sind zu beseitigen.«die Studie lässt somit keinen Zweifel offen, wen sie als Hauptschuldige für die entstandenen ökonomischen Schwierigkeiten betrachtete, ohne sie namentlich zu benennen: Günter Mittag und Alexander Schalck-Golodkowski. Da beide Erich Honecker persönlich unterstanden, stand auch der Generalsekretär zumindest indirekt in der Schusslinie der Kritik des MfS. Welchen Weg die Studie schließlich nahm, ist unbekannt. Wenn Kleine später meinte, dass sie»nach unserer Kenntnis der Partei- und Staatsführung vermittelt«21 worden sei, bedeutet das nicht, dass das Dokument verteilt worden wäre schon gar nicht an Gremien wie Politbüro oder Ministerrat. Unter einer solchen»vermittlung«wäre noch am ehesten eine mündliche Information Mielkes an Honecker, Stoph oder einen Vertrauten unter vier Augen zu verstehen. Den Inhalt der Studie jedoch, wenn nicht das ganze Papier, leitete Politbüro-Mitglied Krolikowski noch im Dezember 1980 nach Moskau weiter. Der Planansatz für 1981 1985, so meldete er, sei»offen [ ] wie eine Feldscheune«und die»schlimmste Ungereimtheit [ ], die bisher im Politbüro bestätigt wurde«. 22 Doch die sowjetische Führung war Ende 1980 wohl mehr mit anderen Problemen befasst. In Polen stand nicht nur die Wirtschaft, sondern nach der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft SolidarnoÊç das kommunistische Regime selbst vor dem Zusammenbruch. 21 HA XVIII/GO XVIII, Schreiben an Wolfgang Herger, Berlin, 14.11.1989, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 6556, Bl. 2. 22 Notiz von Werner Krolikowski v. 16.12.1980, in: Przybylski (Anm. 18), S. 341. Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 495

Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? 481 Aus der vorgeschlagenen Bestandsaufnahme durch eine»kleine Zahl sachkundiger Genossen«wurde nichts. Unwidersprochen konnte Erich Honecker im April 1981 auf dem X. SED-Parteitag verkünden, dass der Wirtschaftspolitik»ein ausgewogenes Verhältnis von Leistung und Verbrauch, von Akkumulation und Konsumtion«zugrunde liege und deshalb wurde ihre Fortsetzung einstimmig beschlossen. 23 Die dunklen Wolken, die sich im weiteren Verlauf des Jahres über der DDR zusammenziehen sollten, konnte zumindest Honecker während seines Gespräches mit Leonid Breshnew auf der Krim am 3. August 1981 erahnen. Nach mehreren Missernten in Folge und der daraus resultierenden Notwendigkeit, große Mengen an Getreide und Fleisch aus dem Westen importieren zu müssen, stand der Sowjetunion in wirtschaftlicher Hinsicht das Wasser bis zum Hals. Der KPdSU-Chef teilte Honecker lapidar mit, dass die DDR erstens in den kommenden vier Jahren mit keinerlei sowjetischen Krediten zur Bilanzierung des bilateralen Handels rechnen könne, dass zweitens der vereinbarte Lieferumfang an Erdöl des wichtigsten Rohstoffes der DDR für ihre Westexporte in Zweifel stehe und dass drittens die Zunahme der Westverschuldung der DDR in Moskau anhaltendes Unbehagen auslöse, weil dies ein»hebel verschiedenartigster Druckausübung«des Westens sei und zu den»schwersten Folgen«führen könne, wie das polnische Beispiel»in dramatischer Weise«zeige. Abgrenzung insbesondere zur Bundesrepublik sei für die DDR weiterhin ein Gebot. 24 Als Breshnew kurz nach dem Krim-Treffen ankündigte, die sowjetischen Plan-Rohöllieferungen an die DDR ab 1982 zu verringern, glich dies einem Anschlag auf die DDR-Devisenbilanz. In seinem Antwortschreiben bezichtigte Honecker den KPdSU-Generalsekretär, die»grundpfeiler der Existenz der DDR«zu untergraben. 25 Die Sowjetunion benötige wegen der Missernten Devisen, erklärte Moskaus Gesandter Konstantin V. Russakow gegenüber Honecker, weil sie sonst»ihre gegenwärtige Stellung in der Welt nicht halten«könne, und das habe»dann Folgen für die ganze sozialistische Gemeinschaft«. Russakow bezeichnete die Serie der Missernten als»ein Unglück von einem Ausmaß«, das»es seit der Existenz der Sowjetunion noch nicht gegeben hat«. 26»Ganz bestimmte Reserven«, so Russakow geheimnisvoll,»sind schon angegriffen.«die Sowjetunion stehe praktisch wieder vor»brest-litowsk«mithin vor der Entscheidung, auf einen Teil des äußeren Einflussgebietes zu verzichten, um das Kernland zu retten. V. Im Hinblick auf»die zunehmend wachsende Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit der DDR im Jahr 1982«und in weiterer Durchführung des Auftrages vom Oktober 1980 übersandte der Leiter der Stasi-HA XVIII dem Minister Erich Mielke und dessen Stellvertreter Rudi Mittig am 2. Januar 1982 eine aktualisierte ökonomische Gesamteinschätzung. Die Ausarbeitung konzentrierte sich auf den Nachweis, dass die bereits 1980 herausgearbeiteten Grundfragen,»die die weitere planmäßige und proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR entscheidend beeinflussen, sich unter den gegenwärtigen Bedingungen im Hinblick auf die entscheidende Frage, die Zahlungsfähigkeit der DDR zu garantieren, weiter verschärft«hätten. 27 Ihre Hauptaussage bestand darin, dass der Stand der Westverschuldung zum 1. Januar 1982 auf ca. 30,5 Milliarden Valutamark (VM) angestiegen und die Beschaffung der erforderlichen Bargeld- und Warenkredite für 1982 nicht gesichert war. 28 Ausführlich wurden die Folgen der Verringerung von Transportleistungen geschildert, die sich durch die Einsparungen von Heizöl, Diesel- und Vergaserkraft- 23 Protokoll des X. Parteitages der SED, 11. 16. April 1981, Berlin 1981, S. 62. 24 Niederschrift über das Treffen [ ] am 3. August 1981 auf der Krim, dok.: Hans-Hermann Hertle/Konrad H. Jarausch (Hg.), Risse im Bruderbund. Die Gespräche Honecker Breshnew 1974 bis 1982, Berlin 2006, S. 198 231, hier S. 203, 206. 25 Vgl. dazu den Briefwechsel: BArch, DY 30/J IV 2/202/524. 26 Niederschrift über das Gespräch des Generalsekretärs [ mit] Russakow, [ ] Berlin, 21.10.1981, BArch, DY 30/ J IV 2/2A/2431. Vgl. auch: Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED- Staates, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 46 48. 27 HA XVIII, [o. T.,] Berlin 2.1.1980, ebd., Bl. 6 f. 28 Der sprunghafte Anstieg auf 30,5 Mrd. VM gegenüber dem Vorjahr (1980: 24,5 Mrd. VM) ergab sich aus der Erhöhung des Dollarkurses von 1,80 auf 2,40 VM, die zum 1.2.1982 wirksam wurde. Nach dem alten Kurs entsprach der Negativsaldo 25,6 Mrd. VM. W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009

482 Dokumentation stoff im Inland ergeben hatten; Planmanipulationen im Wohnungsbauprogramm und Untererfüllungen des Volkswirtschaftsplanes 1981 wurden aufgedeckt, die durch»planpräzisierungen«sogar noch als Übererfüllungen abgerechnet werden konnten, und nicht zuletzt wurde auf die ungenügende Erfüllung des NSW-Exportplanes und die unzureichende Devisenrentabilität der Exportgüter hingewiesen eine unmittelbare Folge der im Vergleich zum Westen weit zurückgebliebenen Arbeitsproduktivität. Doch beschränkte sich das Papier ausschließlich auf eine Analyse; Lösungsvorschläge enthielt es nicht. Vielleicht gerade deshalb alarmierte es Mielke. Im Zuge einer Besprechung zwischen Mielke, Mittig und Kleine am 11. Januar 1982 wurde der HA XVIII die Aufgabe gestellt, dem Auftrag vom 18. Oktober 1980 entsprechend eine neuerliche Analyse auszuarbeiten; die damaligen kurz- und langfristigen Lösungsvorschläge sollten geprüft und aktualisiert und das Papier am 25. Januar dem Minister vorgelegt werden. 29 Auftragsgemäß ließ Kleine die Ausarbeitung am 25. Januar Mielke und Mittig zustellen. Die Liste der hinzugezogenen 23 Experten liest sich wie ein»who is Who«der DDR-Wirtschaftspolitik: Alexander Schalck-Golodkowski und Außenhandelsminister Gerhard Beil befinden sich ebenso darauf wie Harry Möbis, Staatssekretär für Organisation und Inspektion beim Ministerrat, Heinz Klopfer und Wolfgang Greß, beide Staatssekretäre in der Staatlichen Plankommission, Arno Donda, Chef der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, und Werner Polze, Präsident der Deutschen Außenhandelsbank, dazu weitere Minister und stellvertretende Minister sowie Generaldirektoren. 30 Als zentrale Aussage des Papiers, die somit nicht der Meinung einzelner»experten«entsprechen musste, hob Kleine in seinem Anschreiben hervor:»allein die konsequente Hinwendung zur gemeinsamen Lösung mit der UdSSR schafft für die DDR Voraussetzungen für eine weitere stabile innere Entwicklung und die notwendige Handlungsfähigkeit gegenüber dem NSW.«31 Ausgangspunkt der Analyse selbst ist die Feststellung, dass die Beschlüsse der Partei auf ökonomischem Gebiet»zu einer Gefährdung der inneren Stabilität der DDR«geführt hätten. Der»Ernst der gegenwärtig eingetretenen Lage«gebiete es,»eine wissenschaftlich begründete, strategische, taktische und organisatorische Konzeption zu erarbeiten, die [ ] den gegenwärtigen und zukünftigen Erfordernissen«entspreche. Entsprechend besteht die Studie aus zwei Teilen: der erste bietet eine Bestandsaufnahme der ökonomischen Lage und der sie bewirkenden inneren und äußeren Faktoren, der zweite Teil enthält Vorschläge für kurzfristige und längerfristige Lösungen. Die Ausgangslage, heißt es, werde dadurch charakterisiert, dass»die reale Gefahr des kurzfristigen Eintritts der Zahlungsunfähigkeit gegenüber dem NSW gegeben sei«und dadurch»eine Gefährdung der inneren Stabilität der DDR [ ] sowie eine Beeinträchtigung der Versorgung der Bevölkerung eintreten«könne. Zugleich sei dann»die Bewältigung möglicher Gefahrensituationen und Gefahrenzustände nicht mehr [zu] gewährleisten«. Der Volkswirtschaftsplan 1982 könne»materiell und finanziell nicht bilanziert«werden; entsprechend erfülle»der Fünfjahrplan 1981 1985 in seiner Gesamtheit seine bilanzierende und steuernde Funktion für den Fünfjahrplanzeitraum nicht mehr«. Diese Lage sei durch»innere, objektive und subjektive Faktoren und äußere Einflüsse auf die Volkswirtschaft«entstanden, wobei die internen Faktoren als die entscheidenden Ursachen betrachtet werden. Unter diesen sticht vor allem der Vorwurf der Desinformation der leitenden Parteiorgane über die reale ökonomische Lage hervor ein Vorwurf, der nicht nur gegenüber Günter Mittag als ZK-Wirtschaftssekretär, sondern auch gegen Gerhard Schürer als Vorsitzendem der Staatlichen Plankommission erhoben wird. Erneut wird das»zweite Leitungssystem«in der Volkswirtschaft kritisiert, das Mittag mit der ZK-Wirtschaftskommission und der AG Zahlungsbilanz errichtet habe. Und schließlich wird die Kritik an Kompensationsgeschäften mit dem Westen und dem außerplanmäßigen Handel des Bereiches KoKo 29 Vgl. handschr. Aufzeichnungen v. Alfred Kleine, Jan. 1982, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4693, Bl. 35 53. 30 Vgl. Verzeichnis der Quellen, ebd., Bl. 33 f. 31 HA XVIII/Leiter, Persönlich Genossen Minister, Berlin Jan. 1982, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4693, Bl. 32. Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 495

Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? 483 wiederholt; beides habe dazu beigetragen,»daß die Wirkungsmechanismen des kapitalistischen Marktes Einfluss auf den volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozess gewannen, sich Abhängigkeiten herausbildeten, die zu ökonomischen Verlusten für die DDR«geführt hätten. Die sich verschlechternde moralische Verfassung der Wirtschaftskader ist der Studie eine eigene Warnung wert, müsse doch»mit einem weiteren Vertrauensabfall, Gleichgültigkeit und Resignation bei diesen Kadern gerechnet werden«. Irrigerweise, heißt es, hingen Politbüro und Ministerrat immer noch dem Glauben an die Lösung der Probleme aus eigener Kraft an; die gegenteilige Annahme sei jedoch realistisch. Obwohl gerade noch die im Inneren wirkenden Faktoren als entscheidende Krisenursachen benannt worden waren, konnte nach dieser Feststellung die Rettung nur noch von außen kommen. Die Stasi suchte und fand sie im Vaterland aller Werktätigen, der Sowjetunion. Hatte aber die Sowjetunion nicht gerade untätig zugeschaut, wie die Volksrepublik Polen sich gegenüber dem Westen für zahlungsunfähig erklärte? Hatte sie nicht wenige Wochen zuvor den»bruderländern«rohöllieferungen gekürzt, um aus dem Erlös im Westen Getreide kaufen und so den Hunger vom eigenen Volk abwenden zu können, wie es in den Verhandlungen mit der DDR hieß? Ausgerechnet diese Sowjetunion hatten sich die deutschen Tschekisten auserkoren, die Hauptschuldnerschaft für die DDR zu übernehmen.»der Parteiund Staatsführung der UdSSR«, so ihr Kerngedanke,»sollte im Interesse kurzfristiger Lösungen folgender Vorschlag unterbreitet werden: Die Partei- und Staatsführung der DDR bekräftigt ihre Entschlossenheit, ihre Zahlungsbilanz gegenüber dem NSW auf maximal 12 Mrd. VM saldierte Verbindlichkeiten zu reduzieren. Der zur Lösung dieser Aufgabe erforderliche Exportüberschuss im NSW wird für Warenlieferungen in die UdSSR eingesetzt. Dafür übernimmt die UdSSR sofort Verbindlichkeiten der DDR bei kapitalistischen Banken in Höhe von ca. 20 Mrd. VM [ ]. Auf der Grundlage real bilanzierter Pläne könnten die dafür erforderlichen Waren aus dem geplanten Exportüberschuss der DDR bis Ende 1987 geliefert werden und hätten einschließlich Zinsen einen Wertumfang von ca. 30 Mrd. VM. Struktur und Umfang der zu liefernden Waren sollten es der UdSSR ermöglichen, in einem hohen Maße selbst NSW-Importe abzulösen.«die aus der ökonomischen Abschottung der DDR gegenüber dem Westen resultierenden Nachteile wie etwa den Verlust von Marktpositionen im Westen bzw. die Verärgerung westlicher Industrieländer über die Reduzierung der DDR-Importe müssten vorübergehend in Kauf genommen werden, heißt es lapidar. Als Alternativen zu der vorgeschlagenen Übernahme der Hauptschuldnerschaft durch die Sowjetunion und dem damit zwangsläufig verbundenen weitgehenden Abbruch der Handelsbeziehungen der DDR zum Westen zählte Kleine in seinem Begleitschreiben an Mielke drei Varianten auf und verwarf sie sofort wieder, weil sie weder kurzfristige noch dauerhafte Problemlösungen darstellten, sondern allesamt die Ungleichgewichte vertieften und die»materiell-technische Basis des Sozialismus«weiter schwächten:»- Es gelingt der DDR durch außergewöhnliche Anstrengungen, die hohen NSW-Exportziele und die Aufgaben zur NSW-Importablösung zu lösen und dabei das Risiko einer Verschlechterung der Versorgung der Bevölkerung sowie der materiellen Sicherstellung der Produktion in Kauf zu nehmen. - Es wird von der Hoffnung ausgegangen, die in den Volkswirtschaftsplänen vorgesehenen weiteren Kreditaufnahmen [ ] bei kapitalistischen Banken zu erhalten, um damit der drohenden Zahlungsunfähigkeit auszuweichen. - Die Zahlungsunfähigkeit der DDR in Kauf zu nehmen und die negativen Wirkungen einer solchen Situation zu minimieren.«32 Ob Mielke oder Mittig die ihnen von der HA XVIII angesonnene kurzfristige Lösung, die Sowjetunion um die Übernahme der Schulden der DDR zu bitten, tatsächlich Honecker oder Stoph in irgendeiner Form nahezubringen versuchten, wie Kleine später meinte, ist bisher nicht belegt. Der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission (SPK), Gerhard Schürer, erfuhr damals davon nichts; mehr als 20 Jahre später mit der Studie vertraut gemacht, bezeichnete er ihren Vorschlag als»irrsinnig«und»absolute Idiotie«. 33 Einer 32 Vgl. ebd. 33 Gespräch d. Vf. m. Gerhard Schürer, 31.3.2004. W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009