Unabhängiger Jahreswachstumsbericht 2013 ECLM-IMK-OFCE

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Transkript:

Unabhängiger Jahreswachstumsbericht 2013 ECLM-IMK-OFCE Zusammenfassung Vier Jahre nach Beginn der großen Rezession befindet sich das Euro-Währungsgebiet nach wie vor in der Krise. Das BIP und das Pro-Kopf-BIP liegen unter dem Vorkrisenwert. Im September 2012 hat die Arbeitslosigkeit ein historisches Niveau von 11,6 % der Erwerbsbevölkerung erreicht. Das ist der Gipfel der lang anhaltenden sozialen Folgen der großen Rezession. Bei der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Schuldenstände handelt es sich um ein zentrales Anliegen der nationalen Regierungen, der Europäischen Kommission und der Finanzmärkte. Umfangreiche aufeinanderfolgende Konsolidierungsprogramme haben sich jedoch als erfolglos im Hinblick auf die Bewältigung dieses Problems erwiesen. Bislang haben die Politikgestalter den Unionsbürgern stets versichert, dass Sparmaßnahmen der einzig mögliche Weg aus dieser Sackgasse seien. Dies geschah jedoch auf der Grundlage der falschen Annahme, dass die Krise auf den verschwenderischen Umgang mit Staatsgeldern durch die Mitgliedstaaten zurückzuführen sei. Was das Euro-Währungsgebiet als Ganzes angeht, ist die Haushaltspolitik nicht die Ursache des Problems. Höhere Defizite und Schulden waren eine notwendige Reaktion von Regierungen, die mit der größten Rezession seit dem zweiten Weltkrieg zu kämpfen hatten. Die haushaltspolitische Reaktion brachte in zweierlei Hinsicht Erfolg: Sie führte dazu, dass die Rezession nicht weiter voranschritt und gleichzeitig die Finanzkrise abgemildert wurde. Die Folge war jedoch ein rasanter Anstieg der öffentlichen Schuldenstände in allen Ländern des Euro-Währungsgebiets. In normalen Zeiten ist die Tragfähigkeit der öffentlichen Schuldenstände eine langfristige Angelegenheit, während es sich bei Arbeitslosigkeit und Wachstum um kurzfristig zu bewältigende Herausforderungen handelt. Allerdings kehrten die Mitgliedstaaten und die Kommission aus Angst vor einem angeblich bevorstehenden Anstieg der Zinssätze und aufgrund sich aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt ergebender Zwänge die Gewichtung 1

der Prioritäten um, obwohl der Normalfall noch nicht wiederhergestellt war. In dieser Vorgehensweise spiegeln sich die Tücken des institutionellen Rahmens der WWU wider. Darüber hinaus steht sie für die dogmatische Sichtweise, wonach Haushaltspolitik nicht mit Bedarfsmanagement vereinbar ist und der Geltungsbereich öffentlicher Verwaltungen eingeschränkt werden muss. Diese Ideologie hat Mitgliedstaaten zu massiven Haushaltskürzungen in Krisenzeiten verleitet. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass diese Strategie starke Mängel aufweist. Die Mitglieder des Euro-Währungsgebiets, allen voran die südeuropäischen Länder, haben schlecht geplante und überstürzte Konsolidierungsversuche unternommen. Die Sparmaßnahmen haben ein in der Geschichte der Haushaltspolitik beispielloses Ausmaß angenommen. Die kumulierte Schwankung des finanzpolitischen Kurses zwischen 2010 und 2012 beträgt für Griechenland 18 % des BIP. Für Portugal liegt sie bei 7,5 %, für Spanien bei 6,5 % und für Italien bei 4,8 % des BIP. Die Konsolidierungen sind rasch synchronisiert worden, was sich negativ auf das gesamte Euro-Währungsgebiet ausgewirkt und zu einer Verstärkung der Erstrundeneffekte geführt hat. Durch den Rückgang des Wirtschaftswachstums wird die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Schuldenstände immer unwahrscheinlicher. Die Sparpolitik ist folglich eindeutig kontraproduktiv, zumal die angestrebte Verringerung der Haushaltsdefizite in Bezug auf die ursprünglich von den Mitgliedstaaten und der Kommission festgelegten Ziele weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Seit Frühjahr 2011 steigt die Arbeitslosigkeit in der EU-27 und im Euro-Währungsgebiet rasant an, allein im vergangenen Jahr sind zwei Mio. Arbeitslose hinzugekommen. Auch die Jugendarbeitslosigkeit hat während der Krise dramatisch zugenommen. Im zweiten Quartal 2012 waren 9,2 Mio. Personen im Alter von 15 bis 29 Jahren arbeitslos. Dies entspricht 17,7 % aller erwerbsfähigen Personen dieser Altersgruppe und 36,7 % aller Arbeitslosen in der EU-27. Die Jugendarbeitslosigkeit hat einen dramatischeren Anstieg als die Gesamtarbeitslosigkeit in der EU erfahren. Gleiches gilt für gering qualifizierte Arbeitnehmer. Immer dann, wenn die Arbeitslosigkeit ein hohes Niveau erreicht, verweilt sie auf diesem erfahrungsgemäß auch in den Folgejahren. Im Zuge des gegenwärtigen Anstiegs der Arbeitslosenquote sind bereits erste Anzeichen zu erkennen, dass die Arbeitslosigkeit in den kommenden Jahren auf einem hohen Stand bleiben wird. Im zweiten Quartal 2012 waren in der EU fast elf Mio. Menschen seit mindestens einem Jahr ohne Arbeit. Im vergangenen 2

Jahr hat sich die Zahl der Arbeitslosen um 1,4 Mio. Menschen in der EU-27 und 1,2 Mio. Menschen im Euro-Währungsgebiet erhöht. Als Folge der Langzeitarbeitslosigkeit hat sich die tatsächliche Zahl der Erwerbsbevölkerung verringert, was letztlich zu einer höheren strukturellen Arbeitslosenquote führen kann. Dadurch wird es schwieriger, in der EU mittelfristig Wachstum zu generieren und für gesunde öffentliche Finanzen zu sorgen. Neben diesen Auswirkungen kann Langzeitarbeitslosigkeit zu größerer Armut führen, weil die Arbeitslosenunterstützung früher als erwartet endet. Folglich könnte das Thema Arbeitslosigkeit zu einem tief greifenden sozialen Problem für die europäische Gesellschaft werden. Es wird davon ausgegangen, dass es Ende 2013 bis zu zwölf Mio. Arbeitslose in der gesamten EU und bis zu neun Mio. Arbeitslose im Euro- Währungsgebiet geben wird. Bemerkenswert dabei ist, dass die Folgen der schlecht geplanten Konsolidierungen eigentlich absehbar waren. Dennoch wurden sie größtenteils unterschätzt. Die zunehmende Menge an theoretischen und empirischen Indizien dafür, dass sich fiskalische Multiplikatoren in einer instabilen Situation vergrößern, wurde übersehen. Während in normalen Zeiten, d. h. wenn die Produktionslücke bei nahezu 0 % liegt, ein eine Verringerung des strukturellen Defizits um ein 1 % des BIP zu einem Rückgang der Beschäftigung um 0,5 bis 1 % führt (fiskalischer Multiplikator), kann dieser Wert in schlechten Zeiten 1, 5 % übersteigen und im Falle eines sehr ungünstigen Wirtschaftsklimas 2 % erreichen. Im Euro-Währungsgebiet kamen alle Faktoren (Rezession, Geldpolitik an der Null-Prozent-Grenze, kein Ausgleich bei Entwertungen, Sparmaßnahmen bei wichtigen Handelspartnern) zusammen, die zu einer Vergrößerung der Multiplikatoren über den Normalzustand hinaus führen. Der Wiederaufschwung, der ab Ende 2009 zu beobachten war, kam zum Erliegen. Für das Euro-Währungsgebiet begann im dritten Quartal 2011 eine neue Phase der Rezession, und es ist keine Verbesserung der Lage in Sicht: Es wird davon ausgegangen, dass sich das BIP 2012 um 0,4 % und 2013 um weitere 0,3 % verringert. Italien, Spanien, Portugal und Griechenland scheinen in eine Dauerkrise zu schlittern. Die Arbeitslosigkeit im Euro- Währungsgebiet, insbesondere in Spanien, Griechenland, Portugal und Irland, ist auf ein Rekordniveau gestiegen. Die Zuversicht in Bezug auf die Haushalte, Finanzinstitute und Finanzmärkte ist verschwunden. Die Zinssätze sind nicht gesunken und die Regierungen der südlichen Länder sehen sich trotz politischer Maßnahmen noch immer mit nicht tragfähigen 3

Risikoprämien auf ihre Zinssätze konfrontiert, während Deutschland, Österreich und Frankreich von historisch tiefen Zinssätzen profitieren. Statt den Schwerpunkt auf Haushaltsdefizite zu legen, sollte die Ursache der Krise angegangen werden. Das Euro-Währungsgebiet litt in erster Linie unter einer Zahlungsbilanzkrise, die auf Leistungsbilanzungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten zurückzuführen war. Als die zum Ausgleich dieser Ungleichgewichte benötigten Finanzströme versiegten, entwickelte sich die Krise zu einer Liquiditätskrise. Es hätten Versuche unternommen werden sollen, die Nominallöhne und -preise in ausgewogener Art und Weise anzupassen, um die negativen Folgen für Nachfrage, Produktion und Beschäftigung möglichst gering zu halten. Stattdessen wurde jedoch versucht, eine Lösung in Form flächendeckender Sparmaßnahmen zu erzwingen, indem durch eine Begünstigung der Arbeitslosigkeit eine Senkung der Nachfrage, der Löhne und der Preise erzwungen wurde. Auch wenn es sich bei der Haushaltskonsolidierung bis zu einem gewissen Maße vermutlich um einen notwendigen Bestandteil einer Wiederausgleichsstrategie zur Eindämmung unverhältnismäßiger Ausgaben in einigen Ländern handelte, waren symmetrische Maßnahmen von Ländern mit großen Überschüssen, insbesondere Deutschland, unerlässlich, um die Nachfrage anzukurbeln und für ein schnelleres Wachstum von Nominallöhnen und -preisen zu sorgen. Stattdessen wurde die Hauptlast bei der Anpassung auf die Defizitländer abgewälzt. Zwar wurden Fortschritte bei der Bekämpfung der Ungleichgewichte in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit gemacht, jedoch zu einem hohen Preis. Aufgrund des Versäumnisses, für ausgewogene Maßnahmen seitens der Überschussländer zu sorgen, hat sich gleichzeitig der Handelsbilanzsüberschuss des Euro-Währungsgebiets erhöht. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich dabei um eine nachhaltige Lösung handelt, da dies zu einer Umverteilung der Anpassungslasten auf Länder, die nicht dem Euro-Währungsgebiet angehören, und letztlich zu Gegenmaßnahmen führt. Diese gravierenden Probleme müssen dringend in Form einer öffentlichen Debatte diskutiert werden. Die Politikgestalter haben abweichende Meinungen bisher weitgehend ignoriert, auch als diese mit mehr Vehemenz geäußert wurden. Da die neuen finanzpolitischen Rahmenvorschriften der EU den Mitgliedern des Eurowährungsgebiets einen gewissen Spielraum lassen, sollten die Entscheidungen im Hinblick auf die gegenwärtige makroökonomische Strategie für das Euro-Währungsgebiet nicht mehr allein bei der Europäischen Kommission liegen. Zum einen können die Länder außergewöhnliche 4

Umstände geltend machen, da sie mit einem außergewöhnlichen Ereignis im Sinne des überarbeiteten SWP, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaats entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt oder auf einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung zurückzuführen ist ( ) konfrontiert sind. Zum anderen kann Ländern mit einem übermäßigen Defizit unter Hinweis auf Folgendes die Konsolidierung erleichtert werden: In seiner Empfehlung ersucht der Rat den Mitgliedstaat, jährliche Haushaltsziele zu erfüllen, die auf der Grundlage der die Empfehlung untermauernden Prognose mit einer jährlichen Mindestverbesserung des konjunkturbereinigten Saldos ohne Anrechnung einmaliger und befristeter Maßnahmen um einen als Richtwert dienenden Satz von mindestens 0,5 % des BIP vereinbar sind, um die Korrektur des übermäßigen Defizits innerhalb der in der Empfehlung gesetzten Frist zu gewährleisten. Dabei handelt es sich freilich um ein Mindestmaß, aber es würde auch als ausreichende Voraussetzung erachtet, wieder eine Defizitquote gemessen am BIP von 3 % und eine Schuldenquote von 60 % zu erreichen. Folglich bedarf es einer alternativen Vier-Punkte-Strategie: Erstens, Verzögerung und Verteilung der Haushaltskonsolidierung unter Einhaltung der bestehenden finanzpolitischen Vorschriften der EU. Wenn anstelle von Einsparungen in Höhe von fast 130 Milliarden Euro im gesamten Euro-Währungsgebiet eine ausgewogenere Haushaltskonsolidierung von 05, % des BIP im Einklang mit den Verträgen und dem Fiskalpakt angestrebt würde, könnte damit allein für 2013 ein konkreter Handlungsspielraum von mehr als 85 Milliarden Euros erreicht werden. Dieser Betrag würde im krassen Gegensatz zu den Versprechen des Europäischen Rates auf seinen Tagungen im Juni und Oktober 2012 stehen, bis 2020 120 Milliarden Euro (bislang ungebundener) Mittel im Rahmen des Beschäftigungs- und Wachstumspakts zur Verfügung zu stellen. Durch eine Verzögerung und Beschränkung der Konsolidierung könnte das Durchschnittswachstum im Euro-Währungsgebiet von 2013 bis 2017 um 0,7 % pro Jahr gesteigert werden. Zweitens muss die EZB für die Länder des Euro-Währungsgebiets im vollen Umfang als Kreditgeber letzter Instanz fungieren, um sie vom enormen Druck durch die Finanzmärkte zu entlasten. Um ihnen ihre Angst zu nehmen, muss die EU einen glaubwürdigen Plan verfügen und diesen ihren Gläubigern erläutern. Drittens, eine wesentliche Erhöhung der Darlehen durch die Europäische Investitionsbank sowie weitere Maßnahmen (insbesondere die Verwendung von 5

Strukturfonds und Projektanleihen), um die EU-Wachstumsagenda deutlich voranzubringen. Die bereits erwähnten Versprechen müssen in Form konkreter Investitionen umgesetzt werden. Viertens sollte durch enge Koordinierung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen eine Verringerung der Leistungsbilanzungleichgewichte angestrebt werden. Die Anpassungslasten sollten nicht nur bei den Defizitländern liegen. Außerdem sollten Deutschland und die Niederlande Maßnahmen zur Verringerung ihrer Überschüsse ergreifen. 6