Alles geschah immer freiwillig. Mir hat nie jemand gesagt: Du musst jetzt!

Ähnliche Dokumente
PERSONEN MARIA: lebt mit ihrer Familie in Astenberg/

Heißer und kalter Dank Predigt am zu Lk 17,11-19 Pfr. z.a. David Dengler

Musik, Arbeit... und der Humor haben uns jung erhalten!

Musik und Mindset. Erfolgreich mit Deinem eigenen Business

Zu ihm ist man gepilgert. Wollte ihn erleben.

TEIL 1, Fragen 1 4. Ergänzen Sie die Dialoge.

Das Bandtagebuch mit EINSHOCH6 Folge 36: DAS LEBEN IST SCHÖN

5 GRÜNDE, WARUM DIE MEISTEN BEZIEHUNGEN SCHEITERN UND WAS DU DAGEGEN TUN KANNST

Paul Klee und Wassily Kandinsky in Leichter Sprache

Adverbiale Bestimmungen. NIVEAU NUMMER SPRACHE Mittelstufe B2_1065G_DE Deutsch

Frieder Harz. Religiöse Erziehung und Bildung. Erzà hlung zu: Wohnt Gott im Tempel (1.Kà 8) Erzählung zu 1. Könige 8: Wohnt Gott im Tempel?

Kirche und Heimat? Kirche wirft eine neue Wertigkeit des Begriffs in die Diskussion.

Das Geheimnis der Dankbarkeit

Weihnachts-Zeit in einem fremden Land

mehr schlägt, wenn ich weine, sind Tränen für mich etwas Verbotenes geblieben. Trotzdem weine ich, Georg. Um dich, um mich, um das, was war, und vor

Optimal A2/Kapitel 6 Zusammenleben Familien früher und heute

Am Wegesrand steht rot der Mohn

Die letzte Weihnacht für Opa Hansen

Gottesdienst zum Jahresschluß am um Uhr in der Christuskirche Nied

MONATSBERICHT OKTOBER

Das Geheimnis der Mondprinzessin - Was danach geschah.

Endstation Hoffnung. Ein Drama von Sascha Kirmaci

Rumpelkammer zu öffnen, während wir warteten. Der Abstellraum liegt ausserhalb meiner Wohnung, ein halbhoher, schräger Verschlag unter dem

Malen bereichert das Leben

Weihnachtsspiel von Magdalena Stockhammer

Ja, aber du kriegst das sofort zurück, wenn ich meinen Lohn kriege.

Weinfelder. Predigt. Von Gott eingesetzt. Oktober 2013 Nr Jeremia 1,4-8

Weihnachten Das Wort wird Fleisch oder: Gottes Zärtlichkeit. der soll mal ein klares Wort sprechen, so heißt es immer mal.

da machen sich die Hirten auf, weil sie dem Ruf eines Engels folgen und die drei Weisen aus dem Morgenland folgen einem Stern.

Sie durften nicht Oma zu ihr sagen. Auf keinen Fall! Meine Mutter hasste das Wort Oma.

HGM Hubert Grass Ministries

Mein bester Urlaub LESEN. NIVEAU NUMMER SPRACHE Anfänger A2_2024R_DE Deutsch

SOS Sehnsucht. 1. Kapitel

Domvikar Michael Bredeck Paderborn

die Jugendlichen aus Belgien und Deutschland, die ihr diese Gedenkfeier heute mitgestaltet.

Unverkäufliche Leseprobe

Ein Stück über Alltagswiderstand, Gräuel der NS-Zeit und den Wunsch zu Latschen statt zu Marschieren für Menschen ab 11 Jahren

ANDREA EISSLER. Und doch bei dir. geborgen. Ermutigungen für schwere Zeiten

Brückengespräch mit Harry Gfreiter, Co-Trainer beim SSV Jahn Regensburg am Mittwoch, 6. Mai 2015 beim Jahnwirt in Regensburg

Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur "einer, und

MOTIVE A1 Einstufungstest. Teil 1. Ordnen Sie das fehlende Wort / die fehlenden Wörter zu. Es gibt nur eine richtige Lösung. MOTIVE A1 Einstufungstest

2 Mose, ich will mit dir sein! Ablauf der Feier im Detail. Vorbereiten

Maria, die Mutter von Jesus wenn ich diesen

Sonja Bougaeva Zwei Schwestern bekommen Besuch Atlantis-Verlag Zürich 2005 ISBN

Plameco Decken. Wohnzimmer

ADA. Leseprobe aus. Simone Regina Adams. Die Halbruhigen

sagt nicht die Wahrheit, er lügt. Männer; sie arbeiten für den König. 4 der Lügner, 5 die Wachen (Pl.)

ORSZÁGOS ÁLTALÁNOS ISKOLAI TANULMÁNYI VERSENY 2017/2018. NÉMET NYELV FELADATLAP 7. osztály iskolai forduló

36 Fragen zum Verlieben

TROTZ GELD UND GUT Von Julius Neidl

LEITFADEN ZUM LEBENSRÜCKBLICKGESPRÄCH

Tamara Roos. Schutzengel in Not. Große Liebe, großes Leid


stimmte. Das kleine Wohnzimmer war ein einziges Chaos auf den Boden gefallene Sofakissen, herumliegende Kleidungsstücke. Auf die Wand zu ihrer

HGM Hubert Grass Ministries

Mit der Zeit aber hat Frau K. gelernt, damit umzugehen: Wenn ihr mal wieder die Angst in die Glieder

Eltern, die Bedienungen hatten bodenlange weiße Schürzen, es war alles irgendwie edel. Was für ein Kontrast. Das hier und die Hinterhöfe, in denen

Vorstellungsgottesdienst der Erstkommunionkinder 2008/2009 Mit Jesus unterwegs

Sie haben Gäste aus Israel eingeladen, die mit Ihnen gemeinsam über Wege der Erinnerung nachdenken.

Kreativität. Spiegelbilder. der Natur. Von Arnold Pressler

Jesus, wer bist du eigentlich? Mit Jesusgeschichten die Fastenzeit gestalten

WORTGOTTESDIENST IM JULI 2016 Fest Mariä Heimsuchung ( 2. Juli )

Nehmt das Brot und esst davon und teilt es untereinander! Das ist mein Leib, für euch gegeben!

Wohnsituation. Gefällt es Ihnen so wie es ist oder würden Sie gerne etwas daran ändern?

Gefühle der Selbstfindung Texte und Aquarelle

Über den Autor: Dein Ziel ist es, deinen Ex-Partner zurückzugewinnen, ich helfe dir dabei! Webseite: daniel-caballero.de

Reinier & Szilvia van Gerrevink. Wer bist du? & Lebst du schon deine Berufung? van Gerrevink GmbH.

Die Texte zum Chor. abseits-chor. Singen bewegt. Soziale Dienste SKM ggmbh

Predigt in der Christvesper an Heilig Abend, 17 Uhr, in der Cyriakuskirche in Illingen Predigttext: Lukas 2,1-20 Predigt Pfarrer Wolfgang Schlecht

1. Pferde lehren, Verantwortung zu übernehmen

Berufsausbildung Helga Regina Buhlmann A14/B9-108

Mein Leben. Angaben zu Ihrem Leben und persönliche Erinnerungen

Fühlst Du Dich in unserer Gemeinde willkommen?

FINISHING WELL. Teil 8 Reflektion

MEDITATION 3DER WEG ZUM INNEREN HEILIGTUM IM HERZEN

Video-Thema Begleitmaterialien

4. Ich wünschte, ich hätte Freundschaften mehr gepflegt. Er ist das Feld, das ihr mit Liebe besät und mit Dankbarkeit erntet.

Der Weihnachtsdrache von Sebastian Koesling Klasse 5 FGH

Gedenkworte Volkstrauertag Kriegsgräberstätte Ysselsteyn/ NL 16. November 2014, Uhr

24. Dezember 2015, 16 Uhr, Heiligabend in Birlinghoven

Meine Tante wird am 7. März 1940 ermordet. Sie heißt Anna Lehnkering und ist 24 Jahre alt. Anna wird vergast. In der Tötungs-Anstalt Grafeneck.

Anfang ist immer. Über das Lassen und das Tun. Petra Dietrich

Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl.

Roman. Aus dem Englischen von Katharina Kramp

Auch starke Kinder weinen manchmal von Paulina*

1 Der geheimnisvolle Fund

Predigt Invokavit 2019 Hebr 4,14-16

4.2.1 Textheft zum Bilderbuchkino Der kleine Polarforscher

Unheilig Unter deiner Flagge

ACHTSAMKEIT UND DER INNERE BEOBACHTER. Dr. Monika Veith

Predigt zu 2. Mose 33, 7-22

Rund um die Kartoffelknolle

Ein geheimnisvoller Brief

Weil ich dich liebe, Papa

Die Immanuelkirche Erkundungstour für Kinder

Wenn der Papa die Mama haut

1 Ich bin einmalig 7

"Folge mir nach!" Rückblick: Wovon ist mein Glaube bestimmt?

Transkript:

Alles geschah immer freiwillig. Mir hat nie jemand gesagt: Du musst jetzt!

Es war eine reiche Zeit Hildegard Wallner aus Regensburg Oft frage ich mich: Was ist der rote Faden, der sich durch das Leben eines Menschen zieht, welche Erlebnisse haben ihn geprägt, dass er zu dem Menschen werden konnte, der er heute ist. Es ist die Erziehung, vor allem durch meine Mutter.. es ist die Musik... und meine Liebe zur Freiheit... es sind meine Freundschaften, die ich heute noch intensiv pflege, sagt Hildegard Wallner, die ich in ihrer kleinen Wohnung in Regensburg besuche.

Der Empfang ist von einer ganz selbstverständlichen Herzlichkeit geprägt. Es ist, als ob wir uns schon Jahre kennen würden. Tee und Kuchen stehen auf dem Tisch und zusammen mit Hedi, die den Kontakt hergestellt hat, entsteht schnell ein persönliches Gespräch. Nichts bleibt an der Oberfläche. Mit wacher Aufmerksamkeit sitzt Frau Wallner da, hört mir zu, stellt Fragen, interessiert sich für mich, meinen Werdegang, mein Leben. Für eine Frau mit 84 Jahren keine Selbstverständlichkeit. Das landläufige Klischee, dass alte Menschen einfach von sich und ihrem Leben erzählen möchten, dass sie jemanden brauchen, der ihnen zuhört, wird hier ganz einfach umgedreht. Was ist es, das mich an Hildegard Wallner so fasziniert? Sind es Punkte in ihrem Leben, die bei mir eigene Erfahrungen wach rufen? Ist es die Liebe zur Freiheit, die uns verbindet? Die religiöse Erziehung?

Ich glaube, es ist ist mehr. Es ist die Sehnsucht, in unserer hektischen Zeit die Verbindung von Aktivität und innerer Ruhe auf die Reihe zu bringen. Ganz im Augenblick zu leben, ohne der Vergangenheit nachzutrauern oder sich über die Zukunft Sorgen zu machen. Genau das spüre ich bei Frau Wallner. Alles ist gut, wie es ist. Auch die schweren Erfahrungen ihres Lebens, ihre erste gescheiterte Ehe, als sie auszog und nichts mitnahm außer ihrem Klavier, die jahrelange Pflege ihres zweiten Mannes, den sie erst in den letzten Jahren seiner schweren Krankheit heiratete. Woher sie die Kraft nimmt, solche Zeiten mit soviel Lebensmut durchzustehen, frage ich sie. Alles war eine reiche Zeit!, sagt sie. Mir war das nicht bewusst, ich habe einfach nur gelebt! Wahrscheinlich kommt es aus meiner Kindheit, von meiner religiösen Erziehung, die ich ganz selbstverständlich und ohne Druck erfahren durfte.

In meiner Fotomappe entdeckt sie ein Porträt mit einem Zitat von Gabriel Marcia Marquez über die Einsamkeit: Das Geheimnis eines schönen Alters ist der würdige Umgang mit der Einsamkeit. Ja, das ist schon auch ein Thema für mich, sagt sie. Aber damit lässt sie es bewenden. Ich merke, der Satz des kolumbianischen Schriftstellers ist für sie gelebte Realität. Die Freiheit ist für Hildegard Wallner einer sehr hoher Wert. Vielleicht hat sie diesen Wert von ihrem Vater geerbt, der schon in jungen Jahren aus dem Internat, das ihn zum Priesterberuf führen sollte, ausbrach. Und der ihr und ihren Musikerfreunden nach dem Krieg in einer bewundernswerten Toleranz jeden

Abend das heimische Wohnzimmer zur Verfügung stellte, damit sie ihrer Leidenschaft, der Musik, nachgehen konnte. Das möchte sie auch ihrer Enkelin vermitteln, die seit Studienbeginn ihr regelmäßiger Gast ist: Ich möchte ihr nicht zu nahe treten mit Fragen. Sie soll so sein dürfen, wie sie ist. Wenn sie kommt, ist es gut, dann bin ich für sie da. Wenn sie nicht kommt, ist es genauso gut. Die Musik zieht sich als weiterer roter Faden durch ihr Leben. Schon in jungen Jahren brachte ihr ihre Mutter das Klavierspielen bei, und noch heute ist es für sie selbstverständlich, dass sie regelmäßig im Gottesdienst die Orgel spielt oder sich mit ihren Freundinnen und Freunden zum Musik machen trifft. Beim Arbeitsdienst während des 2. Weltkrieges hatte sie das Glück, eine Gruppenführerin zu haben, die jenseits aller politischen Propaganda mit ihrer Gruppe musizierte und Literatur und Kultur pflegte. Wir waren wie auf einer Insel, fernab vom Geschehen des Krieges, erzählt sie.

Man spürt: es ist ihr Leben, als Hildegard Wallner das durch die Kälte mächtig verstimmte Cello aus ihrem Schlafzimmer holt. Mit der gleichen Energie, mit der sie ihr Leben meistert, dreht sie an den hölzernen Wirbeln ihres Instruments. Mit 74 Jahren hat sie sich das Cello-Spielen beigebracht und beim einem Streichquartett von Haydn spürt man das Einssein mit ihrem Instrument. Als sie am Klavier den Gesang ihrer Freundin Hedi begleitet, wird wieder die über eine Generation hinweg verbindende Kraft der Musik sichtbar und hörbar.

Ihr Terminkalender ist voll. Orgel spielen, Flötengruppe, Altenbesuche, Freundschaften pflegen - und nicht zu vergessen die regelmässige Schafkopfrunde. Um all das wahrnehmen zu können, braucht sie ihren 10 Jahre alten VW, es ist ein Stück ihrer Freiheit. Das ist ihr auch wichtig, wenn sie mit ihrer Enkelin das Auto teilt. Mit einer herzlichen Umarmung werde ich verabschiedet. Es wäre schön, wenn wir uns wieder mal sehen würden! Dem kann ich mich nur anschließen. Das Gefühl, dem Leben wieder ein Stück näher gekommen zu sein, begleitet mich nach draußen.

Fotos und Text: Georg Schraml