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Transkript:

Ein praxistaugliches spartenübergreifendes Kundenwertmodell unter besonderer Berücksichtigung des Cross-Selling-Potenzials Andreas Reuß, Jörg Zimmermann, Prof. Dr. Hans-Joachim Zwiesler, alle Ulm Seit der Deregulierung der europäischen Versicherungsmärkte Mitte der 90er Jahre sehen sich die Versicherer einem zunehmend intensiveren Konkurrenzkampf und Verdrängungswettbewerb ausgesetzt. Der Druck auf die Versicherer erhöht sich zudem aufgrund eines höheren Anspruchsniveaus der Kunden und des Eindringens neuer Wettbewerber. Nicht zuletzt ermöglicht das Internet sowohl eine hohe Vergleichbarkeit der zahlreichen Produkte als auch eine hohe Transparenz des Marktes und trägt somit maßgeblich zu aufgeklärten und informierten Kunden bei. Dies hat dazu geführt, dass der heutige Kunde kritischer und weniger loyal gegenüber Produkten und Unternehmen ist. Er erwartet überzeugende, glaubwürdige und attraktive Angebote und hat mehr Möglichkeiten, Preis-Leistungs- Verhältnisse von Produkten und Dienstleistungen einzuschätzen und miteinander zu vergleichen. Aufgrund dieser Veränderungen gewinnt in der Versicherungsbranche ein funktionierendes Kundenbindungsmanagement zunehmend an Bedeutung und wird ein zentraler Erfolgsfaktor der Zukunft sein. Lange Zeit konnte eine gut laufende Neukundenakquisition in wachsenden Märkten die Schwächen in der Kundenbindung ohne große Mühen kompensieren. In stagnierenden Märkten werden die Absatzerfolge des einen Versicherers aber zunehmend zum Storno des anderen. Die Kundenbindung muss somit neben der Neukundenakquisition in den Mittelpunkt der Marketing- und Vertriebsausrichtung rücken. Dies erfordert ein Umdenken bei vielen sparten- und vertriebsgeprägten Versicherern, die ihren Kundenstamm meist nur oberflächlich kennen. Lange Zeit verfolgte man mit dem Kundenbindungsmanagement das Ziel der Zero Defections, d.h. die Bindung ausnahmslos aller Kunden an das Unternehmen. Unter dem Einfluss knapper Ressourcen rückt inzwischen aber zunehmend die wertorientierte Steuerung in den Mittelpunkt des Interesses der Unternehmen. So wird es z.b. nicht mehr als zweckmäßig angesehen, ausnahmslos alle Kunden an das Unternehmen zu binden, vielmehr kommt es darauf an, die richtigen, d.h. profitablen Kunden, dauerhaft zu halten. Die Frage, wie die richtigen Kunden identifiziert werden können, fand bisher allerdings nur wenig Beachtung. Auch in der wissenschaftlichen Literatur sind keine Modellierungsansätze zur Kundenbewertung vorzufinden, die die Besonderheiten der Versicherungsbranche berücksichtigen und gleichzeitig praktikabel sind. Versicherungswirtschaft, Heft 4/2006, S. 303-307 1

Besonderheiten der Ermittlung des Kundenwerts in der Assekuranz Da ein Versicherungsvertrag neben dem Versicherungsunternehmen (VU) und dem Versicherungsnehmer (VN) zahlreiche weitere Beteiligte wie z.b. die versicherte Person (VP), den Beitragszahler oder die begünstigte Person kennt, die nicht zwangsweise durch eine einzige natürliche Person verkörpert werden, ist zu klären, welcher dieser Beteiligten als Kunde des VU aufzufassen ist. Da der VN der juristische Vertragspartner des Versicherers ist, der alle Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsvertrag trägt, sollte aus Unternehmenssicht der VN als Kunde des VU definiert werden. Die Dauer der Kundenbeziehung ist dann klar durch die Laufzeit der Versicherungsverträge bestimmt, wobei auch zukünftige Abschlüsse zu berücksichtigen sind. Eine Kundenbeziehung beginnt mit dem ersten Abschluss einer Versicherung und ist mit dem Vertragsende der letzten Versicherung als beendet anzusehen. Eine Versicherung ist kein materielles Gut, sondern vielmehr ein Dienstleistungsvertrag, der gekennzeichnet ist durch eine oft mehrjährige Laufzeit und ein vom Versicherten auf den Versicherer übertragenes Risiko. Somit ist eine Beurteilung von Kundenbeziehungen in der Versicherungsbranche nur dynamisch unter Berücksichtigung der kompletten verbleibenden Restdauer der Kundenbeziehung möglich. Allein aufgrund der hohen Akquisitionskosten bei Vertragsabschluss erzielt der Versicherer zu Beginn einer Kundenbeziehung gar keine oder nur sehr geringe Gewinne mit einem Neukunden, sodass eine zu diesem Zeitpunkt durchgeführte periodenbezogene Kundenbewertung zu einer völlig falschen Schlussfolgerung führen würde. Aufgrund der langen Kundenbeziehungsdauer und des sich über den Lebenszyklus wandelnden Versicherungsbedarfs ist für die Ermittlung des Kundenwertes in der Versicherungswirtschaft eine Berücksichtigung des zukünftigen Erfolgspotenzials aus dem möglichen Abschluss weiterer Versicherungen (Cross- und Up-Selling) wünschenswert. Theoretisch sind die Versicherer in der glücklichen Lage, sehr detaillierte Daten sowohl über den bisherigen Verlauf der Kundenbeziehungen als auch über die Kunden selbst zu haben. In der Praxis ist dies i.d.r. aber nicht der Fall. In den Datenbanksystemen wurden die Daten über den bisherigen Verlauf der Kundenbeziehungen lange Zeit nicht ausreichend historisiert. Vielfach gehen durch Überschreiben von Einträgen nützliche Daten und Informationen verloren. Eine gezielte Historisierung der Daten wird bei vielen VU erst seit Kurzem betrieben. Darüber hinaus existieren in den Versicherungskonzernen für die einzelnen Sparten oftmals gewachsene Insellösungen zur Datenhaltung, sodass ein Datenaustausch und -abgleich unter den einzelnen Sparten schwierig ist. Was die persönlichen Kundendaten angeht, so ist kaum ein Wirtschaftszweig näher am Kunden als die Versicherungsbranche. Die Hoheit über die Kundendaten liegt in der Praxis allerdings bei den Vertriebsmitarbeitern, die diese Daten meist nicht weiterleiten, da ihnen diese Verhandlungsmacht gegenüber dem Versicherer verschafft. Somit liegen dem VU oftmals nur unzureichend aktualisierte persönliche Informationen über den Kunden vor. Versicherungswirtschaft, Heft 4/2006, S. 303-307 2

Aufgrund dieser Einschränkungen ist bei der Kundenwertmodellierung darauf zu achten, dass das Modell die Leistungsfähigkeit der Systeme und die vorhandene Datensituation berücksichtigt. Zielsetzung der Kundenwertmodellierung Der Kundenwert ist eine prospektive Beurteilung der Kundenbeziehungen und soll widerspiegeln, welcher Profit für den Versicherer aus einer Kundenbeziehung zu erwarten ist. Hieraus ergibt sich unter Beachtung der Besonderheiten der Versicherungswirtschaft ein umfangreicher Katalog von Anforderungen an ein Kundenwertmodell: Ganzheitliche Betrachtung und Modellierung der Kundenbeziehung unter Einbeziehung aller Sparten Prospektive Kundenbewertung Berücksichtigung monetärer und nicht-monetärer Einflussgrößen Modellierung von Cross- und Up-Selling-Potenzialen Möglichkeit des Einsatzes zur wertorientierten Steuerung von Marketing, Vertrieb und Service Eignung zur praktischen Umsetzung unter Beachtung der Leistungsfähigkeit der Systeme des Versicherers Möglichkeit zur schrittweisen Weiterentwicklung und Verbesserung. Betrachtet man die bekanntesten Kundenwertmodelle, so stellt man fest, dass sie diese Kriterien nicht erfüllen. Einige Modelle zur Kundenbewertung, wie beispielsweise die Kundendeckungsbeitragsrechnung oder die ABC-Analyse, klassifizieren die Kunden lediglich anhand einzelner Einflussfaktoren, wie z.b. den Deckungsbeitrag. Der Ansatz des Customer-Lifetime-Value berücksichtigt zwar mehrere, dafür aber ausschließlich monetäre Einflussfaktoren. Beliebige Einflussfaktoren können dagegen beim Scoring-Modell abgebildet werden; aufgrund der möglichen Korrelation der verschiedenen Einflussgrößen stellt sich hier in der praktischen Umsetzung aber das Problem der geeigneten Gewichtung der einzelnen Komponenten. Im Folgenden stellen wir ein Kundenwertmodell vor, das speziell für die Bedürfnisse der Versicherungswirtschaft konzipiert wurde und die genannten Kriterien erfüllt. Versicherungswirtschaft, Heft 4/2006, S. 303-307 3

Der dreidimensionale Kundenwert Der obige Anforderungskatalog zeigt, dass die Kundenwertmodellierung kein Selbstzweck ist, sondern einen praktikablen Kundenwert liefern soll, mit dessen Hilfe Antworten auf zahlreiche Fragen gefunden werden können und der vielfältig zur Steuerung eingesetzt werden kann. Dies setzt eine hohe Transparenz des Kundenwertmodells voraus. Aus diesem Grund wird der Kundenwert im Folgenden nicht in einer einzigen Zahl verdichtet, sondern setzt sich aus den folgenden drei Komponenten zusammen: 1 dem gegenwärtigen Erfolgspotenzial, dem zukünftigen Erfolgspotenzial und dem komplementären Wertbeitrag. Das gegenwärtige Erfolgspotenzial ist der erwartete zukünftige Gewinn aus den zum Betrachtungszeitpunkt bereits bestehenden Verträgen und wird als monetäre Größe berechnet. Das zukünftige Erfolgspotenzial ist der erwartete Gewinn aus einer potenziellen Ausweitung der Geschäftsbeziehungen durch Cross- bzw. Up-Selling und wird ebenfalls als monetäre Größe berechnet. Alle verbleibenden weichen Einflussgrößen auf den Wert einer Kundenbeziehung, die sich nicht in einen monetären Wert fassen lassen, werden in der Komponente komplementärer Wertbeitrag abgebildet. Hierzu zählen u.a. die Zahlungsmoral und die bisherige Schadenhäufigkeit des Kunden. Diese Größen können in einem Scoring-Wert zusammengefasst werden oder zu einer Klassifikation der Kunden (vergleichbar mit der ABC-Analyse) verwendet werden. Ausgehend vom Konzept des dreidimensionalen Kundenwerts ergibt sich der Kundenkubus als Instrument zur Positionierung, Visualisierung und Steuerung einzelner Kunden oder des ganzen Kundenstammes. Die Kunden oder Kundengruppen werden hierzu entsprechend ihres Kundenwerts in das Modell des Kundenkubus aus Abbildung 1 eingetragen. Exemplarisch werden die einzelnen Dimensionen hier in niedrig und hoch kategorisiert. In der praktischen Anwendung würde diese Unterteilung natürlich situationsbedingt je nach Intention und Aufgabenstellung erfolgen. Monetäre Größen, wie in den Komponenten gegenwärtiges bzw. zukünftiges Erfolgspotenzial, werden in Euro abgetragen, während der komplementäre Wertbeitrag in Form eines Score-Werts angegeben ist. Versicherungswirtschaft, Heft 4/2006, S. 303-307 4

Abbildung 1: Der Kundenkubus In dem beispielhaft dargestellten Kundenkubus in Abbildung 1 wurden acht Kundensegmente entsprechend ihres Kundenwerts identifiziert. Für jedes dieser Segmente lassen sich nun individuell zugeschnittene kundenwertorientierte Steuerungs- und Marketing-Strategien anwenden. In der Praxis wird nicht jedem der acht Segmente die gleiche Bedeutung beigemessen und es müssen in einem Unternehmen auch nicht alle Segmente existieren. Besonderes Augenmerk des Marketings ist beispielsweise auf das Kundensegment mit einem niedrigen gegenwärtigen Erfolgspotenzial, dafür aber hohem zukünftigen Erfolgspotenzial und einem hohen komplementären Wertbeitrag zu legen. Diese Kundensegmente sollten weiter erschlossen und ausgebaut werden. Werden z.b. im komplementären Wertbeitrag in erster Linie die Zahlungsmoral der Kunden in Form von Mahnverfahren oder aber die Schadenhäufigkeit des Kunden Versicherungswirtschaft, Heft 4/2006, S. 303-307 5

abgebildet, so ist grundsätzlich zu überlegen, ob Anstrengungen seitens des Versicherers für Kundensegmente mit einem niedrigen komplementären Wertbeitrag unternommen werden, oder ob diese Kundenbeziehungen aufgegeben werden sollten, da sie ein schlechtes Risiko für den Versicherer darstellen. Bestimmung der einzelnen Kundenwertkomponenten Ausgehend vom Grundkonzept des Kundenkubus stellt sich die Frage, wie sich die einzelnen Komponenten des Kundenwertmodells berechnen lassen. Gegenwärtiges Erfolgspotenzial Das gegenwärtige Erfolgspotenzial ist der erwartete zukünftige Gewinn aus den zum Betrachtungszeitpunkt bereits bestehenden Verträgen und kann auch als Vertragswert aufgefasst werden. Zur Modellierung dieser Komponente sind somit sowohl die Vertragslaufzeit als auch die damit verbundenen Cashflows anhand der Daten der Vergangenheit zu schätzen. Zu den Cashflows zählen auf der Einnahmeseite die Prämien- und Zinseinnahmen; auf der Kostenseite sind die Leistungen im Schadensfall, die Verwaltungskosten und die Abschlusskosten zu berücksichtigen. Bei der Modellierung des gegenwärtigen Erfolgspotenzials wird aufgrund der unterschiedlichen Funktionsweise zwischen Verträgen mit bzw. ohne Sparvorgang unterschieden. Verträge mit Sparvorgang In die Kategorie der Verträge mit Sparvorgang fallen z.b. die komplette Lebensversicherungssparte, die private Kranken-Vollversicherung und die Unfallversicherung mit Beitragsrückgewähr. Für diese Verträge ist neben den Cashflows auch der Sparvorgang zu modellieren. Das gegenwärtige Erfolgspotenzial dieser Verträge kann beispielsweise mit Hilfe des Profit-Tests ermittelt werden. Der Profit-Test schätzt die zukünftig erwarteten Cashflows unter Verwendung realistischer Annahmen über die zukünftige Entwicklung der Verträge. Diese Annahmen beruhen auf Erfahrungswerten des Unternehmens oder des Marktes und auf einer Beurteilung der Auswirkungen der zugrunde gelegten Strategien und Unternehmensentscheidungen. Die Verträge werden beim Profit-Test grundsätzlich über ihre gesamte Laufzeit hinweg betrachtet. Zur Bestimmung des gegenwärtigen Erfolgspotenzials werden also die erwarteten zukünftigen Cashflows unter Verwendung von Rechnungsgrundlagen 2. Ordnung geschätzt. Der Barwert dieser erwarteten zukünftigen Cashflows bildet das gegenwärtige Erfolgspotenzial. Versicherungswirtschaft, Heft 4/2006, S. 303-307 6

Verträge ohne Sparvorgang Für alle Verträge ohne Sparvorgang ergibt sich das gegenwärtige Erfolgspotenzial im Wesentlichen aus den erwarteten Deckungsbeiträgen. Zur Berechnung des gegenwärtigen Erfolgspotenzials gilt es somit, die erwarteten zukünftigen Beitragseinnahmen, die sonstigen erwarteten Einnahmen des Vertrags (wie z.b. die auf den Einzelvertrag umgerechneten Zinserträge der Schwankungsrückstellungen), die erwarteten Schadenzahlungen und die dem Einzelvertrag zurechenbaren erwarteten Kosten zu schätzen. Die erwarteten zukünftigen Beitragseinnahmen werden dabei durch Fortschreibung des aktuellen Beitrags ermittelt; die restlichen Größen können für einzelne Kundensegmente beispielsweise bestimmt durch das Kundenalter, das Geschlecht und die bisherige Vertragslaufzeit aus den Daten der Vergangenheit geschätzt werden. Das gegenwärtige Erfolgspotenzial berechnet sich schließlich als Barwert der erwarteten zukünftigen Cashflows, unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit, dass der betrachtete Vertrag zum jeweiligen Zeitpunkt weiterhin besteht. Eine solche Bestandsverbleibewahrscheinlichkeit berücksichtigt sowohl Storni als auch Vertragsverlängerungen und lässt sich ebenfalls für einzelne Kundensegmente aus den Daten der Vergangenheit schätzen. Zukünftiges Erfolgspotenzial Das zukünftige Erfolgspotenzial ist der erwartete zukünftige Gewinn aus Cross- bzw. Up-Selling-Abschlüssen. Diese Kundenwertkomponente wird durch die Vertragswerte neu abgeschlossener Verträge und die zugehörigen Abschlusswahrscheinlichkeiten modelliert. Zur Berechnung des zukünftigen Erfolgspotenzials gilt es somit für die einzelnen Versicherungssparten den erwarteten Profit aus einem neu abgeschlossenen Vertrag und möglichst kundenindividuelle Cross- und Up-Selling-Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen. Der erwartete Vertragswert eines Neuabschlusses lässt sich analog zum gegenwärtigen Erfolgspotenzial aus den erwarteten Cashflows und Bestandsverbleibewahrscheinlichkeiten ermitteln. Da in diesem Fall noch kein Jahresnettobeitrag bekannt ist, kann dieser durch einen Schätzwert für einzelne Kundensegmente ersetzt werden. Für Verträge mit Sparvorgang kann der erwartete Vertragswert wiederum analog zum gegenwärtigen Erfolgspotenzial durch einen Profit-Test geschätzt werden. Die Abschlusswahrscheinlichkeiten werden mit Hilfe von Data-Mining-Verfahren individuell für einzelne Kundensegmente der einzelnen Sparten bestimmt. Data- Mining-Analysen sind softwareunterstützte Prozesse zur Erkennung von Muster und Zusammenhänge in großen Datenmengen. Bei der Ermittlung von Cross- bzw. Up- Selling-Wahrscheinlichkeiten ist insbesondere darauf zu achten, dass die Daten, die für die Analyse herangezogen werden, die Kundenbeziehung vor einem Abschluss beschreiben. Somit müssen die in den Systemen des Versicherers vorliegenden Daten in einen Zustand der Vergangenheit zurückversetzt werden. Mangels einer Versicherungswirtschaft, Heft 4/2006, S. 303-307 7

entsprechenden Historisierung wird dies in der Praxis nur bedingt und unter Zuhilfenahme von Näherungsverfahren möglich sein. Da das zukünftige Erfolgspotenzial nicht nur die mögliche Ausweitung der Kundenbeziehungen in einem Jahr sondern vielmehr über einen längeren Zeithorizont berücksichtigen soll, lässt sich das zukünftige Erfolgspotenzial wiederum als Barwert der erwarteten Erträge aus einer Ausweitung der Kundenbeziehung berechnen. Komplementärerer Wertbeitrag Der komplementäre Wertbeitrag erfasst die nicht-monetären Komponenten des Kundenwerts. In dieser Kundenwertkomponente kann z.b. die bisherige Zahlungsmoral des Kunden erfasst werden. Diese spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, welcher Wert einer Kundenbeziehung beigemessen wird. Ein hohes gegenwärtiges oder zukünftiges Erfolgspotenzial verliert massiv an Wert, wenn der Kunde nicht in der Lage oder nicht gewillt ist, seinen Vertragsverpflichtungen nachzukommen. Dem Versicherer entsteht hierdurch neben dem Verlust aufgrund von Zahlungsverzug oder gar Zahlungsausfall auch ein erhöhter Aufwand für Verwaltung und Inkasso. Aufgrund ihres Zahlungsverhaltens in der Vergangenheit werden die Kunden in verschiedene Klassen eingeteilt. Beurteilung des vorgestellten Kundenwertmodells Das hier vorgestellte Kundenwertmodell ist in der Lage, eine prospektive und spartenübergreifende Bewertung der Kundenbeziehungen eines Versicherers vorzunehmen. Insbesondere lassen sich mit diesem Modell sowohl monetäre als auch nicht-monetäre Einflussgrößen berücksichtigen, wobei die einzelnen Komponenten so weit dies möglich ist in einen monetären Wert gefasst werden. Somit werden die Vorteile von Scoring- und Customer-Lifetime-Value-Modellen vereinigt. Die Modellierung des Kundenwerts als Kundenkubus liefert eine hohe Transparenz und ermöglicht auch die Anwendung von Teilkomponenten. Herauszuheben ist hierbei die Verwendung der Cross- bzw. Up-Selling-Wahrscheinlichkeiten zur Identifikation abschlussaffiner Kundensegmente, welche die Grundlage für eine effiziente Steuerung von Marketing und Vertrieb darstellen. Das hier skizzierte Kundenwertmodell wurde in Zusammenarbeit mit einem großen deutschen Versicherungskonzern unter Berücksichtigung der praktischen Umsetzbarkeit entwickelt. Die benötigten Größen zur Berechnung der einzelnen Komponenten lassen sich entweder direkt aus den Datenbanksystemen auslesen oder aber mit begrenztem Aufwand aus den Daten der Vergangenheit schätzen. Je Versicherungswirtschaft, Heft 4/2006, S. 303-307 8

Versicherungssparte ist dabei nur eine relativ kleine Anzahl von Größen zu ermitteln. Zudem besteht aufgrund ähnlicher Modellierung der einzelnen Sparten ein erheblicher Synergie-Effekt bei der Ermittlung dieser Größen. Darüber hinaus lässt sich dieses Modell schrittweise umsetzen. So kann man beispielsweise das Modell sukzessive um einzelne Komponenten und Sparten erweitern und die Schätzung der benötigten Größen nach und nach verfeinern. Die Segmentierung, z.b. nach Kundenalter und Geschlecht, lässt sich auch später unter Berücksichtigung der Besonderheiten der einzelnen Sparten verfeinern. Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit dem beschriebenen Ansatz erstmals ein Kundenwertmodell entwickelt wurde, das alle wichtigen Anforderungen der Versicherungswirtschaft erfüllt, auf Basis der vorhandenen Datenbestände kalibriert werden kann und somit auch eine unmittelbare praktische Umsetzung ermöglicht. Es ist dabei nicht notwendig, vorab zeitaufwändige und kostenintensive Data-Warehouse-Projekte durchzuführen; vielmehr kann das Modell schrittweise durch Berücksichtigung weiterer Daten verbessert werden. Besondere Bedeutung hat dabei die Bestimmung des Cross-Selling-Potenzials, welches durch die Anwendung moderner Data-Mining-Verfahren sehr detailliert und aussagekräftig modelliert wurde. Die praktische Durchführung solcher Analysen ist dabei nicht trivial, insbesondere im Hinblick auf die Datenmodellierung. Durch eine systematische Vorgehensweise kann jedoch sichergestellt werden, dass die Analysen auch die gewünschten Ergebnisse liefern (und nicht die richtigen Antworten auf die falschen Fragen ). 2 Die Praxistauglichkeit der Vorgehensweise konnte dabei durch die Analyse realer Daten eines Versicherungsunternehmens unter Beweis gestellt werden. Insgesamt zeigt sich, dass für eine adäquate Kundenwertmodellierung neben aktuariellem Wissen auch Kenntnisse aus den Bereichen Marketing und CRM sowie praktische Erfahrung im Umgang mit Data-Mining-Verfahren erforderlich sind. 1 Die Modellierung erfolgt in Anlehnung an Rudolf-Sipötz (2001): Kundenwert: Konzeption Determinanten Management; Dissertation Universität St. Gallen. 2 Detaillierte Erläuterungen hierzu finden sich bei Reuß/Zwiesler (2005): Ein generisches Kreislaufmodell zur Einbettung von Data-Mining-Analysen in die Geschäftsprozesse von Unternehmen - mit einem Fallbeispiel aus der Versicherung, Working Paper Universität Ulm, im Internet unter http://www.mathematik.uni-ulm.de/numerik/preprints/. Versicherungswirtschaft, Heft 4/2006, S. 303-307 9