23. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.v., 14.-16. Juni 2010 Integration oder Separation? Suchtbehandlung im Gesundheitssystem Integration existentieller und sinnorientierter Themen in ein ambulantes Rehabilitationskonzept Referentin: Dr. C. Botschev, Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie Ärztliche Leiterin der KPB-Fachambulanz in Dachau und München Co-Autoren: B. Löhnert und T. Zech
KPB (Klientenzentrierte Problemberatung) Fachambulanz für Suchterkrankungen Die Fachambulanz der KPB mit Sitz in Dachau und München ist eine fachärztlich geleitete Rehabilitationseinrichtung zur ambulanten Therapie Alkohol-, Medikamenten- Tabak- und Glücksspielabhängiger nach Vollendung des 18. Lebensjahrs. Sie ist von der Kassenärztlichen Vereinigung, den gesetzlichen Krankenkassen, den Rentenversicherungsträgern und den Beihilfestellen anerkannt. Sie befindet sich in privater Trägerschaft.
Behandlungsablauf im Überblick Entzug ambulant oder stationär Motivationsphase maximal 12 Wochen Entwöhnungs- / Rehabilitationsphase 6-8 Monate Nachsorge
Ausgangspunkte und Hintergrund der Sucht-und-Sinngruppe Existenzanalyse und Logotherapie Viktor Frankls Tagung der DHS (damals noch Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren ) im Jahr 1985 unter dem Motto: Sinnfrage und Suchtprobleme Veröffentlichung von Paul Kern im Jahr 1992 unter dem Titel: Eine Sinn-Gruppe als Zusatzangebot bei der stationären Behandlung von Suchtkranken in der Zeitschrift Sucht
Intention der Sucht-und-Sinngruppe Die themenzentrierte Gruppe Sucht und Sinn ist fester Bestandteil der Rehabilitation in der KPB. Hier findet, integriert in das tiefenpsychologisch orientierte Gesamtkonzept, eine Auseinandersetzung mit wesentlichen Themen des Lebens statt. Neben dem Freiwerden von süchtigen Verhaltensweisen soll ein Freiwerden zum Erleben von Sinnhaftigkeit in der Neuorientierung bewirkt werden.
Grundannahmen (1) Kernaussagen Viktor Frankls: Nur wenn die Sinnthematik deutlich gesehen wird, erfasst man den Menschen als Person, die erst im Verwirklichen von Werten zu sich selbst gelangt. Der Wille zum Sinn setzt Kräfte frei, die zur Überwindung seelischer Barrieren notwendig sind.
Grundannahmen (2) Bezug zur Suchtrehabilitation: In den Werten, die der Mensch verwirklicht, verbindet sich das Objektive (z. B. die Therapieprinzipien) mit dem Subjektiven (z.b. den persönlichen Therapiezielen). Die Sinnfrage kann für den Einzelnen nur konkret in seiner gegenwärtigen Situation beantwortet werden. Gefühle sind Effekte von Werterfassung und Wertverwirklichung. Daher muss an letzteren angesetzt werden, um das süchtige Verhalten zur Gefühlsbewältigung entbehrlich zu machen.
Themen der Sucht-und-Sinngruppe Sinn, Glaube und Spiritualität Werte und Träume Gewissen, Schuld und Scham Schicksal und Freiheit Tod und Trauer Ärger, Aggression und Gewalt Genuss und Lust Erleben von Mutter/Muttersein und Vater/Vatersein Liebe und Partnerschaft Freunde gewinnen und Freundschaften pflegen
Rahmenbedingungen Stabile Abstinenz Wesentliches Therapiesegment in der 2. Hälfte der Rehabilitation 1 Gruppensitzung von 200 Minuten pro Woche Gesamtdauer 12 Wochen Alle Gruppensitzungen werden von einem Therapeutenpaar geleitet
Arbeitsweise (1) Diskussion im Plenum Arbeit in Kleingruppen Gegenseitige Interviews Erfahrungsorientierte Übungen Imaginationsübungen Einsatz von Geschichten, Gedichten und Filmen Einsatz von Arbeitsblättern und Übungen
Arbeitsweise (2) Präsentation und Diskussion der Position Frankls zum jeweiligen Thema Erschließen der Bedeutung des jeweiligen Themas für die einzelnen Gruppenmitglieder mit Hilfe des sokratischen Dialogs
Patientenbewertung des Gruppenangebots (1) Es wurden Rückmeldebögen aus 3 Jahren (2007 bis 2009) herangezogen. Das Ausfüllen und Abgeben der Bögen erfolgte freiwillig. In Dachau und München haben jeweils ca. 160 Patienten in den Jahren 2007 bis 2009 an der Suchtund Sinngruppe teilgenommen. In Dachau gaben knapp 70% und in München knapp 50% der Teilnehmer einen auswertbaren Rückmeldebogen ab.
Patientenbewertung des Gruppenangebots (2) Die meisten Patienten haben bei allen Themen engagiert mitgearbeitet und von den Inhalten profitiert. Die Leitung durch ein Therapeutenpaar (Vertreter beider Geschlechter) wurde besonders geschätzt. Die Dauer der Gruppensitzungen wurde unterschiedlich bewertet. So war die Zeit einigen zu lang, anderen wiederum viel zu knapp bemessen. Eine zu theoretische (abstrakte) Bearbeitung einzelner Begriffe und Aspekte wurde kritisch bewertet.
Rangfolge der eher negativ bewerteten Themen (1) In Dachau: 1. Sinn, Glaube und Spiritualität (19 von 109 Nennungen) 2. Tod und Trauer (8 von 109 Nennungen) 3. gleichrangig: Genuss und Lust Erleben von Mutter/Muttersein (jeweils 7 von 109 Nennungen)
Rangfolge der eher negativ bewerteten Themen (2) In München: 1. Genuss und Lust (11 von 76 Nennungen) 2. Erleben von Vater/Vatersein (9 von 76 Nennungen) 3. Erleben von Mutter/Muttersein (8 von 76 Nennungen)
Rangfolge der überwiegend positiv bewerteten Themen (1) In Dachau: 1. Tod und Trauer (22 von 109 Nennungen) 2. gleichrangig: Werte und Träume Ärger, Aggression und Gewalt (jeweils 18 von 109 Nennungen) 3. Freunde gewinnen und Freundschaften pflegen (17 von 109 Nennungen)
Rangfolge der überwiegend positiv bewerteten Themen (2) In München: 1. Tod und Trauer (17 von 76 Nennungen) 2. Liebe und Partnerschaft (12 von 76 Nennungen) 3. Werte und Träume (11 von 76 Nennungen)
Patientenaussagen zur Sucht-und Sinngruppe (1) Hin und wieder hätte ich mir gewünscht, es würden konkrete Lösungen gegeben. Das Thema Sinn, Glaube und Spiritualität ist zu weit vom Alkohol weg. Das Vater- und Mutterthema ist besser im Einzelgespräch aufgehoben. Mit dem Thema Genuss und Lust muss sich jeder selbst auseinandersetzen. Die Themen Glück, Zufriedenheit und Gelassenheit fehlen.
Patientenaussagen zur Sucht-und Sinngruppe (2) Die Themenauswahl deckt ein breites Feld der Gründe einer Alkoholabhängigkeit ab. Ich habe von allen Themen profitiert. Sie haben es mir erleichtert, meine jetzige Situation zu akzeptieren. Ich hörte Berichte, die mich verstummen und nachdenklich werden ließen. Die Gruppe hat mich ermuntert, das zu zeigen, was in mir lebt. Es gab kein Thema, das mich nicht interessiert hat; vor einigen hätte ich mich gerne gedrückt.
Patientenaussagen zur Sucht-und Sinngruppe (3) Obwohl ich müde kam und glaubte heute fesselt mich nichts, war ich plötzlich mittendrin. Jedes Thema hat mich angesprochen und mir Anregung zum Nachdenken über die Gruppe hinaus gegeben. Es hat mich immer wieder verwundert, dass 3 Stunden so schnell vergehen können und noch immer nicht alles gesagt wurde. Die Themenreihe war für mich das Wertvollste der Therapie. Meine Lieblingsgruppe
Fazit Die Sucht-und-Sinngruppe ist seit vielen Jahren gut integriert in die tiefenpsychologisch ausgerichtete Grundorientiertung der ambulanten Rehabilitation von Suchtkranken in der KPB. Sie hilft den Patienten zu verstehen, dass sie mehr sind als die Summe ihrer Symptome, Störungen und Krankheiten im Sinne Viktor Frankls. Die Patienten entnehmen dieser Gruppe häufig wichtige Themen, die zu bearbeiten es sich in Einzelgesprächen und der Bezugsgruppe lohnt.
Ausblick Die Evaluation könnte optimiert werden durch die Erfassung der Sinnperspektive bei Eintritt in die Sucht-und-Sinngruppe (z. B. mit Hilfe des Purpose-in-life-Tests von Crumbaugh und Maholick) sowie des Logo-Tests von Lukas) den Vergleich der Abstinenzzuversicht zu Beginn und am Ende der Themenserie die Herausarbeitung von Geschlechts- und Altersunterschieden Erhöhung der Rücklaufquote der Beurteilungsbögen (v.a. in München)