Medizinprodukterecht im Überblick Von Wilfried Reischl* Einführung Kaum eine medizinische oder pflegerische Tätigkeit ist heutzutage ohne den Einsatz von Medizinprodukten denkbar. Dennoch erschließt sich dem Anwender der Begriff des Medizinproduktes im Gegensatz zu dem des Arzneimittels nicht auf den ersten Blick. Nach der grundlegenden Begriffsbestimmung von 3 Nr. 1 Medizinproduktegesetz (MPG) sind Medizinprodukte zur Anwendung am Menschen für folgende Zwecke bestimmt: Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten; Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen; Untersuchung, Ersetzung oder Veränderung des anatomischen Aufbaus oder eines physiologischen Vorgangs; Empfängnisverhütung. Medizinprodukte erreichen ihren Zweck vorwiegend auf physikalischem Wege. Demgegenüber wirken Arzneimittel vorwiegend auf pharmakologischem bzw. immunologischem Wege und/oder regen metabolische Vorgänge an. Bei der Abgrenzung zwischen Medizin- und Arzneimittelprodukten ist die bestimmungsgemäße Hauptwirkung entscheidend. Ein Medizinprodukt verliert daher auch dann nicht seine Eigenschaft, wenn die physikalische Wirkung durch eine phar- Übersicht Produktgruppen, die unten den Begriff Medizinprodukte fallen Hilfsmittel i. S. d. SGB V sind beispielsweise: Sehhilfen (Brillengläser, Kontaklinsen, Lupenbrillen, elektronisch vergrößernde Sehhilfen), Hörhilfen, Körperersatzstücke (z. B. Arm-, Beinprothesen), deren Zweckbestimmung im Ausgleich einer körperlichen Behinderung liegt), orthopädische Hilfsmittel (z. B. orthopädische Schuhe, Orthesen, Stützvorrichtungen jeder Art), andere Hilfsmittel (z. B. Rollstühle, Krankenfahrstühle und andere Mobilitätshilfen), Hilfsmittel für den hygienischen Bereich, zum An- und Auskleiden, Lesen und Sprechen und zur Verständigung) und Verbandmittel ( 31 SGB V). Aktive implantierbare Geräte, z. B. Herzschrittmacher, Medikamentenpumpen oder Innenohrprothesen Elektromedizinische Geräte, z. B. Beatmungsgeräte Medizintechnische Instrumente und Produkte, z. B. Operationsbesteck oder Spritzen Dentalprodukte In-vitro-Diagnostika: Reagenzien als auch medizintechnische Analysegeräte, die der Untersuchung von Körperflüssig- keiten und Gewebe dienen, die dem menschlichen Körper entnommen wurden * Ministerialrat, Leiter des Referats Medizinprodukte im Bundesministerium für Gesundheit. makologische, immunologische oder metabolische Wirkung unterstützt wird (z. B. Knochenzement mit Antibiotikum). 180 RDG 06/2006
Rechtliche Grundlagen europäische Ebene Eine wesentliche rechtliche Anforderung vor dem Inverkehrbringen oder der Inbetriebnahme eines Medizinproduktes ist dessen CE-Kennzeichnung. Durch diese bescheinigt der Hersteller, dass sein Produkt ein Prüfverfahren (Konformitätsbewertungsverfahren, s. u.) erfolgreich durchlaufen hat und die in den einschlägigen Richtlinien vorgegebenen grundlegenden Anforderungen erfüllt. Beispiel: Die CE-Kennzeichnung muss nicht nur auf Medizinprodukten gut sichtbar, leserlich und dauerhaft angebracht sein; auch Computer, Monitore, Spielzeug, Aufzüge etc. müssen über eine entsprechende Kennzeichnung verfügen. Geregelt wird die CE-Kennzeichnung durch europäisches Recht. In der Regel wird in Richtlinien festgesetzt, welche Anforderungen die CE-gekennzeichneten Produkte einhalten müssen. Die EG-Harmonisierungsrichtlinien für den Medizinproduktebereich (vgl. Abbildung 1) folgen der sog. Neuen Konzeption 1 nach der Entschließung des Europäischen Rates vom 7. Mai 1985. die Gewährleistung des freien Warenverkehrs seitens der Mitgliedstaaten, wenn die Produkte ordnungsgemäß mit dem CE-Zeichen versehen sind; die Festsetzung eines gemeinschaftlichen Verfahrens zur Kontrolle der Sicherheitsanforderungen (Schutzklauselverfahren). Diese Neue Konzeption wird ergänzt durch das Globale Konzept 2 aus dem Jahr 1993. Im Vordergrund steht hierbei die Festlegung geeigneter Konformitätsbewertungsverfahren. Ziel dieses Verfahrens ist es, den zuständigen Überwachungsbehörden die Überprüfung zu ermöglichen, ob die in Verkehr gebrachten Produkte den vorgegebenen Standards entsprechen. Welches Konformitätsbewertungsverfahren durchzuführen und in welchem Umfang dabei eine unabhängige Prüf- und Zertifizierungsstelle ( Benannte Stelle ) zu beteiligen ist, hängt vom poten- Abbildung 1 EU-Richtlinien Die wesentlichen Elemente der Neuen Konzeption sind: Der Anwendungsbereich wird produktbezogen oder gefahrenspezifisch definiert; die Festlegung der grundlegenden Anforderungen an die Sicherheit oder Informationen, denen die jeweiligen Produkte beim erstmaligen Inverkehrbringen genügen müssen; die Konkretisierung der wesentlichen technischen Anforderungen durch sog. harmonisierte Normen, deren Anwendung allerdings freiwillig bleibt; 1 Abl. EG Nr. C 136, S. 1 vom 4. Juni 1985. 2 Abl. EG Nr. L 220, S. 23 vom 30. August 1993. RDG 06/2006 181
ziellen Risiko der Produkte ab. Während die aktiven implantierbaren Medizinprodukte unter Risikogesichtspunkten nicht unterschieden werden, sieht die Richtlinie 93/42/EWG eine Differenzierung der Produkte in vier Klassen (I, IIa, IIb, III) vor. Die Klassifizierung erfolgt nach den im Anhang IX der Richtlinie 93/42/EWG definierten Kriterien. Auch In-vitro-Diagnostika werden zum Zwecke der Zuordnung der anzuwendenden Konformitätsbewertungsverfahren in verschiedene Gruppen eingeteilt (Produkte gem. Anhang II, Liste A der Richtlinie 98/79/EG; Produkte gem. Anhang II, Liste B; Produkte zur Eigenanwendung; sonstige In-vitro- Diagnostika). Die Konformitätsbewertung für aktive implantierbare Medizinprodukte, Medizinprodukte der Klassen IIa, IIb und III, steril in den Verkehr gebrachte Medizinprodukte der Klasse I, Medizinprodukte der Klasse I mit Messfunktion, In-vitro-Diagnostika gem. Anhang II der Richtlinie 98/79/EG sowie Invitro-Diagnostika zur Eigenanwendung muss unter Beteiligung einer Benannten Stelle erfolgen. Am Ende des (erfolgreichen) Prüfungsprozesses steht die Anbringung der CE-Kennzeichnung durch den Hersteller. Verantwortlich für die Einhaltung aller gesetzlichen Voraussetzungen und die CE-Kennzeichnung ist allein der Hersteller. Auf der Grundlage der Neuen Konzeption hat sich der Staat aus dem Bereich der Zulassung von Medizinprodukten zurückgezogen. Einfluss übt er über die Akkreditierung und Benennung der Prüflaboratorien und die Marktüberwachung (durch die Länder) aus. Rechtliche Grundlagen nationale Ebene Die Umsetzung der europäischen Vorgaben ist in Deutschland durch das Medizinproduktegesetz, die Verordnung über Medizinprodukte (MPV), die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (MPSV) und die Verordnung über das datenbankgestützte Informationssystem über Medizinprodukte des Deutschen Instituts für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI-Verordnung) geregelt. Neben den europäischen Vorgaben gibt es zusätzliche Regelungen, die in die nationale Regelungskompetenz fallen und die keine Grundlage im europäischen Recht haben, z. B. Vorschriften für das Betreiben, Anwenden und Instandhalten von Medizinprodukten, zur Verschreibungs- und Apothekenpflicht von Medizinprodukten, zur sog. In-Haus-Herstellung von Medizinprodukten, zur Aufbereitung von Medizinprodukten, zum Medizinprodukteberater. Daneben finden sich im nationalen Medizinprodukterecht Vorschriften zur Durchführung klinischer Prüfungen oder zur Durchführung der Überwachung durch die zuständigen Behörden, die zwar europäische Vorgaben konkretisieren, aber nur in Deutschland Gültigkeit besitzen. Schließlich ist auf die Brustimplantate-Verordnung hinzuweisen, mit der eine Richtlinie umgesetzt werden musste, die sich ausschließlich mit der Höherklassifizierung von Brustimplantaten beschäftigt. Für Betreiber und Anwender von Medizinprodukten sind die Medizinprodukte-Betreiberverordnung sowie die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung von besonderer Bedeutung. Ein gefahrloser Einsatz von Medizinprodukten erfordert, dass die aufgestellten Mindestanforderungen dieser Verordnungen eingehalten werden. Medizinprodukte-Betreiberverordnung (MPBetreibV) Die Pflichten für Betreiber und Anwender von Medizinprodukten sind vielfältig. Aus Patientensicht 182 RDG 06/2006
Abbildung 2 Nationale rechtliche Verordnungen zum Medizinproduktegesetz wäre es nicht zielführend, wenn zwar zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens eines Medizinproduktes hohe Anforderungen beachtet werden müssen, eine Schädigung aber durch dessen fehlerhaften Einsatz verursacht werden würde. Medizinprodukte dürfen daher nur von Personen errichtet, betrieben oder instand gehalten werden, die über die erforderliche Ausbildung, Kenntnis oder Erfahrung verfügen. Zu diesen Anforderungen an die fachliche (technische) Qualifikation zählen u. a. die produktbezogene Einweisung sowie fundierte Kenntnisse über die Durchführung von sicherheitsund messtechnischen Kontrollen. Gleichartige Sachkenntnisse werden auch dem Personal abverlangt, das zur Instandhaltung von Medizinprodukten eingesetzt wird ( 4 MPBetreibV). Im Fokus der öffentlichen Debatte ist in diesem Zusammenhang regelmäßig das Thema der Aufbereitung von Medizinprodukten, vor allem die Aufbereitung der sog. Einmalprodukte. Generell ist die Aufbereitung von Medizinprodukten ein kritischer Prozess. Dabei steht für das Bundesministerium für Gesundheit der vorbeugende Patientenschutz an erster Stelle. Im Jahre 2002 wurden die Vorgaben hinsichtlich des Aufbereitungsprozesses verschärft. Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des MPG ist ein ganzes Bündel von Änderungen und Ergänzungen des MPG und der MPBetreibV sowie untergesetzlicher Regelungen in Kraft getreten. Die Vorgaben zur Aufbereitung von Medizinprodukten wurden stringenter gefasst. RDG 06/2006 183
Maßstab für die Aufbereitung sind die Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert Koch-Institut und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte an die Hygiene bei der Aufbereitung von Medizinprodukten, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Einmal- oder Mehrfachprodukte handelt. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen mit ihren konkreten Anforderungen ermöglichen eine sichere Aufbereitung dieser Medizinprodukte. Der Überwachung der Aufbereiter (z. B. Krankenhäuser, Arztpraxen und externe Aufbereiter) durch die zuständigen Behörden kommt deshalb eine hohe Bedeutung zu. Die Länder werden künftig verstärkt in diesem Bereich aktiv sein. Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (MPSV) Nach der Legaldefinition des 2 Nr. 1 MPSV handelt es sich bei einem meldepflichtigen Vorkommnis um einen Produktfehler im weiteren Sinne (Funktionsstörung, Ausfall, Änderung der Merkmale oder der Leistung, unsachgemäße Kennzeichnung oder Gebrauchsanweisung), der zumindest in einem möglichen (auch mittelbaren) Kausalzusammenhang mit dem Tod oder einer schwerwiegenden Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Patienten, eines Anwenders oder einer anderen Person steht. Eine schwerwiegende Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist anzunehmen bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder Verletzung, einer dauerhaften Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder einem bleibenden Körperschaden, Abbildung 3 Schematische Darstellung des Vorkommnisbegriffs Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum ein Produkt nicht entsprechend der Gebrauchsanleitung funktioniert. Ein effizientes Risikomanagement (Erfassung, Bewertung, ggf. Beseitigung oder Minimierung des Risikos der im Verkehr oder in Betrieb befindlichen Medizinprodukte) setzt die Meldung von (möglichst) allen Vorkommnissen voraus. Neben den Herstellern und sonstigen Inverkehrbringern von Medizinprodukten sind daher auch die Betreiber und Anwender in das Medizinprodukte- Beobachtungs- und -Meldesystem eingebunden. Alle Systembeteiligten müssen Vorkommnisse, die bei der Anwendung von Medizinprodukten auftreten, der zuständigen Bundesoberbehörde 3 melden. 3 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bzw. Paul-Ehrlich-Institut (Hochrisiko-IVD). 184 RDG 06/2006
einem Zustand, der eine medizinische oder chirurgische Intervention erfordert, um eine dauerhafte Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder einen bleibenden Körperschaden zu verhindern. Die Aufzählung ist allerdings nicht abschließend, sodass im jeweiligen Einzelfall auch in Relation zum Behandlungsziel beurteilt werden muss, ob eine schwerwiegende Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines Patienten vorliegt. Die geeignete Organisation des Meldeverfahrens ist den Einrichtungen des Gesundheitswesens überlassen. Statt einer individuellen Meldung durch das medizinische oder medizinisch-technische Personal, von dem das Vorkommnis beobachtet wurde, scheint zumindest in größeren Einrichtungen eine zentralisierte Abwicklung sinnvoll. Diese erfordert die Bestellung einer verantwortlichen Person (z. B. der Verantwortliche für die Qualitätssicherung). In jedem Fall muss das Meldewesen zuverlässig gewährleistet sein. Im Rahmen der routinemäßigen Überwachung der Betreiber und Anwender von Medizinprodukten wird diese strukturelle Voraussetzung künftig auch von zuständigen Landesbehörden der Kontrolle unterzogen. Aus der Praxis ist Folgendes festzuhalten: Da der Anteil der Anwendermeldungen an den insgesamt beim BfArM eingehenden Vorkommnismeldungen seit Jahren nur bei ca. 25 Prozent liegt, ist davon auszugehen, dass Betreiber/Anwender ihrer generellen Verpflichtung zur Meldung von Vorkommnissen gemäß 3 Abs. 2 MPSV nur bedingt nachkommen. Hier besteht Optimierungsbedarf. Ausblick Sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene gibt es Rechtssetzungsaktivitäten, die hier nur kurz angesprochen werden sollen. Im Zentrum steht zurzeit der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom [ ] zur Änderung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/ 42/EWG des Rates und der Richtlinie 98/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Überarbeitung der Richtlinien über Medizinprodukte. Die Beratungen der Ratsarbeitsgruppe Arzneimittel und Medizinprodukte sind so weit fortgeschritten, dass während der laufenden finnischen Präsidentschaft zumindest eine politische Einigung möglich erscheint. Auch das Europäische Parlament hat seine Stellungnahme abgegeben. Ein Kompromiss erscheint kurzfristig möglich. National soll noch in diesem Jahr das Gesetz zur Änderung medizinprodukterechtlicher und sonstiger Vorschriften vom Kabinett beschlossen werden. Umgesetzt werden muss zudem die Richtlinie 2005/ 50/EG der Europäischen Kommission vom 11. August 2005 zur Neuklassifizierung von Gelenkersatz für Hüfte, Knie und Schulter im Rahmen der Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte. Dies geschieht mittels einer Änderung der Medizinprodukte-Verordnung. Bei dieser Gelegenheit wird der Regelungsinhalt der Brustimplantate-Verordnung auch in die Medizinprodukte-Verordnung aufgenommen, sodass Erstere aufgehoben werden kann. In Vorbereitung ist des Weiteren eine Novelle der Medizinprodukte-Betreiberverordnung, die den beteiligten Kreisen im ersten Quartal 2007 zur Stellungnahme übersandt werden wird. Weiterführende Literatur Rainer Hill, Joachim M. Schmitt und Dierk Meyer-Lüerßen: Medizinprodukterecht (WiKo), Loseblattwerk inkl. CD. Köln letzte Lieferung Mai 2006 Wolfgang Rehmann und Susanne Wagner: Medizinproduktegesetz. München 2005 Ehrhard Anhalt und Peter Dieners: Handbuch des Medizinprodukterechts. München 2003 Hans Haindl: Wiederverwendung von Einmalprodukten Ansichten eines Sachverständigen. In: Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen, 01/2005, S. 2 ff. RDG 06/2006 185