Unterrichtsentwicklung initiieren und steuern: Eine Hauptaufgabe der Schulleitung Ein Vortrag von Prof. Dr. H.G. Rolff auf der Fachtagung 2007 des Verbandes der Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz VSL-CH am 14. November 2007
Überblick Nichts ist im Schulbereich so schwierig wie Unterrichtsentwicklung (UE). Das hat vielerlei Gründe. Die wichtigsten will ich im Folgenden herausarbeiten. Die Rolle der Schulleitung soll dabei betont werden, aber ebenso die der LP; denn diese realisieren UE. Ich will versuchen, einige Lösungshinweise zu geben. Die grosse Richtung der UE soll als Grundorientierung vorweg skizziert werden.
Gliederung 1. Trends der Modernisierung des Unterrichts 2. Grammatik der Schule als Reformbremse 3. UE ist mehr als Modernisierung des eigenen Unterrichts 4. UE ist Teil von Schulentwicklung 5. Implementationsstrategie 6. UE als Training des ganzen Kollegiums 7. Nachhaltigkeit schaffen Innenarchitektur für UE aufbauen 8. Reflektorische UE 9. Rolle von Schulleitung bei UE
1. Trends der Modernisierung des Unterrichts a) Vom Lehren zum Lernen Selbstständig und kooperativ lernen Anleitend und anregend lehren Die Lernstände regelmäßig überprüfen
b) Von Stoffen zu Kompetenzen Wissensbasis schaffen Verstehen lernen Können: Kompetenzen erwerben und anwenden
Was sind Kompetenzen? Kompetenz stellt die Verbindung zwischen Wissen und Können her und ist als Befähigung zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen zu sehen (Klieme) Man beachte: Kompetenzen werden nur über Inhalte erworben
Referenzzitat von Weinert: Kompetenzen sind die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten.
Beispiel Lesekompetenzen: Informationen entnehmen Sinn interpretieren In einen grösseren Rahmen stellen: reflektieren
2. Grammatik der Schule als Reformbremse Unterricht ist nur schwer zu verändern. Die Grammatik der Schule (Tyack and Tobin) wirkt dagegen. Beispiel: Reformpädagogik änderte wenig am Unterricht Zur Grammatik gehören, die regulären und regulativen Glaubenssätze und Regeln, die die Arbeit des Unterrichtens strukturieren Tiefenstruktur
Beispiele: Wie Zeit und Raum aufgeteilt werden, also Stundentakt und Jahrgangsklassen wie Schüler klassifiziert werden wie das Weltwissen in Fächer aufgeteilt wird wie Lehrpersonen aufgefordert sind, als Einzelpersonen zu arbeiten wie Schüler Aufgaben erhalten und geprüft sowie beurteilt werden Dies wirkt wie ein eisernes Gehäus für die Unterrichtsgestaltung
Grammatik als Metapher: Grammatik organisiert Bedeutungen im Sprachbereich. Analog gilt: Weder die Grammatik der Schule noch die des Sprechens muss bewußt sein; sie wirkt unauffällig, aber effektiv. Reformen ändern die Schule, aber die Schule ändert auch die Reformen.
3. UE ist mehr als Modernisierung des eigenen Unterrichts Dortmunder Akademie UE muss mehr sein als Modernisierung oder Aktualisierung des eigenen Unterrichts. Sie muss die Grammatik der Schule verändern. Wie ist das möglich? Erster Zugang: Klären, was UE ist (Komponenten)
Was Modelle von Unterrichtsentwicklung gemeinsam haben Orientierung am Leitbild Zielgerichtetheit (gemeinsame, präzise formulierte, realisierbare und überprüfbare Ziele) Systematik (Training, Pflege, Vertiefung) Methodentraining (Arbeitstechniken, Lerntechniken) Lernarrangements schaffen Teamarbeit (unterrichtsbezogen) Weiteres Training/Pflege (Kommunikation, Kooperation) Vernetzung/ Orientierung auf die ganze Schule (allgemeines und fachliches Lernen verbinden) Evaluation
UE hat drei Grundkomponenten Dortmunder Akademie Sie ist systematisch, teamförmig und schulweit
Zweiter Zugang: Unterrichtsentwicklung als Schulentwicklung (SE) verstehen. Nur durch SE ist UE nachhaltig
4. UE ist Teil von SE Umfeld Lehrer- Feedback Supervision/Coaching Kommunikationstraining Schulleitungsberatung Hospitationen Jahresgespräche/ Zielvereinbarungen Führungs- Feedback u.a. Umfeld Lernfortschritte von Schüler -innen als ultimativer Bezugspunkt Personalentwicklung Unterrichtsentwicklung Organisationsentwicklung Fachlernen Schülerorientierung Überfachliches Lernen Methodentraining Selbstlernfähigkeit Öffnung Erweiterte U-formen Lernkultur u.a. Schulprogramm Schulkultur Erziehungsklima Schulmanagement Teamentwicklung Evaluation Kooperation Steuergruppe u.a. Umfeld Drei-Wege-Modell von Schulentwicklung
UE setzt Organisationsentwicklung voraus Niemand kann den Unterricht allein entwickeln. Dagegen spricht die Grammatik von Schule Dagegen sprechen unerquickliche Erfahrungen
Gelingensbedingungen von UE: 1. Die Entwicklungsaufgaben sind klar definiert, 2. sie werden von der Zustimmung der Schule getragen, 3. sie werden durch eine einheitliche Implementationsstrategie vermittelt, 4. sie sind sowohl fachunabhängig als auch fachbezogen, 5. sie zeitigen bzw. unterstützen direkte Veränderungen der täglichen Praxis, 6. sie stellen schulweit und schulübergreifend vergleichbare Ansprüche und 7. sie basieren auf Arbeitsteilung und gegenseitiger Verantwortung. Quelle: Bastian/Rolff 2001, S. 41
Kreuz der Unterrichtsentwicklung Lehren im Fach Dortmunder Akademie
UE setzt Personalentwicklung voraus Dortmunder Akademie Wer den Unterricht entwickeln will, muss sich auch selbst entwickeln Er muss Schülerfeedback ertragen (oder geniessen) Er muss Öffentlichkeit ertragen, zumindest innerschulische Er oder Sie wird im Team arbeiten müssen UE ist also auch eine Herausforderungen an die Person UE ist deshalb immer auch emotional
UE als emotionale Herausforderung an die Person
5. Implementationsstrategie Regel: Strategie-Struktur-Kultur a) Training des ganzen Kollegiums b) Innenarchitektur aufbauen c) Reflektorische Unterrichtsentwicklung
6. UE als Training des ganzen Kollegiums Die gängigen Ansätze von UE in Deutschland konzentrieren sich nicht auf mentale Modelle, sondern vornehmlich auf das Handwerkszeug von Lehrpersonen. Das ist nicht falsch, sondern richtig, reicht aber nicht aus. In Deutschland dominiert ein Ansatz der UE, der von Klippert ausgeht. Das Modellvorhaben selbstständige Schule in NRW hat diesen Ansatz zu einem komplexen Modell weiterentwickelt.
Modell systematischen Trainings Dortmunder Akademie Baustein 1 = Methoden Baustein 2 = Teamentwicklung Baustein 3 = Kommunikation Quelle: Madelung/Weisker 2006
Stärken und Schwächen Die Stärke dieses Ansatzes liegt in der Verknüpfung mit Schulmanagement UE als systematisches Training des Handwerkszeugs ist nötig. Auch der Fokus dieses Ansatzes: eigenverantwortliches Lernen von SchülerInnen ist stimmig. Aber der Ansatz ist verkürzt. Er muss stabilisiert und reflektiert werden
Es kommen zu kurz: die inhaltliche, d.h. fachliche Auseinandersetzung der Aufbau einer Innenarchitektur für Nachhaltigkeit die Selbstreflexion die Arbeit an Mentalen Modellen Dies zu realisieren, ist wesentliche Schulleitungsaufgabe
7. Nachhaltigkeit schaffen Innenarchitektur für UE aufbauen Systeme von Klassenteams Jahrgangsteams Fachteams Bildungsgangteams nutzen.
Beispiel GY Bäumlihof, Basel Klassenteam Klassenteam Klassenteam (KlassenlehrerIn plus 3-5 weitere LPn der Klasse) Stufenteams (Klassenteams derselben Stufe) Koordination durch Erweiterte SL (die auch Stufenteams leitet) Steuergruppe
Ablauf Bäumlihof 1. Bereich festlegen, in dem der Unterricht weiterentwickelt werden soll 2. Qualitätsziele klären 3. Jedes Klassenteam wählt ein Q-Ziel aus dem Bereich Unterricht aus 4. Jedes Klassenteam bestimmt Kriterien und Indikatoren 5. Jedes Klassenteam plant Unterricht mit dem W- Planungsraster 6. Schulung der Klassenteamleiter in - Führungsfragen - Moderationmethoden
8. Reflektorische UE Wir wissen aus der Forschung (Schank and Abelson 1977): Menschliches Handeln wird von Skripts und subjektiven Theorien gesteuert. Blömecke u.a. (2003) und Groeben u.a. (1998) haben diesen Ansatz auf Lehrerhandeln übertragen. Skripts und subjektive Theorien steuern das Lehrerhandeln Anderer U verläuft also nach anderen Skripts und anderen subjektiven Theorien.
SKRIPTs sind ein Ausdruck für die mentale Repräsentation einer Handlungsabfolge, die auf eine spezifische Situation ausgerichtet und mit einem bestimmten Ziel versehen ist. Skripts werden durch jahrelange Erfahrungen erworben Skripts sind stabil und schwer zu ändern
SUBJEKTIVE THEORIEN sind Handlungs-Vermutungen, die steuernd wirken. Sie setzen sich aus subjektiven Daten, subjektiven Konstrukten, subjektiven Definitionen und subjektiven Hypothesen zusammen. Sie werden häufig auch Alltagstheorien genannt und die Hypothesen beruhen nicht selten auf Vorurteilen. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen subjektiven Theorien und unterrichtlichem Handeln (Groeben 1988). Auch subjektive Theorien sind nur schwer veränderbar.
Mentale Modelle Skripts und subjektive Theorien werden im Folgenden mit SENGE Mentale Modelle genannt. Sie werden in den gängigen Modellen von UE noch nicht berücksichtigt. UE muss sie nicht nur ins Auge fassen, sondern auch Anlässe schaffen, die deren Veränderung ermöglichen. Mentale Modelle steuern die Praxis; nur Reflexion der Praxis führt zu veränderten Mentalen Modellen
Lehrpersonen als reflektierende Praktiker (D. Schön) Reflektion des Unterrichts an Bildungszielen und auf Datenbasis Professionalisierung Reflektion in der Handlung Reflektion über die Handlung Geschieht das systematisch, dann entstehen: Professionelle Lerngemeinschaften
Professionelle Lerngemeinschaften (PLGs) Kennzeichen: Gemeinsamer Dialog über die U-Praxis Qualitätsmerkmale: Zielgeführt Datengestützt Zielrichtung: Mentale Modelle des Unterrichts reflektieren und die Praxis weiter entwickeln
Auf dem Wege zu PLGs Q-Gruppen Lerngruppen Themengruppen
Reflektieren von Good practice-beispielen, Ergebnissen von Schülerfeedback usw. Aufbau von - Fehlertoleranz und - Hilfekultur LPs, die über ihren Unterricht reden, sind schon auf dem Wege zu reflektierenden Praktikern
9. Rolle von SL bei UE 1. Initiieren von UE (anregen und vormachen, nicht verordnen) 2. Arbeitsstrukturen nutzen bzw. schaffen/ UE 2.1 Fachkonferenzen aktivieren 2.2 Jahrgangsteams auf UE orientieren 2.3 Klassenteams anregen und stützen 2.4 Unterrichtsbezogenes Feedback einführen 2.5 Leitungsstrukturen erweitern 2.6 Mit einer Steuergruppe arbeiten 3. Eine Innenarchitektur aufbauen 4. Fortbildung stimulieren und koordinieren, am besten an PLGs orientiert 5. Aufbau einer Evaluationskultur SL müssen eine Tragfläche schaffen und das Treibrad der UE in Schwung halten
Treibrad reflektorischer UE in Gang halten reflektorische UE
Schulleitungen dürfen dabei nicht die LPs überfordern: Die Schritte können ruhig klein sein, wenn die Perspektive nur gross ist (frei nach H. v. Hentig)
Literaturhinweise zur Unterrichtsentwicklung ALTRICHTER, H.: The Reflective Practitioner. In: Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung 2/2001, S. 56 ff. BASTIAN, J.: Einführung in die Unterrichtsentwicklung. Weinheim (Beltz) 2007. BASTIAN, J./ROLFF, H.-G.: Vorabevaluation von Schule und Co. Gütersloh (Bertelsmann-Stiftung) 2001. BECK, E./GULDIMANN, T./ZUTAUERN, M.: Lernkultur im Wandel. St. Gallen (UVK) 1997. BMBF (Hrsg.): TIMSS-Impulse für Schule und Unterricht. Bonn 2001. DUBS, R.: Lehrerverhalten. Zürich (Verlag des Schweizerischen Kaufmännischen Verbandes) 1995. Dortmunder Akademie ENDRES, W. u.a.: So macht Lernen Spaß. Praktische Lerntipps für Schüler und Schülerinnen (11-16 Jahre). Weinheim (Beltz) 1997 FRIEDRICH-Jahresheft zum Thema guter Unterricht. Seelze 2007 GASSER, P.: Neue Lernkultur. Eine integrative Didaktik. Aarau (Sauerländer) 1999. GUDJONS, H.: Didaktik zum Anfassen. Lehrer/in-Persönlichkeit und lebendiger Unterricht. Bad Heilbrunn 1982. HELMKE, A.: Unterrichtsqualität: Erfassen-bewerten-verbessern. Velber (Kallmeyer) 2003. HÖFER, Ch.: Qualität von Schule entsteht zuallererst im Unterricht. In: Buchen, H., u.a.: Schule auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Berlin (Raabe) 2005 HÖFER, Ch./MADELUNG,P.: Lehren und Lernen für die Zukunft. Troisdorf (Bildungsverlag EINS) 2006. HORSTER, L./ROLFF, H.-G.: Unterrichtsentwicklung: Grundlagen einer reflektorischen Praxis. Weinheim (Beltz) 2001. (2. Aufl. 2006) KLIPPERT, H.: Eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen. Bausteine für den Fachunterricht. (Beltz) Weinheim 2001.LANDWEHR, N.: Neue Wege der Wissensvermittlung. Aarau (Sauerländer) 1994. MEYER, H.: Was ist guter Unterricht? Berlin (Cornelsen/Scriptor) 2004. PETERSEN, W.H.: Kleines Methoden-Lexikon. München (Oldenburg) 1999. REALSCHULE ENGER: Lernkompetenzen I und II. Berlin (Cornelsen/Scriptor) 2001. ROLFF, H.-G.: Professionelle Lerngemeinschaften. In: Buchen u.a. (Hrsg.): Schulleitung und Schulentwicklung. Berlin (Raabe) 2002. ROLFF, H.-G.: Unterrichtsentwicklung als Schulentwicklung. In: Rolff, H.-G.: Studien zu einer Theorie der Schulentwicklung. Weinheim/Basel (Beltz) 2007 WAHL,D.: Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Heilbrunn (Klinkhardt) 2006 ZEITSCHRIFT PÄDAGOGIK : Themenheft Praxishilfen Unterrichtsentwicklung, H.3/2002.