Der Experimental-OP Chance für Hersteller, Betreiber und Anwender Dipl.-Ing.(FH) Martin Scherrer Experimental-OP und Ergonomie Universitätsklinikum Tübingen Ernst-Simon-Straße 16 72072 Tübingen Telefon: 07071/97732-14 Telefax: 07071/97732-29 E-Mail: martin.scherrer@experimental-op.de www.experimental-op.de
Seit der Publikation des IOM Reports im Jahre 1999 wird die Diskussion über Fehler in der Medizin verstärkt geführt. Es wird vermutet, dass Jährlich 44.000 bis 98.000 Patienten allein in den USA durch adverse events getötet werden (Kohn, 1999). Von der Mosel (1971) und Bleyer (1992) beschrieben, dass zwei Drittel der gerätetechnischen Fehler auf Probleme bei der Interaktion zwischen Gerät und Anwender und nicht auf einen technischen Defekt zurückzuführen waren. Allein für Deutschland wird geschätzt, dass allein die Behandlung der Komplikationen, die durch Gebrauchstauglichkeitsprobleme auf Intensivstationen entstehen, jährlich 396 Mio. zusätzlich kosten (Backhaus, 2004). Die Mitarbeiter in den OPs geben ihrem Arbeitsplatz ein schlechtes Zeugnis. Räume, die für einen reibungslosen Arbeitsablauf geplant und gebaut wurden, werden nicht genutzt, weil sie architektonisch ungeeignet sind, das zum Betrieb erforderliche Personal oder die notwendigen Geräte nicht vorhanden sind. Die Klimaanlage, die auch für eine keimfreie Luft im OP-Gebiet sorgen soll, zieht. Trotzdem steigt Rauch beim Koagulieren auf; d.h. die Frischluft erreicht das OP- Gebiet gar nicht. Eine eigene Umfrage auf dem Deutschen Chirurgenkongresses 2004 ergab, dass nahezu 70% der befragten Chirurgen angeben ihre Geräte nicht intuitiv richtig bedienen zu können. Die gleiche Frage gestellt auf dem Pflegekongreß 2005 brachte das Ergebnis, dass 48,9 % der OP-Pflegekräfte dies ebenfalls behaupten 40% der Chirurgen und 47,8% der Pflegekräfte haben deshalb gefährliche Situationen erlebt (Matern, 2006). Kabel und Schläuche bilden Stolperfallen, die Stürze provozieren. Die richtige Zuordnung der Steckverbindungen bereitet Schwierigkeiten. Gefährliche Situationen kennen deshalb 60,5% der Chirurgen und 81,2% der Pflegekräfte. 1
Im OP mangelt es an der Abstimmung zwischen den einzelnen Gewerken. In einem Allgemeinchirurgischen OP-Trakt mit vier Sälen gibt es 75 Geräte; es handelt sich um 55 verschiedene Gerätetypen! Die unterschiedlichen Bedienphilosophien der verschiedenen Hersteller können Fehlbedienungen provozieren. Unverständliche Symbole finden sich auf vielen Geräten. Viele dieser Geräte haben spiegelnde Bildschirme. Wegen der Positionierung der Geräte können diese und der Patient nicht gleichzeitig beobachtet werden. Dies ist nicht nur ergonomisch störend sondern sicherheitsrelevant. Die Auswertung der Meldungen im Rahmen der Medizinproduktesicherheitsplanverordnung an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ergab im Zeitraum 2000-2006 306 Meldungen in Zusammenhang mit der Anwendung von Medizinprodukten in OP. Davon entfielen 32 % auf Anwenderfehler und 23 % auf Kommunikationsfehler zwischen Mensch und Maschine, von diesen führten mehr als 90 % zu einer Patientengefährdung (Revision oder OP- Zeitverlängerung (Montag, 2007) Bereits frühere Umfragen in den USA (Berguer, 1999), Australien (Patkin, 2003) und in den Niederlanden (van Veelen, 2003) zeigten ähnliche Ergebnisse. Es handelt sich um ein internationales Phänomen: Ergonomische Aspekte werden im OP bisher nur wenig berücksichtigt. Bisher war es offensichtlich nicht erforderlich, über Kosten und Arbeitsbedingungen nachzudenken und diese zu optimieren. Ähnliche Probleme können nicht nur bei der Medizintechnik sondern auch bei der Architektur und der Gebäudetechnik beobachtet werden. Ein gutes Beispiel für die Inkompatibilität der Komponenten ist die Klimatechnik. Mit großem technischen und finanziellem Aufwand wird eine Luftzufuhr betrieben, die reine Luft von der Decke in das OP-Gebiet strömen lassen soll, um Kontamination zu vermeiden. Trotzdem steigt im OP beim 2
Koagulieren Rauch als Zeichen dafür auf, dass im OP-Gebiet die Strömungsverhältnisse genau umgekehrt sind. Studien zeigen, dass sogar Bakterien vom Boden in die Wunde gesaugt werden können (Liu, 2003). Begünstigt wird diese Umkehr der Strömung durch das OP- Team, die OP-Leuchten. Der OP ist durch Insellösungen geprägt. Jede Firma stellt ihr Produkt zur Verfügung, ohne dass eine Abstimmung mit den Herstellern anderer Geräte erfolgt wäre. Bei insgesamt etwa 75 komplexen high-tech-geräten, mit teilweise unterschiedlichen Bedienkonzepten, ist es vorhersehbar, dass zwangsläufig Bedienungsfehler passieren müssen. Aus diesen Gründen ist es sinnvoll eine Einrichtung aufzubauen deren Ziel es ist, die erwähnten, sowie weitere Probleme bei zukünftigen Planungen zu vermeiden und gemeinsam die notwendigen Technologien dafür zu schaffen. Der Experimental-OP ist interdisziplinär und soll als weltweit einmaliges Projekt den OP der Zukunft als integriertes und ganzheitliches System konzipieren und so künftige Planungen für Operationssäle optimiert und damit an der teuersten Funktionseinheit einer Klinik Kosten nachhaltig sparen und die Bedingungen im Arbeitsplatz OP nachhaltig verbessern. Dazu wurde am Universitätsklinikum Tübingen ein OP-Trakt (mit 2 Sälen) nach bestem Stand der Technik mit den heute zur Verfügung stehenden Technologien in einer 1000qm großen Halle errichtet. Diese OPs werden evaluiert und iterativ optimiert. Workshops zu speziellen Themen werden die Entwicklung begleiten und 3
fördern. Diese beteiligten Gruppen nutzen diese Installationen zusätzlich zu Schulungs- und Trainingszwecken. Auf dieser reellen Plattform werden medizintechnische Industrie, Architekten und Planer, Forschungsstrukturen des Landes Baden-Württembergs und Betreiber, sowie medizinisches Personal zusammenarbeiten, um den System-OP der Zukunft zu entwickeln, zu realisieren und zu validieren. Die Ergebnisse aus diesem System-OP werden somit die Einrichtung und den Betrieb zukünftiger OPs in ihren Lebenszyklen nachhaltig ergonomischer und damit rentabler und sicherer machen. Die wesentlichen Arbeitsfelder des Experimental-OPs sind: Ergonomie Arbeitsabläufe Raumkonzepte Klimatechnik Hygiene Navigation & Positionierung System-Schnittstellen im OP-Interface Versorgung & Bereitstellung Betriebswirtschaftliche Betrachtung Literatur: Kohn L, Corrigan J, Donaldson M: To err is human. Building a safer health system. Institute of Medicine, Washington, D.C.: National Academy Press 1999. Von der Mosel HA: Der klinisch biomedizinische Ingenieur. Schweizerische Ärztezeitung 52 vom 29. 12. 1971. Bleyer S: Medizinisch-technische Zwischenfälle in Krankenhäusern und ihre Verhinderung. In Anna O, Hartung C (Hrsg.): Mitteilungen des Instituts für Biomedizinische Technik und Krankenhaustechnik der Medizinischen Hochschule Hannover. Hannover: Fachverlag für Krankenhaustechnik, 1992. Backhaus C: Entwicklung einer Methodik zur Analyse und Bewertung der Gebrauchstauglichkeit von Medizintechnik. PROMEDIKS Prozessorientierte Medizintechnik in klinischen Systemen. Dissertation der Technischen Universität Berlin. 2004. Matern, U.; Koneczny, S.; Scherrer, M.; Gerlings, T.: Arbeitsbedingungen und Sicherheit am Arbeitsplatz OP. Deutsches Ärzteblatt, 2006, 103 (47), A3187-A3192 4
Montag K., Rölleke T., Matern U.: Gebrauchstauglichkeitsuntersuchung von Medizinprodukten im Anwendungsbereich OP; 2. ECHE, Wien, 5-7.9.2007 Kongressband S. 60-62 Liu Y, Moser A, Harimoto K: Numerical study of airborne particle transport in an operating room. Intern J Ventilation 2003; 2: 103 10. 5