Einleitung. 1 Der Widerspruch zwischen Gesetzeslage und Praxis im deutschen Kündigungsrecht



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Transkript:

Einleitung 1 Der Widerspruch zwischen Gesetzeslage und Praxis im deutschen Kündigungsrecht Das deutsche Kündigungsrecht ist durch eine Lücke zwischen Gesetzeslage und arbeitsrechtlicher Praxis gekennzeichnet: Das BAG bekräftigt stets, das Kündigungsschutzgesetz sei vorrangig ein Bestandsschutz- und kein Abfindungsgesetz. 1 Rechtstechnisch äußert sich der Bestandsschutz darin, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis im Anwendungsbereich des KSchG nur bei Vorliegen der in 1 Abs. 2 KSchG genannten rechtfertigenden Gründe auflösen kann. Andernfalls ist die Kündigung sozial ungerechtfertigt und damit unwirksam, 1 Abs. 1 KSchG. Der Arbeitnehmer verbleibt nach dem Wunsch des deutschen Gesetzgebers im Unternehmen oder findet jedenfalls seinen Weg dorthin zurück, wenn er innerhalb von drei Wochen Kündigungsschutzklage erhebt ( 4 Satz 1, 7 KSchG). Nichts anderes gilt für die außerordentliche Kündigung und für außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes bestehende besondere Kündigungsbeschränkungen, die bei Verstoß ebenfalls die Unwirksamkeit der Kündigung nach sich ziehen. Von einer Abfindung darf grundsätzlich nur dort die Rede sein, wo sich der Erhalt des Arbeitsplatzes nicht durchsetzen lässt (siehe 9 KSchG). 2 Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus: Etwa jeder zweite Kündigungsschutzprozess endet mit vergleichsweisen Abfindungszahlungen. 3 Auch das 1 Ebenso bereits BAG, 5.11. 1964 2 AZR 15/64, BAGE 16, 285 (291); BAG, 30.9. 1976 2 AZR 402/75, AP Nr. 3 zu 9 KSchG 1969 Bl. 2; BAG, 29.1. 1981 2 AZR 1055/78, AP Nr. 6 zu 9 KSchG 1969 Bl. 4; BAG, 26.11. 1981 2 AZR 509/79, AP Nr. 8 zu 9 KSchG 1969 Bl. 3; BAG, 25.10. 1989 2 AZR 633/88, AP Nr. 36 zu 611 BGB Direktionsrecht Bl. 6; BAG, 23.6. 2005 2 AZR 256/04, AP Nr. 52 zu 9 KSchG 1969 Bl. 2. Siehe jüngst auch BVerfG, 22.10. 2004 1 BvR 1944/01, AP Nr. 49 zu 9 KSchG 1969 Bl. 3. 2 Simitis, Referat, M 8 (M 42). Bei leitenden Angestellten muss die Weiterbeschäftigung allerdings nicht nach 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG unzumutbar sein, damit der Arbeitgeber die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung beantragen kann ( 14 Abs. 2 Satz 2 KSchG). Zu Abfindungen kann es weiter im Nachteilsausgleich ( 113 BetrVG), in Sozialplänen oder in Tarifverträgen kommen. Siehe hierzu genauer unten zweites Kapitel 2 G V (S. 166 ff.). 3 Bielenski/Hartmann/Pfarr/Seifert, AuR 2003, 81 (88) mit Daten aus dem Zeitraum von September 1999 bis November 2000. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam bereits eine empirische Untersuchung des Max-Planck-Instituts (MPI) für ausländisches und internationales Privatrecht (Hamburg) aus dem Jahr 1978, veröffentlicht von Falke/Höland/ Rhode/Zimmermann, Kündigungspraxis Bd. I und II. Siehe dazu die Hochrechnung von Höland, in: Blank (Hrsg.), Kündigungsschutz, S. 23 (50). 27

BVerfG bemerkte, daß in Verfahren nach dem Kündigungsschutzgesetz zumeist weniger um die Fortführung des Arbeitsverhältnisses gestritten als über eine Abfindung verhandelt wird. 4 Dieser Prozentsatz an Abfindungsvergleichen ist angesichts der gesetzlichen Intention eines weitestgehenden Bestandsschutzes hoch. 5 Die Einführung von 1a KSchG zum 1.1. 2004 6 hat an dieser Lage nicht viel geändert: Die praktische Bedeutung der Norm beschränkt sich auf die gesetzliche Ausgestaltung eines bereits zuvor möglichen Abwicklungsvertrags, ohne das Bestandsschutzprinzip anzutasten. 7 Arbeitnehmer können gleichwohl versucht sein, im Wege des gerichtlichen Vergleichs für sie günstigere Abfindungen zu erstreiten; Arbeitgeber können es darauf ankommen lassen. 8 Als Grund für die anhaltende Abfindungspraxis wird überwiegend angeführt, dass der gesetzlich vorgesehene Bestandsschutz am tatsächlichen Willen der Arbeitnehmer vorbeigeht: Viele Arbeitnehmer rechnen sich keine Zukunft mehr im Unternehmen aus, entweder aufgrund des ihrerseits zerstörten Vertrauens 9, aus Angst vor Sanktionen durch den Arbeitgeber 10 oder aufgrund von Problemen mit ihren Arbeitskollegen. 11 Ihnen kommt es daher von vornherein häufig weniger auf eine Rückkehr an ihren Arbeitsplatz als vielmehr auf eine Abfindung an. 12 Um die Aussichten auf möglichst hohe Abfindungen zu maximieren, 4 BVerfG, 27.1. 1998 1 BvL 15/87, AP Nr. 17 zu 23 KSchG 1969 Bl. 4 f. 5 Ebenso Lang, Kündigungsschutzsysteme, S. 273. Die unbelegte Behauptung vor allem von Rüthers, NJW 2002, 1601 (1602), etwa 90 Prozent aller Arbeitgeberkündigungen führten gerichtlich oder außergerichtlich zu einem Abfindungsvergleich, ist dagegen statistisch widerlegt: Nach Bielenski/Hartmann/Pfarr/Seifert, AuR 2003, 81 (88) belief sich der Wert all jener Arbeitnehmer, die bei einer Arbeitgeberkündigung eine Abfindung (einschließlich Sozialplanabfindungen) erhalten haben jedenfalls im Zeitraum von September 1999 bis November 2000 auf 15 Prozent. 6 Art. 1 des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 26.9. 2003, BGBl. 2003, I- 3002. 7 Weißflog, Abfindungsansprüche, S. 374 f. Siehe auch Lang, Kündigungsschutzsysteme, S. 263 ( kein Wechsel des Systems ). 8 Kraus, Abfindungen, S. 223; Junker, Grundkurs ArbR, Rn. 393. 9 Rühle, DB 1991, 1378 (1379) ( zwischenmenschliche Probleme ). Fromm, Kündigungsgründe, S. 129 erwähnt ein gewisses Mißtrauen gegenüber der arbeitgeberischen Leitungsmacht. 10 Bauer, NZA 2002, 529 ( Spießrutenlaufen ). Die Untersuchung des MPI bestätigt diese Aussage: Von den nach Prozessende tatsächlich weiterbeschäftigten Arbeitnehmern scheidet ein gutes Drittel nach kurzer Zeit wieder aus dem Betrieb aus, Falke/Höland/Rhode/Zimmermann, Kündigungspraxis Bd. II, S. 973. 11 Lang, Kündigungsschutzsysteme, S. 207 weist darauf hin, dass bei einer betriebsbedingten Kündigung die Rückkehr des Arbeitnehmers bei Kollegen die Sorge wecke, es könnte nun ein anderer Arbeitnehmer gekündigt werden. Siehe zu Problemen mit Kollegen auch Rühle, DB 1991, 1378 (1379). 12 Fromm, Kündigungsgründe, S. 131; Preis, RdA 2003, 65 (66). Siehe bestätigend die Untersuchung des MPI bei Falke/Höland/Rhode/Zimmermann, Kündigungspraxis Bd. I, 28

geben Arbeitnehmer gleichwohl im Prozess vor, an der Weiterbeschäftigung interessiert zu sein ( prozesstaktisches Versteckspiel ). 13 Dadurch erhöht sich der Druck auf den Arbeitgeber, der im Fall der Klagestattgabe Annahmeverzugslohn ( 615 Satz 1 BGB) in mitunter empfindlicher Höhe leisten muss. 14 Er stimmt aus diesem Grund häufig auch bei letztlich gerechtfertigter Kündigung Abfindungsvergleichen zu, da die Entscheidungen der Gerichte häufig nicht vorhersehbar sind und ihm zügige Gewissheit dieser Preis wert ist. 15 2 Blick auf das französische Kündigungsrecht Andere europäische Staaten dagegen haben zumindest nach Auffassung einiger Kritiker des deutschen Kündigungsrechts realitätsnähere 16 Lösungen entwickelt, indem sie bereits gesetzliche Regelungen vorsehen, die konzeptionell unmittelbar oder mittelbar auf die finanzielle Entschädigung des Arbeitnehmers zielen. 17 Das Kündigungsrecht eines dieser Staaten Frankreich ist in dieser Arbeit genauer zu betrachten. Das französische Recht sieht einerseits zwar ein auf Abfindung gerichtetes Modell vor, hat andererseits aber den Bestandsschutzgedanken nicht vollständig aufgeben und differenzierte Lösungen entwickelt. Vor dem Hintergrund, dass eine Reihe von deutschen Rechtswissenschaftlern und Praktikern vor allem in den letzten Jahren angeregt hat, das deutsche Kündigungsrecht der eingangs erwähnten Praxis anzupassen und den theoretischen Bestandsschutzgedanken vollständig oder partiell durch eine Abfindungslösung zu ersetzen 18, kann die Betrachtung des französischen Modells als Inspira- S. 452. Hiernach erklärten mehr als die Hälfte aller klagenden Arbeitnehmer, keinesfalls oder kaum in den Betrieb zurückkehren zu wollen. Einschränkend Kamanabrou, in: Rieble (Hrsg.), Transparenz, S. 78 (81), die fehlendes Bestandsschutzinteresse der Arbeitnehmer nur bei betriebsbedingten Kündigungen verortet. 13 Willemsen, NJW 2000, 2779 (2780 f.). Ebenso Hümmerich, NZA 1999, 342 (344) ( Stellvertreterprozesse ); Neef, NZA 2000, 7 (9). 14 Preis, RdA 2003, 65 (66); Willemsen, NJW 2000, 2779 (2782). 15 Siehe Bauer, NZA 2002, 529; Möschel, JZ 2006, 113 (116) und die Ergebnisse der Studie des MPI in BB 1981, 850, wonach in 60 % der Abfindungsvergleiche die Kündigung von den Richtern als rechtswidrig eingestuft wurde, es also in 40 % der Fälle bei gerechtfertigter Kündigung zu Abfindungszahlungen kam. 16 Zur Realitätsnähe eines Abfindungssystems Willemsen, NJW 2000, 2779 (2783). 17 Siehe die ausführlichen Berichte von Rebhahn, RdA 2002, 272 ff. und Rebhahn, ZfA 2003, 163 ff. Ebenso Tschöpe, NZA-RR 2003, 393 (396 ff.); jüngst auch Weißflog, Abfindungsansprüche, S. 134 ff. 18 Etwa Bauer, NZA 2002, 259 ff.; Bauer, NZA 2005, 1046 ff.; Buchner, NZA 2002, 533 ff.; Hromadka, ZfA 2002, 383 ff.; Hromadka, in: Blank (Hrsg.), Kündigungsschutz, 29

tion für eine Neuregelung dienen. 19 So verweisen gerade auch französische Autoren auf den Widerspruch zwischen deutscher Gesetzeslage und Praxis, um den Wert ihres eigenen Kündigungsrechts zu unterstreichen. 20 Gleichzeitig wird das Beispiel Frankreich aber auch zeigen, dass die Normierung von Abfindungen die Gefahr einer Überregulierung und zu starken Differenzierung birgt, was Kündigungsschutz nicht in jedem Fall kalkulierbarer macht. 21 Von dieser Warte aus gesehen wird der Blick ins Ausland Belehrung und Warnung zugleich sein. 22 Zugleich ist in Zeiten europäischer und internationaler Verflechtung die Kenntnis der ausländischen Rechte aber auch als solche wichtig. 23 Das gilt vor allem für grenzüberschreitend agierende Unternehmen, betrifft aber auch die Arbeitnehmer selbst, denen immer mehr Mobilität abverlangt wird. 24 Letztlich trägt die Kenntnis des französischen Kündigungsrechts sogar dazu bei, gesellschaftspolitische Vorgänge in Frankreich zu verstehen: Für welche (Kündigungs-)Rechte haben etwa französische Studenten und Schüler so erbittert landesweiten öffentlichen Widerstand geleistet, als im Frühjahr 2006 das allgemeine Kündigungsschutzrecht für Arbeitnehmer unter 26 Jahren eingeschränkt werden sollte? 25 S. 11 ff.; Kamanbrou, in: Rieble (Hrsg.), Transparenz, S. 78 ff.; Neef, NZA 2000, 7 ff.; Preis, RdA 2003, 65 ff.; Rühle, DB 1991, 1378 ff.; Tschöpe, NZA-RR 2003, 393 ff.; Wank, NZA 2003, Sonderbeilage zu Heft 21, S. 3 ff.; Willemsen, NJW 2000, 2779 ff. Tendenziell auch Thüsing, NJW 2005, 3477. 19 Zu dieser Funktion der Rechtsvergleichung ausführlich Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, 2 II, S. 14 ff. 20 Siehe Waquet, SSL 2004, supplément Nr. 1164, S. 5 f. 21 Zur Forderung nach kalkulierbarem Kündigungsschutz Kamanabrou, in: Rieble (Hrsg.), Transparenz, S. 78 (87). 22 Gamillscheg, RdA 1987, 29. 23 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Bd. I, Vorwort S. VIII. 24 Junker, Internationales Arbeitsrecht, S. 1. 25 Art. 8 des Gesetzes Nr. 2006-396 vom 31.3. 2006 hatte für Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitnehmern die vom Premierminister de Villepin bereits am 16.1. 2006 angekündigte und vom Parlament am 9.3. 2006 verabschiedete Möglichkeit vorgesehen, auf einen sog. contrat première embauche antstatt eines allgemeinen unbefristeten Arbeitsvertrags zurückzugreifen. Dieser Vertragstypus ermöglichte es Arbeitgebern, innerhalb der ersten zwei Beschäftigungsjahre bei Arbeitnehmern unter 26 Jahren weitgehend grundlos die Kündigung zu erklären. Ab den ersten drei Monaten war lediglich eine Abfindung in Höhe von acht Prozent des ab Einstellung bis zum Kündigungstermin erlangen Gehalts und zwei Prozent an Sozialversicherungsbeiträgen fällig, es sei denn, ein schweres Fehlverhalten des Arbeitnehmers (faute grave) hatte Anlass zur Kündigung geben. Die Regelung wurde wegen des landesweiten Widerstands durch das Gesetz Nr. 2006-457 vom 21.4. 2006 wieder aufgehoben. 30

3 Gang der Darstellung Der Arbeit sind zunächst einige Grundlagen des französischen Kündigungsrechts vorangestellt (dazu erstes Kapitel), die für die gesamten Betrachtungen von Bedeutung sind. Sodann widmet sich die Darstellung dem allgemeinen Kündigungsschutz für unbefristete Arbeitsverhältnisse in Frankreich, d. h. den Vorschriften, die potenziell für alle Arbeitnehmer in jeder Situation gelten (dazu zweites Kapitel). Allerdings beschränkt sich die Arbeit nicht hierauf. Sie verfolgt vielmehr auch einen Bericht über zusätzliche besondere Kündigungsvorschriften etwa für spezielle Arbeitnehmergruppen (dazu drittes Kapitel). Erst die Kenntnis beider Teilbereiche des Kündigungsrechts ermöglicht einen unverzerrten Blick auf das französische Kündigungsschutzsystem. Zudem hat dieser Teil des Kündigungsrechts in der deutschen Literatur bislang wenig Beachtung gefunden. Im Anschluss an die Suche nach einem dem französischen Kündigungsrecht zugrunde liegenden Gesamtkonzept (dazu viertes Kapitel) endet die Arbeit in einer Schlussbetrachtung. Hinweise und Ausblicke auf Deutschland sollen dabei stets die Besonderheiten des französischen Rechts, aber auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten mit dem deutschen Recht hervorheben. Bezüge zum Gemeinschaftsrecht stellen die französische Rechtslage an entscheidenden Stellen zudem in den europäischen Kontext. Auf die in Frankreich im Kündigungsrecht bestehenden strafrechtlichen Sanktionen hingegen wird an den entsprechenden Stellen allenfalls kurz hingewiesen; vielmehr sollen die zivilrechtlichen Aspekte des Kündigungsschutzes im Vordergrund stehen. 31