Willkommen im feministischen Debattier-Club Roggenkamp, Viola 1997

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Transkript:

Repositorium für die Geschlechterforschung Willkommen im feministischen Debattier-Club Roggenkamp, Viola 1997 https://doi.org/10.25595/857 Veröffentlichungsversion / published version Zeitschriftenartikel / journal article Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Roggenkamp, Viola: Willkommen im feministischen Debattier-Club, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, Jg. 20 (1997) Nr. 46, 57-59. DOI: https://doi.org/10.25595/857. Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer CC BY 4.0 Lizenz (Namensnennung) zur Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu dieser Lizenz finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de Terms of use: This document is made available under a CC BY 4.0 License (Attribution). For more information see: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.en www.genderopen.de

beitr. e zur feministischen theorie undpraxis Jubiläumsausgabe theoretisch praktisch feministisch Zwanzig Jahrgänge 4& Hrsg. Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e. V

beta. e zur feministischen theorie undpraxis Jubiläumsausgabe theoretisch praktisch feministisch Zwanzig Jahrgänge 4& 1. Auflage 1997 Eigenverlag des Vereins Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis e.v., Köln Satz: Eul-Gombert & Gombert, Bergisch Gladbach Druck: Farbo Druck & Grafik Team, Köln

Impressum bei träge zur feministischen theorie und praxis Hrsg.: Sozialwissenschaftliche Forschung & Praxis für Frauen e.v. 20. Jahrgang (1997) Heft 46 Redaktion: Ute Annecke, Rose-Marie Beck, Heidrun Uta Ehrhardt, Nicole Pirpamer, Brunhilde Sauer-Burghard Redaktionelle Mitarbeit: Gabriele Felder, Silv Scholz Mitarbeiterinnen dieses Heftes: Ursula Beer, Brigitta v. Bülow, Monika Gerstendörfer, Ulrike Hänsch, Claudia Halberstadt, Jutta Heinrich, Barbara Holland-Cunz, Ulrike Janz, Claudia Koppert, Gisela Medzeg, Claudia Pinl, Luise F. Pusch, Viola Roggenkamp, Dagmar Schultz Die beiträge" erscheinen ca. dreimal im Jahr. Preis des Einzelheftes 23,- DM, Doppelheft 34,- DM, Abonnement (jeweils 3 Nummern) 65,- DM, Förderabonnement ab 95,- DM, Mitfrauenabonnement 62,- DM (jeweils inclusive Porto- und Verpackungskosten). Einzelhefte sind durch jede Buchhandlung oder direkt beim Verlag zuzügl. Versandkosten zu beziehen. Abonnements ausschließlich beim Verlag. Abbestellungen spätestens drei Monate vor Ende des Kalenderjahres möglich. Der Verlag erzielt keinen Gewinn. Mitarbeit erfolgt grundsätzlich ohne Honorar. Copyright by the authors. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis des Verlages und unter Quellenangabe gestattet. Sämtliche Verwertungsrechte an Übersetzungen liegen beim Verlag. Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keine Haftung übernommen werden. Verlags- und Redaktionsadresse: Niederichstr. 6, 50668 Köln, Tel.: 0221/138490; FAX: 0221/13901 94; Konto: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis e.v., Konto-Nr.: 7 192 032 Stadtsparkasse Köln (BLZ 370 501 98) und Konto-Nr. 56530-500 Postgiroamt Köln (BLZ 370 100 50) Vertrieb von Einzelheften und Abonnements: Verlag des Vereins Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis e.v. Auslieferung für den Buchhandel: (BRD, Österreich, Niederlande): SOVA, Friesstr. 20-24, 60388 Frankfurt, Tel.: 069/ 41 0211; FAX: 069/ 410280 Schweiz: ars.lit. Verlagsauslieferung, Oberwi!erstr. 64, CH-4054 Basel, Tel.:/FAX: 0041/61/2811123

INHALT Editorial Streiflichter auf die Arbeit der beiträge-redaktion 5 Zwanzig Jahre theoretisch praktisch feministisch Claudia Koppert Oh Theorie, oh Praxis - Eine Arie Gisela Medzeg Von der Sehnsucht nach Sprache Zwanzig Jahre mit den beiträgen 15 21 Dagmar Schultz Geburtstagsgruß" 31 Barbara Holland-Cunz feministische theorie und praxis und die beiträge 33 Redaktion der beiträge 1978-1997 Rückblicke - Auszüge aus Editorials der beiträge 39 Viola Roggenkamp Willkommen im feministischen Debattier-Club 57 Ulrike Janz I'll be a Postfeminist in Postpatriarchy" Ein persönlich-politischer Rückblick 61 Claudia Pinl Auf der Spur - gegen den Strich" 65 Ursula1 Beer Eine gewisse Wehmut läßt sich nicht verleugnen Ein Blick zurück auf zwanzig Jahrgänge beiträge 67 Brigitta v. Bülow Gedanken einer Zaungastleserin 75 Monika Gerstendörfer Ein Lob auf konstruktive Kritik 77

Ulrike Hänsch Das feministische Ich und das bewegte Wir Zur subjektiven Dimension in der Debatte um die Kategorie Geschlecht 79 Jutta Heinrich Erinnerungen 93 Luise F. Pusch Homophobische Diskurse, Dekonstruktion, Queer Theory Eine feministisch-linguistische Kritik 95 Informationen Jubiläumsfest der beiträge 107 Vorankündigung Heft 46 108 Vorankündigung beiträge-bibliographie 108 Autorinnen 109

Viola Roggenkamp Willkommen im feministischen Debattier-Club Soll ich verraten, daß dieser Text mein einziger Beitrag ist und sein wird, den ich wirklich aus freien Stücken gratis für die beiträge geschrieben habe? So ist es. Mein Geschenk zu Eurem Geburtstag! Und damit: Herzlichen Glückwunsch zum zwanzigjährigen Bestehen! Wie gut, daß es Euch schon so lange gibt und gibt und gibt. Alle vorangegangenen Texte sind ebenfalls gratis gewesen, und ich habe mit den Zähnen geknirscht und mir geschworen, ich lasse es! Und habe sie dennoch geschrieben und zur Verfügung gestellt. Auch für die kommenden Manuskripte, das steht mit gnadenloser Sicherheit zu befürchten, werde ich kein Honorar bekommen. Habe ich das nötig? Umsonst zu arbeiten? Beziehungsweise: kann ich mir das leisten? Nein. Ohne in einen tatsächlichen Dialog mit dem beiträge-redaktionsteam treten zu müssen, höre ich in mir - während ich hier an meinem Schreibtisch in Hamburg sitze und diese Zeilen schreibe-das vielstimmige Gezeter (,,Mußt du,gezeter' schreiben, Viola? Könnte es nicht auch,kommentar' heißen? Bitte, das ist nur ein Vorschlag von uns") aus Köln: Es gäbe die,beiträge' nicht mehr, wenn wir an die Autorinnen Honorare zahlen würden. Wir würden es ja gern tun. Aber das können wir uns nicht leisten. Wir haben kein Geld. So ist das eben. Was glaubst du, wieviel Gratisarbeit wir in dieses Projekt, und schon seit Jahrenden, hineingesteckt haben, vorne und hinten. Du hast ja keine Ahnung." Und so weiter. Genaugenommen seit zwanzig Jahren. Länger noch? Bestimmt. Die Vorbereitungszeit vor der ersten Ausgabe, damals, und überhaupt. Ich habe keine Ahnung. Ich finde es dennoch nicht gut. Unbezahlte Frauenarbeit von Frauen für Frauen ist ein Relikt aus feministischer Steinzeit. Für meinen ersten Beitrag ließ ich mich darum mit Naturalien bezahlen. Frauen sollen die Arbeit von Frauen honorieren. Feministinnen sowieso. Ich verlangte als Honorar sieben bereits erschienene beiträge-ausgaben und bekam sie auch zugeschickt. Dadurch aber war nun zu sehen, daß ich diese Exemplare, an deren Inhalt ich offensichtlich interessiert war, nie gekauft hatte. Das ist auch nicht gut. Mein erster Beitrag für die beiträge kam wie zustande? Durch einen Telephonanruf der Redaktion. Vor zwei Jahren, bei mir zu Hause. Ich freute mich, daß die beiträge einen Text von mir wollten. Ich fühlte mich geehrt, für eine Publikation schreiben zu sollen, deren Bekanntheitsgrad durch zahlreiche Beiträge feministischer Wissenschaftlerinnen über die Jahre gewachsen ist. Die beiträge haben einen Ruf. Was ist das für ein Ruf? Der Ruf ist eher ein Stellenwert: Wenn ich nach Veröffentlichungen feministischer Denkerinnen suche - sei es zu einem bestimmten Thema oder aber auch, weil ich überhaupt erst einmal Namen von si,r:h einmischenden Frauen brauche -, sind die beiträge eine gute Quelle. Sie sind nicht etwa die Nummer eins unter den neunundneunzig anderen. Es gibt keine neunundneunzig anderen. Es gibt nur sehr wenige Frauen, die eine solche Plattform, so einen feministischen Debattier-Club in Form von rund 150 Seiten dreimal im Jahr anderen Frauen, uns Autorinnen, zur Verfügung stellen. Wie kamen sie auf mich? Ich bin keine Wissenschaftlerin. Ich bin Journalistin und Autorin. Es war im Herbst 1995. Es ging um das Heft Nummer 41: mitgekriegt". Durch Emma" seien sie auf mich gekommen. Durch Emma" kann frau schon auf mich kommen. Ich habe vierzehn Jahre für Emma" geschrieben, seit ihrer Gründung 57

bis 1990. Es gehe um einen ganz bestimmten Artikel in einer ganz bestimmten Emma", erfuhr ich. Es habe dort 1988 eine Serie gegeben, über Jüdinnen. Ich wußte sofort Bescheid. Ich hatte damals zum erstenmal in meinem Leben über mich als Jüdin in Deutschland zu schreiben gewagt. Fünfzig Jahre Reichskristallnacht war für Emma" der Anlaß gewesen. So wurde der Novemberpogrom in Berlin am Tag danach genannt, wegen der vielen Scherben auf den Straßen am 9. November 1938. Die beiträge saßen gerade an einem Heft über Nationalsozialismus Krieg Nachkrieg". Fünfzig Jahre nach 1945. Ich sollte als Jüdin schreiben. Das sprach ich so aus. Nicht dieser Grund, hieß es später im Editorial, sei der Anlaß für das Heft gewesen. Vielmehr zwingt uns der Umgang mit diesem Anlaß in Politik und Medien, wie er sich im Laufe des Jahres 1995 darstellte, genauer hinzusehen." Und es war schon recht spät im Jahr. Bis zum Redaktionsschluß wäre mir nicht mehr viel Zeit geblieben. Ich brauchte etwas Bedenkzeit und lehnte dann ab. Es tat mir leid, wollte aber gerade darüber nicht unter Druck schreiben müssen. Warum waren sie erst jetzt auf mich gekommen? Ich war empfindlich geworden. Ute Annecke nahm meine Ablehnung entgegen. Damit wäre alles zu Ende gewesen. Von meiner Seite. Nicht von ihrer. Im nächsten Heft gehe es um Migration und Entfremdung in der Gesellschaft. Da könnte ich doch genauso gut über mich als nach der Nazizeit geborene Jüdin in Deutschland schreiben. - Ja. Noch besser sogar, fand ich. Fand sie auch. Ich konnte wieder auftauchen aus meinem heimlichen Alptraumr unter lauter Autorinnen aus Tater- und Mitläufer-Familien in letzter Minute als einzige jüdische Autorin doch noch entdeckt worden zu sein. Und schrieb. Für eine feministische Öffentlichkeit in einem dennoch geschützten Raum, und noch nie zuvor so offen über meine jüdisch-deutsche Realität und Irrealität, wie in diesem beiträge-heft 42/96: Mich gibt es - Jüdische Selbstbehauptung gegenüber der mächtigen Schoa". Weil der Raum feministisch ist, empfinde ich ihn als geschützt. Um mich herum ist die Welt nichtfeministisch. Der feministische Raum ist voller Gegensätze und Kontroversen. In den beiträgen finde ich mich in einem Kontext von Autorinnen wieder, deren Ansicht oder Ausdrucksweise ich unter Umständen überhaupt nicht teile. Was? Im einzelnen? Darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, daß ich diese Getrenntheit im Kontext der beiträge nicht als unverträglich empfinde. Eine feministische Verbundenheit gibt es dennoch, die für mich auch dann noch, und zu allerletzt wenigstens gegenüber dritten (Männern wie Frauen) besteht, wenn es Konsens nur mehr über diese letzte Gemeinsamkeit gibt: Verbundenheit gegenüber Dritten, basierend auf einer Grundhaltung zu Frauen, die getragen wird von kollektivem Gefühlswissen als Frau in dieser Welt. Keine blinde Solidarität. Aus dieser Grundhaltung zu Frauen kann ich einzelne Frauen ablehnen, auch furchtbar und ganz und gar unmöglich, j~, auch gefährlich, bedrohlich finden. Aber ich werde nicht einer antisemitischen Außerung über einen jüdischen Menschen zustimmen, nur weil auch ich als Jüdin diesen Juden oder diese Jüdin womöglich für fanatisch, womöglich sogar für faschistisch halte. 58 Die beiträge sind für mich ein öffentliches, gleichwohl ein intimeres Forum als beispielsweise Die Zeit", für die ich seit über zwanzig Jahren schreibe. Es gibt die beiträge nicht am Kiosk. Ein wichtiges Kriterium. Wir können sie im Frauenbuchladen kaufen, in jeder Buchhandlung, also in besseren Etablissements, als es ein Kiosk ist. Zeitungen werden gekauft, gelesen, im Zug liegengelassen und schließlich weggeworfen. Die Zeit", las ich unlängst in der taz", sei zudem die einzige Zeitung, die mehr Käuferinnen als Leserinnen habe. Das könnte stimmen.

Eine periodische Publikation bietet eine andere Öffentlichkeit als der journalistische Rahmen. Sie ist ja fast schon ein Buch. Fast. Aber doch. Wenn ich sie mit meinen Fingern ein bißchen entfalte - die beiträge-broschüre, meine ich -, dann kann sie stehen. Das kann keine Zeitung. Ich kann mit meinem Daumen ihren Rücken hochgleiten. Wenn sie kommt, stecke ich gleich meine Nase in ihre Mitte. Das mache ich oft so. Der Geruch. Bis eben noch ungeöffnet gewesen, und dann kam ich. Sie bleibt mir erhalten. Ich verwahre sie, wo ihre Vorgängerinnen sind. Daß, was ich geschrieben habe, eingebunden in die beiträge in den Bücherregalen anderer Menschen liegt und bleibt, ist für mich untrennbar mit der Buchform verbunden. Gedruckter Text auf einer Buchseite sieht ganz anders aus als auf einer Zeitungsseite, wird auch anders gelesen. Und darum werden Sätze für Buchseiten auch völlig anders geschrieben als Sätze gleicher Aussage für Zeitungsartikel. Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen: Für die beiträge Nummer 45: eigen sinn lieh - Sexualität und Feminismus" bin ich der Frage nachgegangen, ob es einen lesbischen Penisneid gibt. Ich hätte diese Betrachtungen auch der Zeit" anbieten können. Warum nicht? Warum denn etwa nicht gar! Ich hätte es zumindest versuchen können. Für die Seite Themen der Zeit" beispielsweise. Oder für das Ressort Wissenschaft". Ich habe nicht in Erfahrung gebracht, ob die Zeit"-Redaktion das Thema abgelehnt hätte. Wenn sie es angenommen hätten, wäre ich einer großen inneren Anstrengung ausgesetzt gewesen, nämlich mich nicht bei jeder Überlegung von vornherein zu bremsen. Wegen der Männer in der Zeit"? Ach, nun ja, nicht minder wegen der Frauen. Als ich der beiträge-redaktion dieses Thema anbot - es war wieder einmal am Telephon -, wurde sofort eine Viertelstunde bis fünfundzwanzig Minuten auf mich eingeredet: über dieses Wort, über Mißbrauch, über Freud, über sämtliche Tassen, die ich noch im Schrank hatte, und was ich mir darunter um Himmelswillen eigentlich vorstellte? Nun sag mal! Ja, glaubst du das denn?" Was?" Na, daß es einen - wie hast du gesagt?" Lesbischen Penisneid." Ja. Also, daß es so was gibt?" Ich wollte einfach dieser Frage nachgehen können. Die beiträge-redaktion willigte ein, blieb meinen Überlegungen sehr zurückhaltend bis ablehnend gegenüber. Aber: Sie ließen mich schreiben und veröffentlichten es. Darauf bin ich angewiesen. Gedruckt zu werden. Gelesen zu werden. Um da zu sein. Draußen. Herausgebracht. Für mich ist darin Befreiung. 59

Autorinnen Ursula Beer, geb. 1938 in Dresden, Prof. Dr. phil., Hochschullehrerin an der Universität Dortmund, FB Gesellschaftswissenschaften, Philosophie und Theologie, Fachgebiet sozialwissenschaftliche Frauenforschung, Arbeitsschwerpunkte: feministische Wissenschaftskritik und Gesellschafts- bzw. Sozialstrukturanalyse. Brigitta v. Bülow, seit Anfang 1985 Mitarbeiterin im Notruf für vergewaltigte Frauen in Köln, Schwerpunkt Öffentlichkeitsarbeit und Referentinnentätigkeit; tätig ansonsten als Lehrerin für die SEK II, in der Erwachsenenbildung, Öffentlichkeitsarbeit und für verschiedene Medien. Monika Gerstendörfer, geb. 1956, Diplompsychologin; Arbeitsschwerpunkte: Sexualisierte Gewalt, Lobby für Menschenrechte e.v. (1. Vorsitzende), Sprecherin der AG 11Gewalt gegen Frauen" des Forum Menschenrechte, Sachverständige zu Sexualstrafrecht, Jugendschutz & Medien auf EU- und nationaler Ebene. Ulrike Hänsclz, Diplomsozialwissenschaftlerin, Kollegiatin im Graduiertenkolleg Geschlechterverhältnis und sozialer Wandel Universität Dortmund; arbertet mit bei Frauen lernen und forschen e.v., Wuppertal; Veröffentlichungen zu Frauenbewegung, -projekte und Lesbenforschung. Claudia Halberstadt, geb. 1963 in Kaiserslautern, Studium der visuellen Kommunikation in Mannheim und Aachen, Studium der Malerei und Zeichnung bei Peter J. Buchholz/ Köln, Studium der Kunstpädagogik und Kunsttherapie in Köln; Ausstellungen in Köln, Bonn, Aachen, Eauze (Frankreich) und Verviers (Belgien); lebt und arbeitet als freischaffende Kunstpädagogin und Malerin in Köln;,,Ich zeichne, wie ich nicht weiß, ich empfinde zeichnend, was gerade emporsteigt aus dem tiefen Becken meines Nicht Wissens ". Jutta Heinrich, geb. 1940, Studium der Sozialpädagogik und Literaturwissenschaft; seit 1975 freie Schriftstellerin, außerdem schreibt sie Theaterstücke; mehrere Stipendien und Auszeichnungen; sie lebt überwiegend in Hamburg. Barbara Holland-Cunz, geb. 1957, Prof. Dr. phil., Politikwissenschaftlerin, 1988-1993 Universität Frankfurt am Main, 1993-1995 Freie Universität Berlin, seit 1995 am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen; Frauenbewegung und Frauenpolitik in und außerhalb der Hochschule seit Ende der 70er Jahre; Arbeitsschwerpunkte: Politische Theorie (z.zt. Demokratietheorie), Frauenbewegung und Frauenpolitik, Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie. Ulrike ]anz, geb. 1956, Diplompsychologin, hauptberuflich mittlerweile seit zehn Jahren im Frauenbuchladen Bochum tätig; Mitherausgeberin der radikal-feministischen Lesbenzeitschrift IHRSINN; darüber hinaus, wenn die Zeit es irgendwie erlaubt, freie lesbisch-feministisch Forschende, Schreibende und Vortragende. Claudia Koppert, geb. 1958, wohnt im Bremer Umland; in den beiträgen ist von ihr erschienen:,,ich lebe Widerstand, weil ich lebendig bin" (zusammen mit Birgit Lindberg), Heft 12/84; 11 Deutsch, weiß, christlich: Wie leben wir damit? Zur Moral der Demoralisierten", Heft 28/90; 11 Schuld und Schuldgefühle im westlichen Nachkriegsdeutschland: Zur Wirksamkeit des Vergangenen im Gegenwärtigen", Heft 30/31/91; 109

11Identität und Befreiung. Eine politische Zwischenbilanz", Heft42/96; 11 Emanzipation Marke west light. Zusammenarbeit, Konkurrenz, Vereinzelung von Frauen", Heft 43/44/96. Gisela Medzeg, geb. 1942, hat Politikwissenschaft studiert, als Journalistin gearbeitet und ist seit Jahren Halbtagsangestellte in einer Behörde; nebenberuflich tätig in der Frauenbildung; seit 1990 Redakteurin bei 11 Namenlos", der Schriftenreihe zur Selbsthilfe für Mädchen und FrauenLesben gegen sexuelle Gewalt. Claudia Pinl, geb. 1941, Journalistin und Autorin, lebt in Köln; jüngste Veröffentlichung: 11 Männer können putzen! Strategien gegen die Tricks des faulen Geschlechts", Frankfurt/M. 1997. Luise F. Pusch, geb. 1944 in Gütersloh, Professorin für Sprachwissenschaft; Autorin von Büchern und Aufsätzen u.a. zur Grammatiktheorie. Viola Roggenkamp, geb. 1948 in Hamburg, seit 1978 freie Journalistin und Autorin, vorwiegend für 11 Die Zeit", 11 taz" und 11 Allgemeine Jüdische Wochenzeitung", regelmäßige Mitarbeit für SFB- 11 Zeitpunkte", SFB- 11 Blick in die Zeit" sowie bis 1990 vierzehn Jahre für 11 Emma ";mehrjährige Auslandsaufenthalte in Asien und Israel; Musikstudium, Klavier, sowie Studium der Philosophie, Psychologie und Soziologie. Dagmar Schultz, geb. 1941, ist Professorin an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin und Verlegerin des Orlanda Frauenverlags; von 1963-72 studierte und arbeitete sie in den USA und lehrte von 1973-86 am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der FU Berlin; sie war Mitbegründerin des Feministischen Frauengesundheitszentrums Berlin, in dem sie bis 1980 arbeitete. 110