Marek Jędrzejowski Lesestile bei der Entwicklung des Leseverstehens im Fremdsprachenunterricht 1. Die Stellung des Lesens im Fremdsprachenunterricht. Geschichtlicher Überblick. Das verstehende Lesen hat im Fremdsprachenunterricht als Zieltätigkeit eine große Bedeutung, aber es wurde nicht in allen Methoden genügend berücksichtigt. Die Rolle des Lesens als eine der Zieltätigkeiten hat sich methodisch mehrfach verändert. Meistens wurde dem Lesen eine geringe Bedeutung beigemessen. Bei der Grammatik-Übersetzungs-Methode wurde die passive Sprachbeherrschung Ziel des Unterrichts. Das Lesen war bei dieser Methode ein Instrument zur Entwicklung der Grundfertigkeit Übersetzen. Die Fertigkeit Lesen, genauso wie die anderen Fertigkeiten, diente nur als Mittel zum Zweck, nämlich zur allgemeinen Geistesbildung. Man arbeitete mit sprachlich und inhaltlich schwierigen Textausschnitten literarischer und philosophischer Werke. Bei der Auswahl von Lesetexten wurde vor allem ihr literarischer und nicht der didaktische Wert berücksichtigt. Dies hatte zur Folge, dass diese Texte den Schülern Schwierigkeiten bereiteten, weil zu viele neue Wörter auf einmal eingeführt wurden. Die direkte Methode stellte die gesprochene Sprache in den Vordergrund und schloss dadurch beim Fremdsprachenerwerb den Einfluss der Muttersprache aus. Die Entwicklung des Lesens wurde von dieser Methode fast völlig vernachlässigt. Man konzentrierte sich fast nur auf die Entwicklung des Hörens und Sprechens. Lesen und Schreiben standen im Hintergrund. Für die audiolinguale oder audiovisuelle Methode war das Lesen ebenfalls von geringer Bedeutung. Das Lesen diente nur als Verstärkung für mündliche Übungen und Ausspracheübungen. Die didaktische Folge der Fertigkeiten lautete: erst Hören, dann (Nach)sprechen, und erst dann Lesen und zum Schluss Schreiben. Ein Lesetext wurde also erst am Ende einer Unterrichtsstunde präsentiert. Der Verstärkung der primären Rolle der Sprechfertigkeit diente auch eine lang andauernde lehrbuchlose Etappe. Das hatte den Nachteil, dass den Lernenden zu wenig Zeit blieb, um das Lesen gut zu beherrschen. Im kommunikativ pragmatischen Ansatz gewann das Lesen eine Neubestimmung und eine Neugewichtung als wichtiger Aspekt von Alltagskommunikation. In diesem Konzept bezieht sich aber das Lesen nur auf das Verstehen von Alltagstexten. Die Grundlage der 1
Lesedidaktik war ein Wort-für-Wort-Verständnis. Der Leseprozess wurde als eine komplexe Erscheinung betrachtet, die auf der Verarbeitung und Interpretation des Inhalts und auf dem Benutzen von verschiedenen Verstehensstrategien beruht. Diese Verarbeitung sollte aufgrund der Kenntnisse des Lesenden und aufgrund seiner Allgemeinbildung erfolgen. Eine bedeutende Veränderung im Prozess des Lesens erfolgte im interkulturellen Ansatz. Man stellte fest, dass die Entwicklung einer spezifischen Verstehensdidaktik auf der Entwicklung einer spezifischen Lesedidaktik beruht, weil Lesetexte die Grundlage des fremdsprachlichen Unterrichts sind. Man entwickelte ein Konzept, das von Texten ausging und an Texten eine Vielfalt von Aufgabenstellungen zur sprachlichen Äußerung entfaltete. Hierbei überwogen jedoch nur zwei Lesestile: das globale Lesen und das selektive Lesen. Detailliert werden fremdsprachliche Texte erst auf einer fortgeschrittenen Stufe der Sprachbeherrschung gelesen (vgl. G. Neuner, H. Hunfeld 1993; H. W. Huneke, W. Steinig 2000). 2. Die Stile des Lesens Der Begriff Lesen wird in der Fachliteratur mit einem klassifizierenden Attribut versehen, um näher bestimmt zu werden. In der einschlägigen Literatur wird vom analytischen und synthetischen, vom kursorischen und diskursiven, vom intensiven und extensiven Lesen gesprochen. Aber das ist nur eine kleine Zahl dieser Termini. Oft werden die verschiedensten Inhalte mit dem gleichen Begriff belegt. Die Folgen dessen sind terminologische Unsicherheiten, durch die eine Auseinandersetzung erschwert wird (vgl. M. Löschmann, H. Petzschler 1979). In dieser Arbeit möchte ich mich mit einigen Grundbegriffen näher befassen. 2.1. Intensives und extensives Lesen Westhoff unterscheidet zwischen zwei Sorten des Lesens: zwischen intensivem und extensivem Lesen. Nach ihm wird das intensive Lesen auch als langsam, eindringlich, detailgenau, analytisch oder statarisch beschrieben, das extensive dagegen als schnell und globalisierend; synthetisch oder kursorisch je nach der Art der Kriterien, die benutzt werden, um beide Sorten zu unterscheiden. Diese Sorten werden mit bestimmten Textsorten verbunden. Das intensive Lesen zum Beispiel mit Studienbüchern, das extensive mit Zeitungen und Zeitschriften. 2
Der Grad, in dem intensiv oder extensiv gelesen wird, kann aufgrund seiner Theorie in Termini des Fixationsumfangs beschrieben werden. Lesen ist ein rentabler Prozess. Diese Rentabilität erhöht sich, je mehr Informationen der Leser aus eigenen Kenntnissen einsetzt und desto mehr sinnvolle Einheiten aufgrund von weniger visueller Information er identifiziert. Je besser er diese Fähigkeit entwickelt, desto größer ist sein Fixationsumfang. Die Größe dieses Umfanges ist davon abhängig, wie groß der Unterschied zwischen dem, was man wissen will, und dem, was man schon weiß, ist. Ist der Unterschied zwischen dem, was man schon weiß, und dem, was man noch wissen will, groß, so braucht man für jedes sinnvolle Ganze relativ viele visuelle Informationen. Da unser Kurzzeitgedächtnis eine beschränkte Kapazität besitzt, bedeutet dies, dass die Zeit des Betrachtens kurz ist, dass der Fixationsumfang klein ist und dass evtl. sogar auf indirekte Identifikation zurückgegriffen werden muss. Anders gesagt: Das Lesen wird intensiver. Wird aber der Unterschied wieder kleiner, z.b. weil in einem nächsten Fragment mehr bereits vorhandene Kenntnisse eingesetzt werden können, so wird der Fixationsumfang größer und das Lesetempo erhöht sich: Das Lesen wird extensiver. Aufgrund der Theorie von Westhoff muss festgestellt werden, dass intensives Lesen eine Form des Lesens ist, die den geringsten Nutzen ergibt. Es ist eine Notlösung, auf die nur zurückgegriffen wird, wenn es in der besseren, schnelleren Weise nicht geht. Dies bedeutet, dass es zwei Lesearten gibt, eine für wichtige Texte, also intensives Lesen, und eine für unwichtige, also extensives Lesen. Aber das beste Leseergebnis wird dann erzielt, wenn in jedem Lesemoment so extensiv wie möglich gelesen wird und nicht intensiver als notwendig (vgl. G. J. Westhoff 1987). 2.2. Lautes und stilles Lesen Eine andere Unterscheidung erfolgt zwischen dem stillen und dem lauten Lesen. Stilles Lesen versteht man als Tätigkeit der Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung. Es geht hier um Aufnahme und Verarbeitung von graphisch repräsentierten Sprachzeichen, die von bestimmten Leseintentionen begleitet werden. Stilles Lesen dient der Eigeninformation, weshalb es in diesem Sinn Ziel des Unterrichts ist und den Vorrang vor dem lauten Lesen hat. Lautes Lesen bedeutet die artikulatorisch-motorische Umsetzung der graphischen Zeichen in lautliche. Lautes Lesen dient meist der Fremdinformation und kann nicht als Ziel-, sondern nur als Mittlertätigkeit begriffen werden. Trotzdem nimmt es seinen Platz als Bestandteil der direkten Kommunikation ein, wenn es um 3
die Verwirklichung spezieller Ziele des Fremdsprachenunterrichts geht (vgl. G. Desselman; H. Hellmich 1986). 2.2.1. Realisierungsformen des stillen Lesens Die Spezifik des fremdsprachigen Lesens prägt auch die Bestimmung der Realisierungsformen des stillen Lesens (G. Desselman; H. Hellmich 1986: 261). Das stille Lesen ist abhängig von der Leseintention, der Textbeschaffenheit und den sachlichen und sprachlichen Voraussetzungen des Empfängers. Das stille Lesen kann bewusst oder unbewusst analysierend und synthetisierend, intensiv oder extensiv, statarisch oder kursorisch verlaufen. Es wird entsprechend dieser Merkmale näher bestimmt (vgl. G. Desselman; H. Hellmich 1986). 2.2.1.1. Synthetisches und analytisches Lesen Als synthetisches Lesen bezeichnet man das unmittelbare, direkte Sinnerfassen. Es kommt im Idealfall ohne bewusste Analyse der Sprachzeichen und auch ohne Übersetzung aus. Es könnte auch als übersetzungsloses Lesen bezeichnet werden. Synthetisches Lesen wird überwiegend kommunikativ-pragmatisch und semantisch gelenkt. Synthetisches Lesen muss man als das eigentliche Ziel des stillen Lesens ansehen. Diesem Ziel kann man sich nur Schritt für Schritt annähern. Analytisches Lesen heißt mittelbares, indirektes Verstehen und ist oft mit der Übersetzung verbunden. Analytisches und übersetzendes Lesen sind aber keineswegs identisch. Es gelingt durch eine Sinnsynthese auf der Grundlage der Analyse der sprachlichen Zeichen auf den gekennzeichneten Ebenen. Das analytische Lesen kann durch unzureichende Beherrschung der Sprache und auch durch unzureichende Sachkenntnis beeinträchtigt werden. Es verläuft statarisch und ist häufig auf das Detail gerichtet. Analytisches Lesen ist häufig mit dem Gebrauch von Hilfsmitteln verbunden. Synthetisches und analytisches Lesen verhalten sich zueinander wie Ziel- und Mittlertätigkeit (vgl. G. Desselman; H. Hellmich 1986). 4
2.2.1.2. Orientierendes Lesen Bei dieser Leseform versucht der Leser, einen ersten Überblick über den Text zu gewinnen. Orientierendes Lesen basiert auf einem komplexen Erfassen bestimmter Ganzheiten. Dabei ist es wichtig, möglichst schnell Schlüsselwörter, Schlüsselsätze, Schlüsselwortgruppen und Schlüsselabsätze zu überblicken (vgl. M. Löschmann, H. Petzschler 1979). Orientierendes Lesen wird auch als suchendes und als vorbereitendes Lesen bezeichnet. Suchendes Lesen, weil eine bestimmte Information aufgesucht wird, vorbereitendes Lesen, weil sich der Leser die Frage nach dem Textinhalt und nach dem Wert der Informationen stellt. Beim orientierenden Lesen werden analytisches und übersetzendes Lesen ausgeschlossen. Das orientierende Lesen setzt außerdem eine bestimmte Sprachbeherrschung voraus (vgl. G. Desselman; H. Hellmich 1986). Graphisch kann orientierendes Lesen folgendermaßen dargestellt werden: (Quelle: http://de.geocities.com/norasethk/lesen_stile.pdf) 2.2.1.3. Kursorisches Lesen Bei dieser Leseform wird vom Leser das inhaltlich Wesentliche erfasst. Auf nebensächliche Informationen und Einzelheiten wird nicht geachtet. Das Wichtigste beim kursorischen Lesen ist das Rezipieren der sprachlichen Elemente, die relevante Informationen enthalten. Im Unterschied zum orientierenden Lesen genügt nicht mehr die Aufnahme von bestimmten Schlüsselwörtern oder Schlüsselwortgruppen. Der Leser versucht beim kursorischen Lesen die Hauptinformationen des ganzen Textes möglichst schnell zu erfassen. Also müssen alle kommunikativ relevanten sprachlichen Formen erfasst werden. Unbekannte Wörter werden nur soweit erschlossen, wie es für das Erfassen der Hauptinformationen notwendig ist. Andere Wörter, die für das Verstehen unwichtig sind, werden übergangen. Das 5
kursorische Lesen ist nicht nur z.b. bei der Lektüre der Tagespresse von großer Bedeutung, sondern auch im praktischen Leben. Der methodische Wert des kursorischen Lesens besteht darin, dass es zum unmittelbaren Verstehen anhält (vgl. M. Löschmann, H. Petzschler 1979). Graphisch lässt sich kursorisches Lesen folgendermaßen darstellen: (Quell: http://de.geocities.com/norasethk/lesen_stile.pdf) 2.2.1.4. Totales Lesen Bei dieser Leseform wird vom Leser der Inhalt in seinem ganzen Ausmaß und in seiner Vollständigkeit aufgenommen. Der Unterschied zum kursorischen Lesen besteht darin, dass die Intention des Schreibers und der Textinhalt vollständig erfasst werden müssen. Der Text muss Satz für Satz rezipiert werden, sonst kommt es zu Ungenauigkeiten (vgl. M. Löschmann, H. Petzschler 1979). Graphisch kann totales Lesen folgendermaßen dargestellt werden: (Quelle: http://de.geocities.com/norasethk/lesen_stile.pdf) 6
3. Zusammenfassung Jeder Lesestil wird in der Unterrichtspraxis gefordert und stellt spezifische Ansprüche an den Leser. Die Lesestile sind für sich genommen eigenständig. Die Grenzen zwischen ihnen sind jedoch fließend und innerhalb eines authentischen Textes werden sie oft abwechselnd eingesetzt (vgl. M. Löschmann, H. Petzschler 1979). Anfangs überfliegt man beispielsweise den Text, dann sucht man eine bestimmte Stelle im Text, die intensiver und genauer gelesen wird, und schließlich versucht der Leser nochmals die Passage im Gesamtzusammenhang zu überblicken. Von dem kompetenten Leser werden die einzelnen Lesestile nach- oder nebeneinander in demselben Text eingesetzt. Sie werden von ihm geändert, wenn der Inhalt oder die Form des Textes dies notwendig machen, oder wenn sich seine Einstellung und Intention in Bezug auf den Text geändert haben (vgl. de.geocities.com/norasethk/lesen_stile.pdf). Für das rationelle Lesen ist aber immer die adäquate Wahl des Lesestiles und der entsprechenden Verbindungen von Bedeutung. Diese Wahl eines Lesestils bzw. die Kombination mehrerer Lesestile hängt vom Leseziel, von der Beschaffenheit des Textes und vor allem vom Leser selbst ab (vgl. M. Löschmann, H. Petzschler 1979). Literaturverzeichnis: 1. Desselmann, G.; Hellmich, H. (1986): Didaktik des Fremdsprachenunterrichts. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie 2. Huneke, H. W.; Steinig, W. (2000): Deutsch als Fremdsprache Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. 3. Löschmann, M.; Petzschler, H. (1979): Übungsgestaltung zum verstehenden Hören und Lesen. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie 4. Neuner, G.; Hunfeld, H. (1993): Methoden des fremdsprachlichen Unterrichts. Berlin, München, Wien, Zürich, New York: Langenscheidt 5. Westhoff, G. J. (1987): Didaktik des Leseverstehens: Strategien des voraussagenden Lesens; mit Übungsprogramm. Ismaning: Max-Hueber-Verlag 6. Online: http://de.geocities.com/norasethk/lesen_stile.pdf (18.10.2007) 7