Aktuelle Trends der Rechtschreibdiagnostik: Eine Einführung



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Transkript:

Kapitel 1 Aktuelle Trends der Rechtschreibdiagnostik: Eine Einführung Marcus Hasselhorn, Harald Marx und Wolfgang Schneider Die in den letzten Jahren vorgelegten nationalen und internationalen Schulleistungsvergleiche haben einige Besorgnis erregende Ergebnisse ins öffentliche Bewusstsein getragen, die insbesondere zu Diskussionen über die mangelhaften Lesekompetenzen von Schulkindern und Jugendlichen in Deutschland geführt haben. Die Frage der Rechtschreibung und der Rechtschreibkompetenz ist dabei kaum thematisiert worden. Dies hat zum Teil seinen Grund darin, dass Rechtschreibung vielfach als Folgefertigkeit des Lesenlernens aufgefasst wird. So ist die Auffassung weit verbreitet, dass Kinder, die erfolgreich lesen lernen, ebenso erfolgreich das Rechtschreiben lernen. Trotz substanzieller empirischer Korrelationen zwischen Leseleistungen und Rechtschreibleistungen ist diese verbreitete Auffassung nicht wirklich zutreffend. So finden sich in Längsschnittstudien zum Schriftspracherwerb in nennenswerter Häufigkeit Kinder, die trotz altersangemessener Leseentwicklung gravierende Minderleistungen beim Rechtschreiben zeigen oder aber bei unauffälligen Rechtschreibfertigkeiten Lesestörungen aufweisen (vgl. Moll, Landerl & Kain, in diesem Band). Substanzielle Korrelationen zwischen Lese- und Rechtschreibleistungen tragen auch erheblich zu dem Fehlschluss bei, dass es sich beim Lesen und Rechtschreiben um ähnliche Prozesse handelt. Dies ist keineswegs der Fall. Während beim Lesen orthografisches Wissen und Wiedererkennungsleistungen eine große Rolle spielen, scheinen beim Rechtschreiben phonologische Prozesse und Arbeitsgedächtnisfunktionen wesentlich stärker an der Gesamtleistung beteiligt zu sein. Im Deutschen kommt hinzu, dass die Orthografie im Hinblick auf das Lesen regulär ist, während für das Rechtschreiben große Irregularitäten bestehen (vgl. Schneider, 1997). Man kann sich das so vorstellen, dass die Zahl der Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln relativ überschaubar ist, ein bestimmtes Graphem (Buchstabe) also mit nur wenigen Lauten verknüpft werden kann, was den Leseprozess zweifellos erleichtert. Im Unterschied dazu ist die Anzahl der Phonem-Graphem-Korrespondenz-Regeln im Deutschen sehr groß; für einen wahrgenommenen Laut können demnach durchaus regelkonform eine Vielzahl von Graphemen (Buchstaben) erzeugt werden (z. B. sind für das Wort Fuchs theoretisch sehr unterschiedliche Versionen ( Vuks, Fux, Vuchs etc.) mit dem Regelsystem kompatibel).

2 Marcus Hasselhorn, Harald Marx und Wolfgang Schneider Es lässt sich daraus ableiten, dass deutschen Schulanfängern der Erwerb des Rechtschreibens üblicherweise schwerer fällt als der des Lesens, und Kinder in der Regel auch mehr Zeit benötigen, bis sie zu kompetenten Rechtschreibern werden. Dies entspricht interessanterweise keinesfalls der Situation im angloamerikanischen Bereich, wo das Lesen aufgrund der irregulären englischen Orthografie für Schulanfänger ein linguistic guessing game darstellt (also ähnlich problematisch wie das Rechtschreiben ist), und es meist etwa ein Jahr länger dauert als im Deutschen oder anderen regulären Orthografien, bis sich die basale Lesekompetenz einstellt (vgl. Seymour, Aro et al., 2003). Es scheint nun interessant, dass die Situation schwacher deutscher Rechtschreiber der von schwachen Lesern im angloamerikanischen Raum sehr ähnlich ist: beide Gruppen machen im Verlauf der Grundschulzeit vergleichsweise geringe Fortschritte und verbleiben auch im fortgeschrittenen Schulalter auf einem unzureichenden Niveau, fallen also gegenüber normalen Rechtschreibern im Entwicklungsverlauf deutlich ab (vgl. etwa Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1993). Dies ist insofern besonders problematisch, als der Rechtschreibleistung für das Fortkommen im deutschen Schulsystem immer noch eine vergleichsweise größere Bedeutung als der Leseleistung zukommt. Der schon von Höhn (1969) und Kemmler (1976) in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts empirisch belegte Trend, demzufolge Rechtschreibprobleme sehr eng mit Schulversagen korreliert ist, lässt sich auch heute noch leicht belegen: Schülerinnen und Schüler, die im Grundschulalter besondere Probleme mit dem Rechtschreiben aufweisen, scheitern häufig an den Notengrenzwerten, die in den einzelnen Bundesländern den Übertritt an weiterführende Schulen regeln. Wie Schneider (in diesem Band) ausführt, sind die Forschungsaktivitäten zur Beschreibung und Erklärung des Erwerbs und der individuellen Unterschiede des Rechtschreibens leider immer noch eher spärlich, was für die Leseforschung überhaupt nicht gilt. Aus pädagogischer wie psychologischer Perspektive ist dies höchst bedauerlich, zumal die Rechtschreibkompetenz gerade im deutschen Sprachraum nach wie vor in der Praxis des Bildungswesens hoch relevant ist, wie schon oben belegt wurde. Korrektes Rechtschreiben ist nicht nur für das schulische und berufliche Fortkommen bedeutsam. Dies wird durch empirische Befunde zum Übergang auf weiterführende Schulen eindrucksvoll unterstrichen, wonach die Rechtschreibkompetenz eine vergleichsweise wichtige Rolle spielt wahrscheinlich sogar wichtiger ist als die Rolle der Intelligenz (vgl. Schneider, in diesem Band). Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat bundesweit geltende Bildungsstandards zur Entwicklung und Vergleichbarkeit der Qualität schulischer Bildung vereinbart. Die Bildungsstandards legen im Sinne von Regelstandards fest, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe in den Kernbereichen eines Faches erworben haben sollen. Unter Kompetenzen sind kontextspezifische Leistungsdispositionen zu verstehen, die grundsätzlich erlernbar sind. Kompetenzen befähigen zur Bewältigung unter-

Aktuelle Trends der Rechtschreibdiagnostik: Eine Einführung 3 schiedlicher Situationen und sind als Bindeglied zwischen Wissen und Können zu betrachten (Hartig & Klieme, 2006). Auch in den im Oktober 2004 von der Kultusministerkonferenz veröffentlichten Bildungsstandards für das Fach Deutsch wird die besondere Bedeutung des Rechtschreibens herausgestellt. Für den Primarbereich wird das richtige Schreiben als Bildungsstandard wir folgt definiert: geübte, rechtschreibwichtige Wörter normgerecht schreiben Rechtschreibstrategien verwenden: Mitsprechen, Ableiten, Einprägen Zeichensetzung beachten: Punkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Zeichen bei wörtlicher Rede Über Fehlersensibilität und Rechtschreibgespür verfügen Rechtschreibhilfen verwenden (z. B. Wörterbuch nutzen, Rechtschreibhilfen des Computers kritisch nutzen) Arbeitstechniken nutzen (z. B. methodisch sinnvoll abschreiben, Übungsformen selbstständig nutzen, Texte auf orthografische Richtigkeit überprüfen und korrigieren) Im Übrigen ist das Rechtschreiben in den Bildungsstandards keineswegs auf die Primarstufe begrenzt. So findet man z. B. auch in den Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss entsprechende Festlegungen. Danach sollen Hauptschulabgänger über folgende Rechtschreibkompetenzen verfügen: Grundregeln der Rechtschreibung und Zeichensetzung kennen und anwenden häufig vorkommende Wörter auch wichtige Fachbegriffe und Fremdwörter richtig schreiben individuelle Fehlerschwerpunkte erkennen und Fehler durch Anwendung von Rechtschreibstrategien vermeiden (z. B. Ableiten, Wortverwandschaften suchen, grammatisches Wissen nutzen) Von Fachwissenschaftlern und Didaktikern wird bisweilen das Argument vorgebracht, dass der Rechtschreibunterricht einen nur geringen Bildungswert habe und daher seine Bedeutung in Schule und Gesellschaft überschätzt würde. Man mag darüber streiten, ob dieses Argument stichhaltig ist oder nicht, sicher ist jedoch, dass es dazu verleitet, Fragen zur angemessenen Diagnose und zur Förderung von Rechtschreibfertigkeiten zu vernachlässigen. Von daher ist die Sorge um das Leistungs- und Kompetenzniveau unserer Schulen und Schüler durchaus berechtigt. In vielen Berufsgruppen und nicht zuletzt auch bei Eltern besteht eine zunehmende Nachfrage nach diagnostischen Verfahren zur Erfassung von Rechtschreibleistungen und nach Förderansätzen zur Verbesserung von Rechtschreibkompetenzen. Lehrer, Erzieher, Sonderpädagogen, Berufsberater, Schulpsychologen und Legasthenie-Therapeuten sind sich hier mit Schulverantwortlichen und Bildungsforschern darüber einig, dass Rechtschreibung nach wie vor eine große pädagogische Bedeutung besitzt. Auch die Debatte der letzten Jahre um die Rechtschreibreform in Deutschland hat diese Einschätzung nicht verändert. Sie hat zwar zu Verunsicherungen von

4 Marcus Hasselhorn, Harald Marx und Wolfgang Schneider Lehrern, Eltern und Schülern geführt, nicht aber zur Abkehr von der Position, dass Rechtschreiben zu den pädagogisch wichtigen Kulturtechniken in unserer Gesellschaft gehört. Es ist daher nicht verwunderlich, dass vorhandene diagnostische Verfahren in den letzten Jahren an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst wurden und teilweise auch neu normiert wurden. Die Neunormierungen waren aber nicht nur dadurch motiviert, dass vorhandene und bewährte diagnostische Verfahren an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst werden mussten. Ein weiterer Grund war der stetig durch Praktiker berichtete Eindruck, dass die Rechtschreibkompetenz von Schulkindern und Jugendlichen in Deutschland im Laufe der letzten zwei bis drei Jahrzehnte sich im Durchschnitt deutlich verschlechtert habe. Dieser Verdacht wurde immer wieder auch durch empirische Befunde gestützt. Ein systematischer Vergleich hierzu war im Rahmen der Neunormierung der WRT-Reihe möglich (vgl. Birkel & Stammet, in diesem Band). Dabei zeigte sich, dass dieser Eindruck zwar prinzipiell berechtigt ist, jedoch etwas differenziert werden muss: Während zwischen 1990 und 2005 offenbar die Fehleranzahl bei standardisierten Rechtschreibtests wie dem WRT für Schülerinnen und Schüler ab Ende der dritten Klassenstufe bedeutsam zugenommen hat, finden sich für jüngere Grundschüler bis zu Beginn der 3. Klasse keine solchen Fehlerzunahmen. Dies spricht dafür, dass etwas ältere Normen von Rechtschreibtests auch dann heute noch brauchbar sind, wenn es sich um Normen für jüngere Schulkinder handelt. Bei älteren Schulkindern dagegen scheint es besonders wichtig zu sein, möglichst aktuelle Normen für die Bewertung von Testergebnissen heranzuziehen. Die Frage, warum denn heute die Rechtschreibleistungen älterer Grundschulkinder schlechter ausfallen als noch vor etwa 15 Jahren, lässt sich bisher nicht empirisch fundiert beantworten. Plausibel ist jedoch die Annahme, dass dies u. a. mit der veränderten Bedeutung des Rechtschreibens im Deutschunterricht der Grundschule zu tun hat. Das zunehmend größere Gewicht der Deutschdidaktik auf Eigenproduktionen von Text und die veränderten Bewertungsgrundlagen für die Erstellung der Deutschnote scheinen offensichtlich zu einem geringerem Übungsanteil der Rechtschreibung geführt zu haben. Eine andere Frage, die im Zusammenhang mit der Individualdiagnostik des Rechtschreibens immer wieder Anlass zu Irritationen gibt, ist die Frage, ob Bewertungsmaßstäbe (Normen) generell erstellt werden sollten, oder ob es für spezielle Subpopulationen (z. B. Schüler mit Deutsch als Zweitsprache, Sonderschüler vs. Hauptschüler vs. Realschüler vs. Gymnasiasten, Jungen vs. Mädchen) unterschiedliche Normen geben sollte. Um diese Frage sinnvoll zu diskutieren, muss zunächst geklärt sein, zu welchem Zweck die Diagnose der Rechtschreibleistungen bzw. -kompetenzen durchgeführt wird bzw. zu welcher Art von Entscheidungsfindung sie beitragen soll. Handelt es sich um die Klärung einer Selektionsentscheidung (z. B.: Liegt eine Rechtschreibschwäche oder gar eine spezifische Rechtschreibstörung vor?) oder einer Förderentscheidung (z. B.: Soll das Kind an einem Förderunterricht oder gar an einer individuellen Recht-

Aktuelle Trends der Rechtschreibdiagnostik: Eine Einführung 5 schreibtherapie teilnehmen?), oder dient sie der Bereitstellung von Informationen zur Bewertung der Qualität von Unterricht bzw. realisierter Schulwirklichkeit. Während in den beiden letzteren Fällen es durchaus sinnvoll sein kann, subgruppenspezifische Normen anzulegen, bedarf es bei Selektionsentscheidungen zumeist der Hinzuziehung allgemeiner Normen. So dürfte unmittelbar einleuchten, dass die Frage, ob einem Kind eine Rechtschreibstörung attestiert werden kann, nicht davon abhängig sein darf, ob es ein Junge bzw. ein Mädchen ist (da Mädchen durchschnittlich bessere Rechtschreibleistungen als Jungen aufweisen vgl. Schneider, in diesem Band würde ein Mädchen bei Verwendung geschlechtsspezifischer Normen bereits eher als gestört eingestuft als ein gleichaltriger Junge derselben Klassenstufe mit der gleichen Fehlerzahl im selben Rechtschreibtest). Wir haben uns dazu entschieden, erstmals einen ganzen Band ausschließlich dem Thema der Rechtschreibdiagnostik zu widmen, weil sich in jüngerer Zeit einige Trends abzeichnen, die zu vermehrten Forschungs- und Verfahrensentwicklungsaktivitäten in diesem Bereich geführt haben. Zu diesen Trends gehören die zunehmende Orientierung der Rechtschreibdiagnostik an den Bildungsstandards, die Ausweitung der Verfahren auf den Sekundarstufenbereich bis hin ins Berufsbildungswesen sowie die Nutzung computerbasierter Technologien zur Ökonomisierung und Ausdifferenzierung der Rechtschreibdiagnostik. Orientierung der Rechtschreibdiagnostik an Bildungsstandards Bei unseren Bemühungen als Herausgeber der Reihe Deutsche Schultests haben wir in jüngerer Zeit mehrfach die Kultusministerien der Bundesländer in Deutschland angeschrieben und um Genehmigung von Normierungsuntersuchungen für verschiedene Schulleistungstests gebeten. Insbesondere dann, wenn wir darauf hingewiesen haben, dass es sich bei den zu normierenden Verfahren um curricular valide handele, erhielten wir skeptische Rückfragen: Die Orientierung an curricularen Vorgaben sei nicht mehr gewünscht; man habe sich von den curricularen Vorgaben verabschiedet und wolle alles in Zukunft an Bildungsstandards ausrichten. Solchen Äußerungen scheint das Missverständnis zugrunde zu liegen, dass die Ausrichtung an Bildungsstandards impliziere, dass man sich von curricularen Vorgaben verabschiedet. Dem ist keineswegs so. Bildungsstandards verändern nur den Blickwinkel. Während curriculare Vorgaben den Fokus auf die Inhalte des Unterrichts richteten, fokussieren Bildungsstandards die individuellen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Solange Rechtschreibkompetenzen in den Bildungsstandards verankert sind (s. o.), ist daher der Inhalt Rechtschreiben nicht aus dem Kanon der schulisch zu vermittelnden Kompetenzen wegzudenken. Daraus ergeben sich vielleicht neue Anforderungen an die Schule. In Niedersachsen beispielsweise wurden jüngst Kerncurricula für die Grundschule vorgelegt, mit deren Hilfe man sich eine bessere Erreichung der Bildungsstandards erhofft.

6 Marcus Hasselhorn, Harald Marx und Wolfgang Schneider Rechtschreibdiagnostik bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen Die Bedeutung von diagnostischen Verfahren zur Feststellung der Rechtschreibkompetenzen über das Grundschulalter hinaus ist in jüngerer Zeit vermehrt in den Blick geraten. Dies hat nicht nur seinen Grund darin, dass die Anzahl der funktionalen Analphabeten unter den erwachsenen Deutschen auf über 4 Millionen geschätzt wird. Der Umgang mit Schriftsprache ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für Erfolg in Schule, Ausbildung und Beruf. Da ist es wenig verwunderlich, dass die Nachfrage nach standardisierten und normierten Verfahren der Rechtschreibdiagnostik jenseits des Grundschulalters immer mehr ansteigt. Computerbasierte Rechtschreibdiagnostik Im Zeitalter der Computertechnologie allüberall ist es ebenso wenig verwunderlich, dass der Bedarf an computerbasierten Verfahren der Rechtschreibdiagnostik geweckt ist und vermutlich in den kommenden Jahren noch stark ansteigen wird. Dies hat zum einen Ökonomisierungsgründe, zum anderen aber auch den Grund, dass eine computerbasierte Diagnostik viel genauere und differenziertere Verhaltensparameter zu erfassen vermag. Von diesen erhofft man sich gerade im Zusammenhang mit dem Anspuch, Rechtschreibdiagnostik als Förderdiagnostik zu betreiben, eine neue Generation rechtschreibdiagnostischer Verfahren. Literatur Hartig, J. & Klieme, E. (2006). Kompetenz und Kompetenzdiagnostik. In K. Schweizer (Hrsg.), Leistung und Leistungsdiagnostik (S. 127 143). Berlin: Springer. Höhn, E. (1969). Der schlechte Schüler. Göttingen: Hogrefe. Kemmler, L. (1976). Schulerfolg und Schulversagen. Göttingen: Hogrefe. Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (1993). Lesen und Schreiben Entwicklung und Schwierigkeiten (2. Aufl.). Bern: Huber. Schneider, W. (1997). Rechtschreiben und Rechtschreibschwierigkeiten. In F. E. Weinert (Hrsg.), Psychologie des Unterrichts und der Schule (Enzyklopädie der Psychologie, Serie I: Pädagogische Psychologie, Bd. 3) (S. 327 363). Göttingen: Hogrefe. Seymour, P., Aro, M. et al. (2003). Foundation literacy acquisition in European orthographies. British Journal of Psychology, 94, 143 197.

Kapitel 2 Gruppentest zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Phonologische Bewusstheit bei Kindergartenkindern und Schulanfängern (PB-LRS) Karlheinz Barth und Berthold Gomm Zusammenfassung In zahlreichen Längsschnittstudien haben sich in sehr überzeugender Weise phonologische Bewusstheit, Arbeitsgedächtniskapazität und die Abrufgeschwindigkeit von Informationen aus dem semantischen Gedächtnis als relevante Prädiktoren für spätere Lese-Rechtschreibleistungen herausgestellt. Als prognostisch besonders bedeutsam zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten hat sich dabei die phonologische Bewusstheit herauskristallisiert. Zwar gibt es inzwischen einige Screening-Verfahren zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, die im Kindergartenalter oder zu Schulbeginn eingesetzt werden können, doch handelt es sich dabei ausnahmslos um Einzeltests, deren Durchführung pro Kind etwa 30 bis 40 Minuten in Anspruch nimmt. Der Gruppentest zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten ist der erste in Deutschland publizierte Gruppentest, der es ermöglicht, sehr zeitökonomisch eine größere Gruppe von Kindern gleichzeitig auf ihre phonologischen Kompetenzen zu überprüfen. Damit können im Rahmen von Einschulungsuntersuchungen ganze Jahrgänge zeitökonomisch auf eine Risikogefährdung untersucht werden. Der Gruppentest kann so einen wertvollen Beitrag zur Früherkennung und Prävention von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten leisten. Einsetzbar ist der Gruppentest bei Kindergartenkindern ein halbes Jahr vor der Einschulung sowie bei Schulanfängern in den ersten 2 bis 4 Wochen nach der Einschulung in die Grundschule. Im Kindergartenalter werden 4 phonologische Untertests durchgeführt, in der Schuleingangsphase 6 Untertests. Die Stichprobe bestand aus 105 Kindergartenkindern sowie 474 Schulanfängern aus verschiedenen Grundschulen. Empirische Befunde zu den Leistungen der Kinder in den verschiedenen Subtests, zu Gruppenunterschieden sowie zur prognostischen und klassifikatorischen Validität des Gruppentests bei Schulanfängern werden dargestellt. Die Ergebnisse zeigen, dass der Gruppentest in der Lage ist, phonologische Fähigkeiten bei Kindergartenkindern und Schulanfängern valide zu erfassen und daher eine gute Vorhersage auf spätere lese-rechtschreibschwache Kinder Ende der ersten Klasse erlaubt.

8 Karlheinz Barth und Berthold Gomm 1 Problemstellung Die Grundidee der Früherkennung und Prävention von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten besteht in der Absicht, eine Fehlentwicklung bereits in der Entstehung zu identifizieren, um frühzeitig Fördermaßnahmen einleiten zu können. Damit soll auch die Entwicklung von sozial-emotionalen Verhaltensproblemen als Folgesymptome von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten verhindert werden. Das Vorschulalter sowie der Schulbeginn stellen deshalb für die Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten in mehrfacher Hinsicht eine wichtige, oft richtungsweisende Zeitspanne dar (Barth, 2006). Mit der Früherkennung und Frühförderung verbindet sich die begründete Erwartung, dass sich spätere Lese-Rechtschreibschwierigkeiten verhindern oder zumindest abschwächen lassen. Für die Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten ist insbesondere die Beantwortung folgender Fragen von erheblicher Relevanz: Sind Lese-Rechtschreibschwierigkeiten so häufig und in ihren Auswirkungen so gravierend, dass sich die Durchführung frühdiagnostischer Verfahren und Frühfördermaßnahmen rechtfertigt? Was sind relevante Prädiktoren, die eine bedeutsame Vorhersage von späteren Lese-Rechtschreibkompetenzen der Kinder ermöglichen? Zu welchem Zeitpunkt ist eine verlässliche Prognose möglich? Lässt sich durch eine Frühförderung die Langzeitprognose der Kinder verbessern? Wo liegen die Grenzen in der frühen Vorhersage von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten? Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass etwa 4 8 % aller Kinder eine Lese-Rechtschreibstörung entwickeln (Warnke, Hemminger & Plume, 2004). Klicpera und Gasteiger-Klicpera (1995) berichten, dass im Grundschulalter etwa 10 15 % der Schüler im Lesen und Rechtschreiben ein bis zwei Schuljahresstufen hinterherhinken, wobei 3 bis 4 mal mehr Jungen als Mädchen von einer Lese-Rechtschreibschwäche betroffen sind. Die Angaben zur Prävalenz einer Lese-Rechtschreibstörung schwanken, da die Definition an eine Intelligenzmessung gekoppelt ist, sowie Normierungsprobleme der Lese- und Rechtschreibtests und unterschiedliche Schweregradskriterien die Häufigkeit beeinflussen. Die klinische Relevanz von Lese-Rechtschreibstörungen ergibt sich nicht nur daraus, dass diese bis ins Erwachsenenalter persistieren können, sondern insbesondere aus den sekundären Auswirkungen auf die soziale und emotionale Entwicklung sowie auf die Chancen in der Schule und im Beruf. In zahlreichen Untersuchungen (Strehlow, 2004; v. Suchodoletz, 2005; Warnke et al., 2004) wurde übereinstimmend eine erhöhte Rate psychischer Auffällig-

Gruppentest zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten 9 keiten bei Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten nachgewiesen. Charakteristisch sind dabei insbesondere expansiv oppositionelle Verhaltensprobleme und in höherem Schulalter antisoziale Verhaltensweisen (Esser, 1991; Esser & Schmidt, 1993). Es besteht weitgehende Übereinstimmung, dass die mittel- und langfristigen schulischen und beruflichen Perspektiven von Kindern mit Lese- Rechtschreibschwierigkeiten als ungünstig beschrieben werden (Petermann, 2000; Warnke et al., 2002). Der schulische und berufliche Erfolg der Betroffenen bleibt langfristig hinter dem Niveau von Vergleichsgruppen zurück. Viele lese-rechtschreibschwache Kinder verlassen ohne Schulabschluss vorzeitig die Schule. Trotz ihrer durchschnittlichen allgemeinen Intelligenz haben lese-rechtschreibschwache Kinder wesentlich seltener als ihre gleich begabten Mitschüler weiterführende Schulabschlüsse. Als Folge fehlender oder niedriger Schulabschlüsse schließen nur 50 % der lese-rechtschreibschwachen Kinder eine Berufs- und lediglich 1 % eine akademische Ausbildung ab (v. Suchodoletz, 2005). Neben ihren besonderen Schwierigkeiten beim Erwerb von Schriftsprachkompetenz zeigen die betroffenen Kinder oft noch eine Reihe weiterer komorbider Entwicklungsauffälligkeiten. Komorbid sind Entwicklungsauffälligkeiten, die zusätzlich zur Lese-Rechtschreibstörung bei einem Kind vorliegen. Warnke et al. (2004) beschreiben eine Reihe primärer und sekundärer komorbider Störungen wie Sprachentwicklungsauffälligkeiten, sprachgebundene Gedächtnisschwächen, psychomotorisches Ungeschick, Störungen der Fein- und Grobmotorik sowie der Visuomotorik, hyperkinetische Störungen, Konzentrationsstörungen und motorische Unruhe, Motivationsverlust, Schul- und Versagensängste, depressive und ängstliche Anpassungsstörungen. Die häufige Komorbidität von Lese-Rechtschreibstörungen mit Verhaltens- und hyperkinetischen Störungen sowie schlechte sozio-ökonomische Lebensverhältnisse erweisen sich als bedeutsame Risikofaktoren für einen ungünstigen Entwicklungsverlauf. 2 Frühe Hilfen sind die wirksamsten Hilfen Angesichts des häufigen Auftretens von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und des langen Leidensweges dieser Kinder stellt sich die vordringliche Aufgabe, die entsprechenden Defizite der Kinder so frühzeitig zu identifizieren, dass noch vor Schuleintritt, spätestens aber zu Schulbeginn, derart effizient geholfen wird, dass sich Lese-Rechtschreibschwierigkeiten erst gar nicht entwickeln. Daraus lassen sich die folgenden Paradigmen ableiten: Die Identifikation von Kindern, bei denen begründeterweise ein Risiko in der Entwicklung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten besteht, muss präventiv, also vor dem Beginn des eigentlichen Schriftspracherwerbs erfolgen. Dazu

10 Karlheinz Barth und Berthold Gomm ist eine frühe Diagnostik relevanter Lernvoraussetzungen für den Schriftspracherwerb erforderlich Die Früherkennung und Förderung von Risikokindern kann bereits im Kindergarten erfolgen Präventive und förderdiagnostische Maßnahmen zur Erfassung von Kindern mit Schwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache müssen aber spätestens in der Anfangsphase des Schriftspracherwerbs, also in den ersten Wochen des schulischen Anfangsunterrichts realisiert werden Die Schuleingangsdiagnostik stellt somit eine wichtige Schlüsselfunktion zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (und Rechenschwierigkeiten) dar Die Früherkennung von Risikokindern ist die Voraussetzung für eine zielgerichtete Intensivförderung der Kinder Binnendifferenzierende und individuelle Fördermaßnahmen sind nur dann möglich, wenn die Lernausgangslage eines Kindes diagnostisch erfasst wird. Dies ist durch eine explizite Förderplanung möglich. 3 Lesen und Schreiben lernen als Entwicklungsprozess Nach heutigem wissenschaftlichem Erkenntnisstand wird Lesen und Schreiben lernen als Entwicklungsprozess verstanden, der lange vor Eintritt des Kindes in die Schule beginnt. Der Schulanfang stellt also nicht die Stunde Null dar. Wichtige Basiskompetenzen, die für den Erwerb von Schriftsprachkompetenz von erheblicher Bedeutung sind, entwickeln die Kinder bereits im Vorschulalter. Diese relevanten Vorläuferfertigkeiten haben Kinder bis zum Zeitpunkt der Einschulung in unterschiedlichem Maße entwickelt, wobei bereits zu Schulbeginn Entwicklungsunterschiede von zwei bis drei Jahren bestehen. Die sehr erfolgreiche Forschung zum Schriftspracherwerb der vergangenen zwei Jahrzehnte hat zur Identifikation von Vorläuferfertigkeiten geführt, die Lese-Rechtschreibkompetenzen vorhersagen bzw. ihrem Erwerb zugutekommen. Schriftspracherwerb findet demnach auf mehreren Ebenen statt: Metalinguistische Fähigkeiten wie Grammatik (Regeln einer Sprache), Syntax (Lehre vom Satzbau), Semantik (Lehre von der Bedeutung der Wörter), die phonologische Informationsverarbeitung mit phonologischer Bewusstheit, dem phonologischen Rekodieren beim Zugriff auf das semantische Lexikon, dem phonetischen Rekodieren im Arbeitsgedächtnis und der Sprachwahrnehmung und -produktion, hier Sprachwahrnehmung (Rhythmik, Einzellaute/kategorielle Wahrnehmung), Artikulation und narrative Sprache (Schulte-Körne, 2001). Basierend auf kognitiven Informationsverarbeitungsmodellen zur Schriftsprachentwicklung (Frith, 1985; Scheerer-Neumann, 1987) zeigen diese Studien, dass insbesondere Merkmale der phonologischen Informationsverarbeitung in er-