Markus Tröltzsch, Matthias Tröltzsch ALLGEMEINMEDIZIN Publication Kopfschmerzen in der zahnärztlichen Praxis Eine Einführung Indizes Kopfschmerzen, kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD), analgetikainduzierter Kopfschmerz, Schlaganfall, Meningitis, Migräne, Trigeminusneuralgie Zusammenfassung Kopfschmerzen werden selten mit der Zahnmedizin in Verbindung gebracht. Dabei verdichten sich die Hinweise, dass der Zahnarzt bei korrekter Diagnostik eine nicht unbedeutende Rolle in der Bekämpfung und Prävention dieses Krankheitsbildes spielen kann. Der Beitrag stellt grundlegende diagnostische und therapeutische Schritte vor und soll das Erkennen von medizinisch kritischen Situationen erleichtern. Einleitung Kopfschmerzen gehören zu den am weitesten verbreiteten Schmerzphänomenen überhaupt. Man geht davon aus, dass ca. 70 % der Bevölkerung in der westlichen Welt unter Kopfschmerzen leiden, 10 bis 20 % davon chronisch 9. Die Lebensqualität kann durch die Schmerzen erheblich beeinträchtigt werden 5, und die Auswirkungen auf die Volkswirtschaft sind immens 3. Viele Patienten behandeln ihre Schmerzen selbst und greifen dazu meist auf Analgetika zurück. Dies birgt jedoch das Risiko der Entwicklung eines analgetikainduzierten Kopfschmerzes. Daher ist eine ärztlich und zahnärztlich gesteuerte Therapie sinnvoll. Der vorliegende Beitrag soll in das Thema einführen. In einem Folgeartikel werden insbesondere die diagnostischen und therapeutischen Aspekte noch weiter vertieft. Markus Tröltzsch Arzt, Dr. med. dent. Assistenzarzt Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Ruhr-Universität Bochum Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer In der Schornau 23-25 44892 Bochum Matthias Tröltzsch Dr. med. dent., cand. med. Praxis Dr. Dr. V. Tröltzsch Maximilianstraße 5 91522 Ansbach E-Mail: matthias_troeltzsch@hotmail.com Kopfschmerzeinteilung Grundsätzlich können zwei Arten von Kopfschmerz unterschieden werden: der primäre und der sekundäre Kopfschmerz 8 (Abb. 1). In den Bereich der primären oder idiopathischen Schmerzen fallen diejenigen, bei denen keine Ursache außer der Schmerzerkrankung Quintessenz 2011;62(10):000 000 1
ALLGEMEINMEDIZIN Publication selbst gefunden werden kann. Zu ihnen gehören der Spannungskopfschmerz, die Migräne, der Clusterkopf schmerz und auch Sondermen wie die Trigeminusneuralgie. Sekundäre oder symptomatische Kopfschmerzen werden durch neurologische oder Systemerkrankungen wie z. B. Tumoren des Gehirns, Schlaganfälle oder Meningitis ausgelöst 9. Spannungskopfschmerz und Migräne also beides primäre Kopfschmerzen haben einen Anteil von über 90 % 9. In einer eigenen Untersuchung an über 1.000 Patienten in der zahnärztlichen Praxis fanden wir nur primäre Kopfschmerzen vor 14. Primäre Kopfschmerzen Am häufigsten kommt der so genannte Spannungskopfschmerz vor. Diese Erkrankung allein macht über 50 % der Kopfschmerzfälle aus 9, nach unserer Untersuchung sogar über 70 % 14. Klassisch findet sich der Schmerz beidseitig, strahlt in Schultern sowie Nacken aus und kann bis zu mehreren Tagen andauern 9 (Abb. 2). Bei der klinischen Untersuchung stellten wir häufig Myogelosen an den Mm. masseter, temporales und pterygoidei fest. Bruxismus und Kiefergelenksbeschwerden ließen sich ebenfalls oft eruieren 14. In vielen Fällen war uns die Abgrenzung von kraniomandibulärer Dysfunktion (CMD) und Kopfschmerz vom Spannungstyp nicht möglich, da Symptome und auch das Verhalten auf Therapieversuche sehr ähnlich waren. Dies findet sich auch in der Literatur wieder 2. Die Migräne ist die zweithäufigste Form des primären Kopfschmerzes. Je nach Altersgruppe und Studie schwankt die Prävalenz zwischen 10 und 38 % 1,7,14. Migräne ist klassischerweise durch einen halbseitigen Kopfschmerz gekennzeichnet, der sich aber auch beidseitig ausbreiten kann (Abb. 3). Diese Erkrankung wird oft von weiteren Symptomen wie dem Sehen von Lichtphänomenen, Übelkeit, Erbrechen, Lichtscheu, Gefühlsstörungen, Lähmungen, Reizbarkeit und Appetitlosigkeit begleitet. Sowohl für den Spannungskopfschmerz als auch für die Migräne gibt es Hypothesen zu ihrer Entstehung, aber wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die genauen Ursachen stehen noch aus 11 13. Eine Beteiligung funktioneller Faktoren wird auch bei der Migräne diskutiert 2. Zu den seltenen primären Kopfschmerzen zählen der Clusterkopfscherz und die Trigeminusneuralgie. Die Prävalenz ist für beide sehr gering, und beide sind durch einen halbseitigen einschlagenden extremen Schmerz geprägt. Der Clusterkopfschmerz wird meist hinter dem Auge lokalisiert, während die Trigeminusneuralgie der Ausbreitung der Nerväste folgt 9 (Abb. 4). Kopfschmerz Primär (>90%) Sekundär (<10%) Migräne Spannungskopfschmerz Clusterkopfschmerz Trigeminusneuralgie Apoplex Meningitis Tumor Abb. 1 Einteilung der Kopfschmerzarten 2 Quintessenz 2011;62(10):000 000 Donnerstag, 11. August 2011
Publication ALLGEMEINMEDIZIN Abb. 2 Typische Lokalisation von Spannungskopfschmerz Abb. 3 Typische Lokalisation von Migräne Abb. 4 Typische Lokalisation von Clusterkopfschmerz Abb. 5 Nackensteifigkeit: Es ist nicht mehr möglich, das Kinn auf die Brust zu legen, stattdessen tritt starker Schmerz im Nacken (markiert) auf Abb. 6 Triggerpunkte für CMD/Spannungskopfschmerz Quintessenz 2011;62(10):000 000 3
ALLGEMEINMEDIZIN Publication Medizinisch kritisch: sekundäre Kopfschmerzen In diese Gruppe fallen Kopfschmerzen, die durch einen bestimmten Prozess ausgelöst werden. Der Schlaganfall, Tumoren des zentralen Nervensystems oder die Hirnhautentzündung können als Beispiele genannt werden 6. Grundsätzlich ist das Risiko, in der zahnärztlichen Praxis auf sekundäre Kopfschmerzen zu stoßen, gering. Dies liegt zum einen am doch relativ seltenen Auftreten dieser Erkrankungen und zum anderen an den häufig schnellen Verläufen. Die Differenzialdiagnostik der sekundären Kopfschmerzerkrankungen übersteigt die Möglichkeiten der zahnärztlichen Praxis bei Weitem und ist häufig auch primär nicht sicher möglich. Für den Zahnarzt ist es lediglich wichtig, Hinweise auf ein solches Geschehen zu erkennen und dann richtig zu reagieren. Das gilt sowohl für den Praxis als auch für den privaten Bereich. Zu den Warnzeichen gehören ein schlagartig neu aufgetretener starker Kopfschmerz mit Begleitsymptomen wie Sehstörungen, Sensibilitätsstörungen, Sprachstörungen, motorische Störungen, Müdigkeit, Verwirrtheit, Desorientierung, auffälliges Verhalten und hoher Blutdruck. Darüber hinaus darf Kopfschmerz, der mit Schmerzen in der Brust, Kurzatmigkeit und Unwohlsein einhergeht, ebenso wenig ignoriert werden wie eine Nackensteifigkeit (Abb. 5). In diesen Fällen ist eine umgehende Hinzuziehung des arztes geboten. Zahnmedizinisch-diagnostischer Prozess Ein Patient, der sich mit Kopfschmerzen in der Praxis vorstellt, sollte grundsätzlich wie jeder Schmerzpatient behandelt werden. An erster Stelle stehen die Suche und ggf. der Ausschluss einer zahnmedizinischen Ursache. Auch eine Sinusitis sollte abgeklärt werden. Im Rahmen der Schmerzanamnese sind u. a. die Qualität, die Frequenz, die ungefähre Dauer, die Auslösefaktoren, die Seitendominanz und der Beginn der Problematik zu erfassen. Auch nach Bruxismus sollte gefragt werden häufig kann hier gerade der Partner Inmationen beisteuern. Anschließend folgt die Palpation der Muskulatur hier besonders des M. temporalis, des M. masseter, der Mm. pterygoidei und des M. trapezius, um Myogelosen aufzufinden. An diesen Muskeln kann der Schmerz häufig ausgelöst werden, was zu der Bezeichnung Triggerpunkte (Abb. 6) geführt hat, und sie sind ein deutlicher Hinweis auf die Verdachtsdiagnose Spannungskopfschmerz/CMD. Auch sollte geprüft werden, ob der Unterkiefer frei beweglich ist. Das Kiefergelenk wird palpiert und auf Schmerzhaftigkeit bei Bewegung, Druckdolenz sowie Knacken und Reiben untersucht. Dabei ist aber von Bedeutung, dass isoliertes Knacken und Reiben ohne Schmerz oder Funktionseinschränkung keinen Krankheitswert hat 14. Bei der intraoralen Untersuchung sollte auf fehlende Abstützung, Spuren von Attrition, Schlifffacetten sowie Einbisse an der Zunge, Wange und Lippe geachtet werden. Zahnärztliche Behandlung von CMD und Spannungskopfschmerz Ob die Indikation für eine zahnärztliche Behandlung besteht, ist noch immer genauso umstritten wie die Frage, ob oromandibuläre Faktoren überhaupt zu dieser Erkrankung beitragen 10. Allerdings verdichten sich die Hinweise, dass dies so ist 2,14. Grundsätzlich sollte jede Behandlung strikt reversibel beginnen, was eine Fokussierung auf Schienen- und Physiotherapie bedeutet. Als Schiene sollte nach Meinung der Autoren eine Zentrikschiene gewählt werden. Die Behandlung lässt sich durch Akupunktur und Maßnahmen wie Biofeed back ergänzen 4. Wenn eine prothetische Restauration notwendig ist, sollte sie erst nach dieser Vorbehandlung erfolgen. Falls Möglichkeiten zur Funktions analyse bestehen, ist es sicher nicht von Nachteil, sie zu nutzen. Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Diclofenac sollten nur sparsam und mit Magenschutz (z. B. Omeprazol) eingesetzt werden, um der Entstehung eines analgetikainduzierten Kopfschmerzes vorzubeugen. Entsprechend der aktuellen Datenlage sind diese Aussagen recht vage. Ein Folgeartikel wird sich detaillierter mit dem Thema der Therapie befassen. 4 Quintessenz 2011;62(10):000 000
Publication ALLGEMEINMEDIZIN ChECKLIste Bewahren Sie diese Aufstellung leicht zugänglich auf oder fügen Sie sie Ihren Qualitätsmanagement-Unterlagen bei. Indizien für einen der zahnärztlichen Therapie zugänglichen Kopfschmerz Triggerpunkte an der Kaumuskulatur Okklusionsstörungen und fehlende Abstützung Schmerz nicht streng auf eine Kopfhälfte begrenzt Indizien für einen Patienten, der einem Neurologen vorgestellt werden sollte Kopfschmerz streng auf eine Kopfhälfte begrenzt oder hinter dem Auge lokalisiert Schmerz sehr stark Begleitsymptome wie z. B. das Sehen von Lichtphänomenen Übelkeit Erbrechen Lichtscheu Gefühlsstörungen Lähmungen Achtung Anzeichen für einen fall Schlagartig neu aufgetretener starker Kopfschmerz mit Begleitsymptomen wie z. B. Sehstörungen Sensibilitätsstörungen Sprachstörungen motorische Störungen Müdigkeit Verwirrtheit Desorientierung auffälliges Verhalten hoher Blutdruck Kopfschmerz, der mit Schmerzen in der Brust, Kurzatmigkeit und Unwohlsein einhergeht Nackensteifigkeit Zahnärztliche Therapie Primär Zentrikschiene und Physiotherapie Unterstützend: Biofeedback und Akupunktur Funktionsdiagnostik Sekundär: prothetische Rehabilitation Schmerzmittel wie Ibuprofen sehr sparsam einsetzen! Quintessenz 2011;62(10):000 000 5
ALLGEMEINMEDIZIN Publication Wichtig für den Praxisalltag Das Wissen über Kopfschmerz kann Ihnen vor allem in zwei Situationen nützlich sein: Zum einen sind Patienten betroffen, bei denen bereits eine Kopfschmerzerkrankung vorliegt und denen möglicherweise mit einer zahnmedizinisch-funktionellen Therapie geholfen werden kann. Zum anderen ist aber noch ein weiterer Aspekt in Erwägung zu ziehen. Da sich die Hinweise verdichten, dass eine gestörte Okklusion eine Ursache für Kopfschmerz sein kann, ist eine zahnmedizinische Versorgung auch unter präventiven Gesichtspunkten interessant. Den Schmerz gar nicht entstehen zu lassen ist sicherlich besser, als einen manifestierten Schmerz behandeln zu wollen. Literatur 1. Abramson JH, Hopp C, Epstein LM. Migraine and non-migrainous headaches. A community survey in Jerusalem. J Epidemiol Community Health 1980;34:188-193. 2. Ballegaard V, Thede-Schmidt-Hansen P, Svensson P, Jensen R. Are headache and temporomandibular disorders related? A blinded study. Cephalalgia 2008;28:832-841. 3. Benassi G, d Alessandro R, Lenzi PL, Manzaroli D, Baldrati A, Lugaresi E. The economic burden of headache: an epidemiological study in the Republic of San Marino. Headache 1986;26:457-459. 4. Bendtsen L, Jensen R. Treating tension-type headache an expert opinion. Expert Opin Pharmacother 2011;12:1099-1109. 5. Bernhardt O, Gesch D, Schwahn C et al. Risk factors headache, including TMD signs and symptoms, and their impact on quality of life. Results of the Study of Health in Pomerania (SHIP). Int 2005;36:55-64. 6. Classification and diagnostic criteria headache disorders, cranial neuralgias and facial pain. Headache Classification Committee of the International Headache Society. Cephalalgia 1988;8(Suppl 7):1-96. 7. D Alessandro R, Benassi G, Lenzi PL et al. Epidemiology of headache in the Republic of San Marino. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1988;51:21-27. 8. Evers S. Die neue IHS-Klassifikation Hintergrund und Struktur. Schmerz 2004;18:351-356. 9. Gleixner C, Müller M, Wirth S. Neurologie und Psychiatrie. Breisach: Medizinische Verlags- und Inmationsdienste, 2007. 10. Graff-Radd SB. Oromandibular disorders and headache. A critical appraisal. Neurol Clin 1990;8:929-945. 11. Graff-Radd SB. Temporomandibular disorders and other causes of facial pain. Curr Pain Headache Rep 2007;11:75-81. 12. Manzoni GC, Granella F, Sandrini G, Cavallini A, Zanferrari C, Nappi G. Classification of chronic daily headache International Headache Society criteria: limits and new proposals. Cephalalgia 1995;15:37-43. 13. Messlinger K. Migraine: where and how does the pain originate? Exp Brain Res 2009;196:179-193. 14. Troeltzsch M, Troeltzsch M, Cronin RJ, Brodine AH, Frankenberger R, Messlinger K. Prevalence and association of headaches, temporomandibular joint disorders, and occlusal interferences. J Prosthet Dent 2011;105:410-417. 6 Quintessenz 2011;62(10):000 000