Skript zur Vorlesung Strafrecht AT



Ähnliche Dokumente
Strafrecht Allgemeiner Teil

Anwendungskurs Strafrecht Allgemeiner Teil II und Eigentumsdelikte. - Fahrlässigkeit -

Grundkurs Strafrecht II Sommersemester 2014

D. Behandlungsverweigerung als Unterlassungsdelikt * * Stand: , Folie 7 neu.

Teil 1: Ansprüche S gegen I

Fall 3. Ausgangsfall:

Charakteristikum des Gutachtenstils: Es wird mit einer Frage begonnen, sodann werden die Voraussetzungen Schritt für Schritt aufgezeigt und erörtert.

226 StGB - schwere Körperverletzung

Schwangerschaftsabbruch. Lösungshinweise Fall 1 (nach BGH NStZ 2008, 393 mit Anm. Schroeder JR 2008, 252)

DNotI. Fax - Abfrage. GrEStG 1 Abs. 3 Anteilsvereinigung bei Treuhandverhältnissen. I. Sachverhalt:

Unternehmerverantwortlichkeit und Strafrecht. Frank im Sande, Staatsanwaltschaft Braunschweig 1

Lineargleichungssysteme: Additions-/ Subtraktionsverfahren

Lösungsskizze Fall 7. Strafbarkeit des A

Konversatorium Strafrecht III Nichtvermögensdelikte

HAFTUNG AUS FEHLERHAFTEN GUTACHTEN

Anwendungskurs: Strafrecht Allgemeiner Teil II und Eigentumsdelikte

Befristung Inkrafttreten des TzBfG BeschFG Abs. 1; TzBfG 14 Abs. 2 Satz 1 und 2

Lösungsvorschläge und Materialien für die Fälle 1 und 2

Professor Dr. Peter Krebs

316 StGB - Strafzumessung

Fahrlässigkeitsdelikt

Erfolg beginnt im Kopf

Strafrecht. Rechtsanwältin Annett Lindemann. Fachanwältin für Verkehrsrecht Fachanwältin für Strafrecht

Adäquater Kausalzusammenhang. Rechtsanwalt PD Dr. Arnold F. Rusch LL.M. Vorlesung Universität Bern 14. März 2012

Verfassungsrechtliche Grundlagen des Strafrechts Das Bestimmtheitsgebot

Patienteninformation. Augenarzt-Check für den Verkehrsteilnehmer. Beeintr ächtigtes Sehvermögen eine unterschätzte Gefahr im Str aßenverkehr.

Prof. Dr. Burkhard Boemke Wintersemester 2011/12. Bürgerliches Recht I. Allgemeiner Teil und Recht der Leistungsstörungen

Wirtschaftsstrafrecht Besonderer Teil Juniorprofessor Dr. Isfen

18: Weitere Delikte gegen die persönliche Freiheit

Verband der TÜV e. V. STUDIE ZUM IMAGE DER MPU

Kann K von V die Übertragung des Eigentums am Grundstück verlangen?

Rechtliche Grundlagen im WRD

Zivilrecht - BGB Schuldrecht AT_ Übersicht Nr. 3 Seite 1 von 10. Beachte: Schuldnerverzug ist Sonderfall der Pflichtverletzung i.s.d.

Kündigung, Zustimmung zur - eines Schwerbehinderten; Zustimmung zur Kündigung eines Schwerbehinderten; Prävention.

Haus und Grundstück im Erbrecht 7: Kündigung und Schönheitsreparaturen bei der Mietwohnung im Erbe

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS. vom. 17. April in dem Rechtsstreit

Vorlesung Gesellschaftsrecht

Korruption im Unternehmen Gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung eines Präventivsystems

GPA-Mitteilung Bau 5/2002

Internet- und -Überwachung in Unternehmen und Organisationen

Nachstellung (Stalking) 238 n. F.

Gefahr erkannt Gefahr gebannt

Haftungsrisiken im Ehrenamt

Inhalt. Einführung in das Gesellschaftsrecht

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL. 6. Oktober 2010 Ermel, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle. in dem Rechtsstreit

3.13. Landessynode (ordentliche) Tagung der 15. Westfälischen Landessynode vom 14. bis 17. November Pfarrdienstrecht

B. Erpressung ( 253 StGB)

Widerrufsbelehrung der Free-Linked GmbH. Stand: Juni 2014

Volker Geball Lüneburg ( v.geball@gmx.de ) Rechtliche Informationen für Karateka

Das Urheberrecht der Bundesrepublik Deutschland ist der Teil der Rechtsordnung, der das Recht des Urhebers an seinen Werken schützt.

Was taugt der Wertpapierprospekt für die Anlegerinformation?

Privatinsolvenz anmelden oder vielleicht sogar vermeiden. Tipps und Hinweise für die Anmeldung der Privatinsolvenz

DAVID Mitgliederversammlung in Ludwigshafen - Maudach

Avenue Oldtimer Liebhaber- und Sammlerfahrzeuge. Ihre Leidenschaft, gut versichert

6 Schulungsmodul: Probenahme im Betrieb

ARBEITS- UND An der Hasenquelle 6

Das Rücktrittsrecht I

Punkte Flensburg System: Punktesystem - Warum gibt es das Punktesystem?

Reisekosten-Reform (Teil 1)

1 Rücktritt, 346 ff BGB Eine Darstellung über die Voraussetzungen zur Ausübung des Rücktrittsrechts

1. Weniger Steuern zahlen

ONLINE-AKADEMIE. "Diplomierter NLP Anwender für Schule und Unterricht" Ziele

Kauf- und Werkvertragsrecht am Bau

Hautkrebsscreening. 49 Prozent meinen, Hautkrebs sei kein Thema, das sie besorgt. Thema Hautkrebs. Ist Hautkrebs für Sie ein Thema, das Sie besorgt?

Würfelt man dabei je genau 10 - mal eine 1, 2, 3, 4, 5 und 6, so beträgt die Anzahl. der verschiedenen Reihenfolgen, in denen man dies tun kann, 60!.

Lösung Fall 8 Anspruch des L auf Lieferung von Panini á 2,-

ratgeber Urlaub - Dein gutes Recht

Versetzungsregeln in Bayern

Fahrlässigkeit: objektive Pflichtverletzung nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte

Änderung des IFRS 2 Anteilsbasierte Vergütung

Wichtiges Thema: Ihre private Rente und der viel zu wenig beachtete - Rentenfaktor

Berufsqualifikationen und Ethik der Steuerberater in Europa

BeurkG 16, 13 Abs. 1 S. 1 Umfang der Übersetzung einer Niederschrift für einen Sprachunkundigen. I. Sachverhalt. II. Fragen

geben. Die Wahrscheinlichkeit von 100% ist hier demnach nur der Gehen wir einmal davon aus, dass die von uns angenommenen

Kulturelle Evolution 12

Herzlich willkommen. zur Information Arbeitssicherheit / Gesundheitsschutz / für Kirchgemeinden

Widerrufrecht bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen

1 MIO ÖSTERREICHISCHE SKIFAHRER SCHÜTZEN SICH BEREITS MIT HELM - UM MEHR ALS IM VORJAHR

Die außerordentliche Revision wird gemäß 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Familienrecht Vorlesung 6. Familienrecht

Newsletter Immobilienrecht Nr. 10 September 2012

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

So funktioniert Ihr Selbstmanagement noch besser

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS. vom. 3. Februar in der Abschiebungshaftsache

Aufsicht und Haftung. zu den Kindertageseinrichtungen

Mobile Intranet in Unternehmen

Rücktrittsrechte bei Nicht- oder Schlechtleistung einschließlich Rücktritt und Minderung im Kauf-, Miet- und Werkvertragsrecht Prof. Dr.

Haftpflicht aus Aufsichtsführung

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS IX Z A 16/14. vom. 18. September in dem Rechtsstreit

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS. vom. 17. September in dem Insolvenzverfahren

Klausur im Strafrecht für Fortgeschrittene

wegen unentschuldigter Fehltage in der Berufsschule oder fehlender Bereitschaft zur Eingliederung in die betriebliche Ordnung

Sonderrundschreiben. Arbeitshilfe zu den Pflichtangaben in Immobilienanzeigen bei alten Energieausweisen

Wir machen neue Politik für Baden-Württemberg

Fragen Übung 14,

Was meinen die Leute eigentlich mit: Grexit?

Was ist das Budget für Arbeit?

Zeichen bei Zahlen entschlüsseln

Vorratsgesellschaften Der schnelle Weg zum eigenen Unternehmen interna

Transkript:

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser 33: Fahrlässigkeit 1. Allgemeines: Skript zur Vorlesung Strafrecht AT Fahrlässiges Verhalten ist nur strafbar, wenn dies im Gesetz ausdrücklich angeordnet ist ( 15 StGB). Beachte: Im Gutachten darf aus dem Fehlen von Vorsatz nicht auf Fahrlässigkeit geschlossen werden; vielmehr sind die Voraussetzungen der Fahrlässigkeitshaftung nach dem einschlägigen Fahrlässigkeitstatbestand schrittweise zu prüfen. In der historischen Entwicklung ist Fahrlässigkeit (culpa) eine Schuldform neben dem Vorsatz (dolus). 2. Voraussetzungen: Das deutsche StGB enthält keine Legaldefinition der Fahrlässigkeit. Für das Zivilrecht gilt 276 Abs. 2 BGB: Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Nach hm sind im Bereich des Strafrechts die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit zweigeteilt: a) Zunächst bedarf es eines objektiven Fehlverhaltens des Täters. Objektiv fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt und dadurch objektiv vorhersehbar und vermeidbar einen Deliktstatbestand verwirklicht. Sorgfaltspflichtverletzung = Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt Objektive Vorhersehbarkeit des erfolgsverursachenden Kausalverlaufs Objektive Vermeidbarkeit der Erfolgherbeiführung = Entfallen des Erfolgs bei pflichtgemäßem Alternativverhalten ggf. sonstige Kriterien der objektiven Zurechnung Beachte: Der Begriff der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung deckt sich mit der Schaffung eines unerlaubten Risikos im Rahmen der objektiven Zurechnung. b) Weiterhin bedarf es einer subjektive Fahrlässigkeitsseite, welche danach fragt, ob die zuvor aufgestellten, objektiven Verhaltensanforderungen auch durch den konkreten Täter erfüllt werden konnten. Diese subjektive Fahrlässigkeit wird durch folgende Merkmale konstituiert: Individuelle Vorhersehbarkeit des erfolgsverursachenden Kausalverlaufs; Individuelle Fähigkeit zu sorgfaltsgemäßer Erfolgsvermeidung Beachte: Nach tlw. vertretener Auffassung in der Literatur (sog. Lehre von der individuellen Vermeidbarkeit) soll die erforderliche Sorgfalt wie beim Vorsatz nach Maßgabe des Täterwissens bestimmt werden; zu fragen ist dann, wie sich ein gewissenhafter und rechtstreuer Normadressat in der Rolle des Täters verhalten müsste, wenn er über dessen Wissen verfügte (vgl. etwa Jakobs 9/1 ff.; Kindhäuser GA 2007, 447 ff.; Schmidhäuser Schaffstein-FS 129 (145); LK-Vogel 15 Rn. 155 ff.; Stratenwerth Jescheck-FS 285 ff.). 1

3. Der Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts: Fall 1: A hält auf dem Baustellenabschnitt einer Autobahn nicht die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit ein, gerät wegen Verschmutzungen seines Fahrstreifens auf die Gegenfahrbahn und stößt mit einem entgegenkommenden PKW, dessen Fahrer schwere Verletzungen erleidet, zusammen. Bei Einhaltung der Geschwindigkeitsbeschränkung hätte A die Schmutzstelle problemlos passieren können. 223 otb: Erfolg, Handlung, Kausalität (+) stb: Vorsatz: dolus eventualis ( ) 229? Zwei Aufbaumöglichkeiten: a) Der einstufige Fahrlässigkeitsbegriff: An die Stelle des Vorsatzes tritt die (individuelle) Sorgfaltspflichtverletzung. Einstufig ist dieses Modell, weil alle Fahrlässigkeitsmerkmale bereits im Deliktstatbestand (1. Stufe) geprüft werden (vgl. [mit teils nicht unerheblichen Abweichungen im Detail] Burkhardt in: Wolter/Freund, Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem, 1996, 99 [114 ff.]; Hruschka 182 ff., 327; Kindhäuser GA 1994, 204 ff.; ders. GA 2007, 447 ff.; Maurach/Gössel/Zipf 43 Rn. 112; Struensee JZ 1987, 53 [54]). I. Tatbestand 1. Tb: Erfolg, Handlung, Kausalität (+) Sorgfaltsgemäße individuelle Vorhersehbarkeit des erfolgsverursachenden Kausalverlaufs Sorgfaltsgemäße individuelle Vermeidbarkeit der Erfolgsherbeiführung (Pflichtwidrigkeitszusammenhang) ggf. sonstige Kriterien der objektiven Zurechnung II. RW III. Schuld 1. Zumutbarkeit sorgfaltsgemäßen Verhaltens 2. Sonstige Schuldmerkmale (Schuldfähigkeit, Entschuldigungsgründe usw.) Ergebnis: 229 (+) b) Der zweistufige Fahrlässigkeitsbegriff (h.m.): Die objektiven Anforderungen werden dem Tatbestand und die subjektiven Anforderungen der Schuld zuordnet. Da die Prüfung der Fahrlässigkeit auf zwei Prüfungsebenen verteilt wird, spricht man insofern von einem zweistufigen Aufbau (Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben 15 Rn. 118 ff., 190; Hirsch ZStW 94 [1982], 266 ff.; Jescheck/Weigend 55 I 2 b; Kaufmann Welzel-FS 393 [404 ff.]). I. Tatbestand 2

1. Erfolg, Handlung, Kausalität 2. Sorgfaltspflichtverletzung 3. Objektive Vorhersehbarkeit des erfolgsverursachenden Kausalverlaufs (h.m: unter Berücksichtigung eines eventuellen Sonderwissens des Täters) 4. Objektive Vermeidbarkeit (= Entfallen des Erfolgs bei pflichtgemäßem Alternativverhalten) 5. ggf. sonstige Kriterien der objektiven Zurechnung II. RW III. Schuld 1. Individuelle Vorhersehbarkeit des erfolgsverursachenden Kausalverlaufs 2. Individuelle Fähigkeit zu sorgfaltsgemäßer Erfolgsvermeidung 3. Zumutbarkeit sorgfaltsgemäßen Verhaltens 4. Sonstige Schuldmerkmale (Schuldfähigkeit, Entschuldigungsgründe usw.) 4. Sorgfaltspflichten: a) Die objektiv zu erwartende Sorgfalt hat einen inneren und einen äußeren Aspekt: Der innere Aspekt betrifft die Beachtung der mit einem Verhalten verbundenen Risiken, der äußere Aspekt die daraus resultierende Begrenzung der Risiken auf ein sozial adäquates und rechtlich tolerables Maß durch die Ergreifung der hierzu erforderlichen Sorgfaltsmaßnahmen. Motto: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt (Burkhardt in: Wolter/Freund, Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem, 1996, 99 [127]). aa) Frage beim zweistufigen Aufbau: Welche Maßnahmen würde ein gewissenhafter und einsichtiger Angehöriger des betreffenden Verkehrskreises (h.m: unter Berücksichtigung eines eventuellen Sonderwissens des Täters) ergreifen, um die Erfolgsrelevanz eines Verhaltens zu erkennen (innere Sorgfalt) und auf ein erlaubtes Risiko zu reduzieren (äußere Sorgfalt)? Lit.: BVerfG GA 1969, 246; BGHSt 20, 315 [321]; Jescheck/Weigend 55 I 2 b. Entbehrlich, wenn es besondere Sicherheitsregelungen gibt. bb) Frage beim einstufigen Aufbau: Welche Maßnahmen würde ein gewissenhafter und einsichtiger Angehöriger des betreffenden Verkehrskreises, der über das Wissen des Täters verfügt, ergreifen, um die Erfolgsrelevanz eines Verhaltens zu erkennen (innere Sorgfalt) und auf ein erlaubtes Risiko zu reduzieren (äußere Sorgfalt)? b) Typische Sorgfaltspflichten: Prüfungspflichten bei der Übernahme riskanter Tätigkeit (sog. Übernahmefahrlässigkeit ); Kontroll- und Überwachungspflichten; Erkundigungspflichten; besondere Vorsorgepflichten (Unfallverhütungsvorschriften, Berufsausübungsregeln usw.). c) Einschränkungen der objektiven Fahrlässigkeit: 3

Fall 2: A leiht seinem ungeschickten Nachbarn N ein Beil aus, mit dem sich dieser was A nicht angenommen hatte beim Holzhacken versehentlich verwundet. Soziale Adäquanz: Ausschluss von sozial üblichen (insbesondere völlig ungefährlichen) Verhaltensweisen aus dem Bereich strafrechtlich relevanter Handlungen (näher hierzu Cancio- Meliá GA 1995, 179 ff.; NK-Paeffgen Vor 32 Rn. 28 ff.); damit liegt in Fall 2 bereits kein Sorgfaltsverstoß vor. Fall 3: A hält mit seinem Pkw die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Plötzlich tritt (verkehrswidrig) ein Fußgänger auf die Straße, den A verletzt, weil er weder bremsen noch ausweichen kann. Einhalten des erlaubten Risikos : Keine Haftung für Schadensfolgen, die trotz Einhaltung der einschlägigen Sicherheitsregeln ( Sorgfaltsnormen ) eintreten. Vertrauensgrundsatz: Nicht objektiv zurechenbar sind kausale Folgen von Verhaltensweisen, die erst im Zusammenhang mit Umständen (insbesondere dem Verhalten Dritter), auf deren Ausbleiben der Täter vertrauen durfte, zur Erfolgsverursachung geführt haben. Der Vertrauensgrundsatz gilt insbesondere in Bereichen, in denen sich Risiken nur auf ein tolerables Maß reduzieren lassen, wenn alle Beteiligten die einschlägigen Sicherheitsregeln (Sorgfaltsnormen) einhalten, z.b. im Straßenverkehr oder bei chirurgischen Operationen (vgl. auch BGH StV 1988, 251; NJW 1998, 1802). So darf sich etwa ein Kraftfahrer darauf verlassen, dass ein Wartepflichtiger seine Vorfahrt beachtet (vgl. BGHSt 7, 118 [121 f.]). Der Vertrauensgrundsatz wird teils auf das erlaubte Risiko (Roxin 24/11, 22), teils auf das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit (Jakobs 7/51) gestützt. Der Vertrauensgrundsatz gilt nicht, wenn aufgrund der konkreten Umstände Vertrauen nicht angebracht ist (vgl. BGHSt 7, 118; 13, 169; Roxin AT I 24/23; SK-Rudolphi Vor 1 Rn. 73 f. jew. m.w.n.), weil sich ein anderer ersichtlich nicht an die einschlägigen Regeln hält ein anderer ersichtlich nicht in der Lage ist, das Risiko zu überschauen (Kind) oder zu beherrschen (Betrunkener). sich der Täter selbst verkehrswidrig verhält. Fall 4: Der von X bei einem Verkehrsunfall infolge überhöhter Geschwindigkeit verletzte Y erstickt bei einem nächtlichen Brand des Krankenhauses, in das er zur Behandlung verbracht wurde. Nach den Prüfungsschritten Kausalzusammenhang und Sorgfaltspflichtverletzung ist in einem dritten Schritt festzustellen, ob sich die bei Einhaltung der erforderlichen (inneren) Sorgfalt erkennbare Gefahr auch tatsächlich im eingetretenen Erfolg realisiert hat. Wenn sich die Prognose ex ante und die Kausalanalyse ex post decken, kann man den Erfolg als durch das Täterverhalten adäquat verursacht bezeichnen. Der konkrete Erfolg war dann zum Tatzeitpunkt (objektiv) vorhersehbar. Das Erfordernis der Vorhersehbarkeit des erfolgsbedingenden Kausalverlaufs ergibt sich bei der Fahrlässigkeit aus dem Schutzzweck der Sorgfaltspflicht: Die im Verkehr erforderliche 4

Sorgfalt ist zu beachten, um eine Tatbestandsverwirklichung erkennen und vermeiden zu können. Nur wenn der Erfolg aufgrund von Umständen eintritt, die zum Zeitpunkt der Tat erkennbar waren, kann dem Täter der Vorwurf gemacht werden, er hätte die entsprechende Gefahr erkennen und vermeiden können. In Fall 4 realisieren sich im Tod des O nicht die Umstände, derentwegen das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit als gefährlich angesehen wird. Denn diese Gefährlichkeit bezieht sich nicht auf den Krankenhausaufenthalt als solchen, sondern nur auf die Verletzungen, die O erlitten hat und die im konkreten Fall zur kausalen Erklärung des Todes nichts beitragen. Fall 5: Autofahrer A fährt mit 90 km/h auf einer Straße, auf der eine Höchstgeschwindigkeit mit 60 km/h zulässig ist. Plötzlich betritt der Fußgänger F verkehrswidrig die Fahrbahn und wird von A, der nicht mehr bremsen oder ausweichen kann, erfasst; F erleidet tödliche Verletzungen. A hätte auch bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h nicht mehr bremsen oder ausweichen können. Da A den Unfall auch dann nicht hätte vermeiden können, wenn er die zulässige Geschwindigkeit eingehalten hätte, ist der Erfolg nicht durch die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erklärbar. Der Erfolg ist nicht zurechenbar. Grundsatz: Wenn der Erfolg auch bei erlaubt riskantem (pflichtgemäßem) Alternativverhalten nicht vermeidbar war, resultiert der Erfolg nicht aus dem das Unerlaubte des Risikos begründenden Umstand (= fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang). Aber: Fall 6: Pkw-Fahrer P verursacht den Tod eines auf die Fahrbahn tretenden Fußgängers. P fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit; im Nachhinein lässt sich jedoch nicht mehr klären, ob bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit rechtzeitiges Bremsen möglich gewesen wäre. Nach h.m. ist ein Risikozusammenhang nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu verneinen, wenn nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (ex post) festgestellt werden kann, dass der Erfolg bei pflichtgemäßem Alternativverhalten vom Täter vermeidbar gewesen wäre (BGHSt 11, 1 [6]; 37, 106 [127]; BGH NStZ 1987, 505; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben 15 Rn. 177 f., Jakobs 7/98 ff.). Argument: Nur auf diese Weise lasse sich begründen, dass der Erfolg gerade aus der tatbestandsspezifischen Gefahrschaffung resultiere, also nicht auch als Folge eines erlaubten Verhaltens zu erklären sei. Nach der sog. Risikoerhöhungslehre reicht für die objektive Zurechnung bei bestehender Kausalität zwischen Täterverhalten und Erfolg eine erhebliche Steigerung der Erfolgsgefahr aus (SK-Rudolphi Vor 1 Rn. 65 ff.; ähnlich NK-Puppe Vor 13 Rn. 224). Argument: Wenn der Täter das tolerierbare Risiko überschreitet, bestehe kein Grund mehr, ihn von den Folgen zu entlasten (näher zur Begründung Roxin AT I 11/88 ff.). Fall 7: Zahnarzt Z zieht der Patientin P zwei Backenzähne, wobei er ihr, auf deren Wunsch, eine Vollnarkose gibt. Dem Hinweis der P, dass sie "etwas am Herzen habe", schenkt A keine weitere Bedeutung. Nach wenigen Minuten tritt Herzstillstand bei P ein; Rettungsmaßnahmen durch Ärzte des nahe gelegenen Krankenhauses bleiben ohne Erfolg. Ob die Gefahr eines Herzstillstands bei der gebotenen Untersuchung durch einen Internisten erkannt worden wäre, ist ungewiss (nach BGHSt 21, 59). 5

222 (üblicher Aufbau) I. Tatbestand 1. Erfolg, Handlung, Kausalität (+) 2. Sorgfaltspflichtverletzung (+), da keine Untersuchung veranlasst 3. Vorhersehbarkeit (+) 4. Vermeidbarkeit = Entfallen des Erfolgs bei pflichtgemäßem Alternativverhalten? Problem: Lebensverlängerung, wenn P noch untersucht worden wäre? Problem: Risikoerhöhungslehre? II. RW III. Schuld 1. Individuelle Vorhersehbarkeit des erfolgsverursachenden Kausalverlaufs 2. Individuelle Fähigkeit zu sorgfaltsgemäßer Erfolgsvermeidung 3. Zumutbarkeit sorgfaltsgemäßen Verhaltens 4. Sonstige Schuldmerkmale (Schuldfähigkeit, Entschuldigungsgründe usw.) Ergebnis: 222 ( ) Skizze: Objektive Fahrlässigkeit Objektiver Sorgfaltsverstoß Objektive Vorhersehbarkeit Objektive Vermeidbarkeit entfällt bei entfällt bei entfällt bei sozialadäquaten Verhaltensweisen fehlender kausaler Adäquanz kein Pflichtwidrigkeitszusammenhan g Einhaltung des erlaubten Risikos 5. Formen der Fahrlässigkeit: Fall 8: A sieht das Verkehrsschild, das auf eine gefährliche Kurve hinweist, glaubt aber in der Lage zu sein, sein Fahrzeug auch in gefährlichen Kurven bei hoher Geschwindigkeit sicher steuern zu können. Bewusste Fahrlässigkeit ( luxuria ): Täter erkennt zwar das Risiko einer Tatbestandsverwirklichung, schätzt dieses Risiko aber pflichtwidrig falsch ein, indem er es irrig für zu gering und damit nicht entscheidungserheblich hält oder aufgrund unzutreffender Annahmen darauf vertraut, es werde sich nicht realisieren. 6

Fall 9: A übersieht das Verkehrsschild, das auf eine gefährliche Kurve hinweist, weil er in ein intensives Gespräch mit seinem Beifahrer versunken ist. Unbewusste Fahrlässigkeit ( neglegentia ): Täter verkennt pflichtwidrig, dass er das Risiko einer Tatbestandsverwirklichung setzt. Beachte: Die Unterscheidung von bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit ist im Rahmen der Zurechnung ohne Bedeutung. Leichtfertigkeit (vgl. 251 StGB): gesteigerte Form der (nicht notwendig bewussten) Fahrlässigkeit. Sie ist insbesondere anzunehmen, wenn dem Täter die Gefährlichkeit seines Verhaltens unschwer, also schon bei geringem Interesse an der Vermeidbarkeit des Erfolges, erkennbar war. 7