Rente 9. Zum Eigentumsschutz beim rentenrechtlichen Beitragserstattungsanspruch von Ausländern * Mit der Nicht-Annahme-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu drei Verfassungsbeschwerden von türkischen Arbeitnehmern[1] geht eine jah relange Diskussion über die sozialpolitischen Folgen der Rückkehrförderungsge setzgebung von 1983/84 vorerst zu Ende. Es wurde seinerzeit bemängelt, daß die Ausländer, vor allem die Türken bei der rentenrechtlichen Beitragserstattung nur den Arbeitnehmeranteil zurückerhielten. Mit dieser Entscheidung steht jetzt fest, daß keine weiteren Finanzierungsbeiträge von seiten der Rentenversicherungsträ ger an die türkischen Arbeitnehmer gezahlt werden, die inzwischen auch aus Anlaß der finanziellen "Anreize" des Gesetzes über die Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern wieder in die Türkei zurückgekehrt sind. Aber auch für andere Gruppen, die zur Beitragserstattung berechtigt sind, weil sie keine Rentenanwartschaft mehr begründen können, hat die Entscheidung große Bedeu tung. Sie verneint die für die Betroffenen entscheidende Frage nach einer höheren Erstattungssumme. Das Rückkehrförderungsgesetz hatte vorübergehend die sonst übliche War tefrist von zwei Jahren beseitigt, die Ausländer warten mußten (und dies jetzt auch wieder müssen), bis sie ihren Anspruch auf Erstattung von Rentenversiche rungsbeiträgen geltend machen konnten bzw. können. Aufgrund der inzwischen in Kraft getretenen Neufassung des deutsch-türkischen Abkommens über soziale Sicherheit2 können türkische Arbeitnehmer (im Falle ihrer Rückkehr nach dem 17.3.1987) bei Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Türkei keine Beitragserstattung mehr geltend machen. Wer keine versicherungspflichtige Beschäftigung aufnimmt, erhält wie bisher auf Antrag (jedoch erst zwei Jahre nach Beendigung der letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Bundesrepublik) eine Beitragserstattung. Damit ist die soziale Relevanz der Bei tragserstattung für Türken eingeschränkt. file:///d /Sieveking%20HTML/PDF%20ohne%20Fußnoten/habil29.htm (1 von 6)12.02.2004 11:08:00
Aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zum verfassungs rechtlichen Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen überrascht die hier getroffene Entscheidung. Das Gericht hatte entschieden, daß eine renten versicherungsrechtliche Position dann dem Schutz des Art. 14 GG unterfällt, wenn 1. eine vermögenswerte Rechtsposition gegeben ist, die nach Art des Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeord net ist, 2. diese Rechtsposition auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht und 3. die Position der Existenzsicherung des Positionsinhabers im Sinne ei ner Freiheitsverbürgung dient3. Das Gericht hatte dies für solche Rechtspositionen der Versicherten nach Begründung des Rentenversicherungsverhältnisses angenommen, die bei der Er füllung weiterer Voraussetzungen (z.b. Ablauf der Wartezeit, Eintritt des Versi cherungsfalles) zum Vollrecht erstarken können, also bei Rentenanwartschaften. Das BVerfG hatte vor diesem Beschluß in einer weiteren Entscheidung klargestellt4, daß zu der nicht unerheblichen eigenen Leistung der Versicherten auch die vom Arbeitgeber gezahlten Beitragsanteile gehören. Angesichts dieser Rechtsprechung hätte geklärt werden müssen, ob die Beitragserstattung als Re gelleistung der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. 1235 Ziff. 4 RVO) von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt wird. Als kapitalisierte Rentenanwartschaft darf sie verfassungsrechtlich keinem anderen Eigentumsschutz unterfallen als die Renten anwartschaft. Mit einer entsprechenden Bedeutungsfestlegung hätte die Kammer auch das Kriterium des Eingriffs anders bewerten müssen. Anliegen der Antragsteller war es, fest-zustellen, ob nicht die mangelnde Berücksichtigung des Ar beitgeberanteils bei der Beitragserstattung als Eingriff zu werten sei. Das BVerfG verneint eine Verletzung des Art. 14 GG mit dem Hinweis dar auf, daß es jedenfalls an einem Eingriff des Gesetzgebers in das Eigentum der Be schwerdeführer fehle. Ohne daß die vom Gericht selbst entwickelten Kriterien für eine verfassungsrechtlich geschützte soziale Rechtsposition auf den Beitragser stattungsanspruch angewendet werden, file:///d /Sieveking%20HTML/PDF%20ohne%20Fußnoten/habil29.htm (2 von 6)12.02.2004 11:08:00
heißt es lapidar, daß nur Ansprüche und Anwartschaften von Art. 14 GG geschützt seien, "wie sie sich aus der jeweiligen Gesetzeslage ergeben". Diese Argumentationsweise überrascht, weil damit die vom BVerfG im Rahmen des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes sozialer Rechtspositionen entwickelte Rechtsstellungsgarantie leerläuft. Denn mit dieser Begründung wird die Rechtsstellungsgarantie (Eigentumsschutz der sozialen Rechtsposition) gar nicht mehr am Maßstab der Verfassung gemessen bzw. der Überprüfung durch die Kriterien unterzogen, die die Verfassung in der Inter pretation des BVerfG selbst nahelegt. Die bisherige Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 14 GG spricht dafür, daß die Beitragserstattung als Äquivalent für eine erworbene Rentenanwartschaft dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG unterfällt. Problematisch und fraglich ist es ge rade, wo die Grenzen eines zulässigen Eingriffs in diese eigentumsgeschützte Rechtsposition liegen. Das BVerfG nennt keinen Grund dafür außer dem der durch die jeweilige Gesetzeslage geschützten Anspruchsposition. Die fehlende Einbeziehung des Arbeitgeberanteils spricht gegen die Zulässigkeit eines so weit gehenden Eingriffs in die geschützte Rechtsstellung, weil damit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes verletzt wird[2]. Bei der Inhalt- und Schrankenbestimmung hätte der Gesetzgeber Arbeit nehmer- und Arbeitgeberanteile des Rentenversicherungsbeitrages berücksichti gen müssen. Daß die bisherigen Beitragserstattungsregeln in der RVO nur die Hälfte der Beiträge vorsahen, ist kein überzeugender und letztlich ausschlagge bender Grund für die Ablehnung einer höheren Erstattungssumme. Als Begrün dung für einen derart weiten Eingriff wird vor allem das Argument der Risikotra gung seitens der Rentenversicherung angeführt. Derartige Überlegungen gehen implizit von versicherungsmathematischen Modellrechnungen aus, die in der ge setzlichen Regelung der Beitragserstattung keine Berücksichtigung gefunden ha ben. Die vor der Altersund Invaliditätsgesetzgebung von 1889 entwickelten Mo delle betrieblicher Altersversorgung (z.b. die Sozialkassen der ersten Eisenbahn gesellschaften um die Mitte des letzten Jahrhunderts) zeigen, daß die Beitragser stattung ursprünglich nach dem Versicherungsprinzip, also nicht nach dem nie weiter hinterfragten "Halbe/Halbe"-Grundsatz erfolgte6. Der historische Gesetz geber der RVO hat in der Tat auch vor 1957 keine höhere file:///d /Sieveking%20HTML/PDF%20ohne%20Fußnoten/habil29.htm (3 von 6)12.02.2004 11:08:00
Beitragserstattungsregel anerkannt. Allerdings hat es schon 1889 und auch 1956 Gesetzesänderungsan träge gegeben, die eine hälftige Beitragserstattung als zu gering erachteten. Folgt man der hier vertretenen Meinung, daß auch die Beitragserstattung den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz genießt, sind die im Rahmen des Art. 3 GG relevanten Gesichtspunkte schon weitgehend in der eigentumsrechtli chen Argumentation mitgedacht. Folgt man dem BVerfG, dann überzeugen die Argumente, die eine Verletzung des Art. 3 GG in Abrede stellen, nicht. Dieses Grundrecht ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten anders be handelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (st.rspr.). Der Kammer ist darin zuzustimmen, daß die Beschwerdeführer gegenüber anderen Normadressaten, für die eine Beitrags-erstattung vorgesehen ist, nicht be nachteiligt werden. Es fragt sich aber, ob die ungleiche Behandlung von denjeni gen, die eine Beitragserstattung wählen, gegenüber denjenigen, die die Rente er halten, insofern gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt, als bei der Bei tragserstattung die vom Arbeitgeber bezahlten Beitragsanteile nicht berücksichtigt werden, während dies bei der Rentenberechnung geschieht. Zu der vom BVerfG dazu herangezogenen Rechtfertigung ist zunächst festzustellen, daß Rentenge währung und Beitragserstattung in ihrer sozialen Vorsorgefunktion gerade doch vergleichbar sind. Denn letztere ist als Ersatz für sozialversicherungsrechtlich nicht mehr realisierbares Alterseinkommen anzusehen (kapitalisierte Rentenan wartschaft); insoweit bleibt die Unterhaltsersatzfunktion erhalten. Des weiteren ist zu bezweifeln, ob das von der Kammer erwähnte wirt schaftliche Argument, daß die Erstattung der hälftigen Beiträge gegenüber der Rentengewährung auf Grundlage voller Beiträge wirtschaftlich nicht ungünstiger sein müsse, überhaupt ein sachlicher Grund für die Differenzierung sein kann. Auf dem Hintergrund der wesentlich niedrigeren durchschnittlichen Lebenser wartung türkischer Männer (58 Jahre; Frauen: 63 Jahre) haben gerade die türki schen Rückkehrer (in der Mehrzahl Männer) ein berechtigtes Interesse daran, ihre Renten-anwartschaften zu einem Zeitpunkt zu realisieren, der sie noch in den Ge nuß file:///d /Sieveking%20HTML/PDF%20ohne%20Fußnoten/habil29.htm (4 von 6)12.02.2004 11:08:00
ihrer Altersvorsorgeleistungen kommen läßt. Denn die deutschen Ren ten(anteile) können in der Türkei nur unter den Voraussetzungen der für die Al tersrenten geltenden Vorschriften der RVO in Anspruch genommen werden, also in einem Alter, das bei den Männern doch erheblich über der durchschnittlichen Lebenserwartung liegt. Das Differenzierungskriterium der Wirtschaftlichkeit bei der Gegenüberstellung von hälftiger Beitragserstattung und Rentengewährung auf der Grundlage voller Beiträge ist demnach nicht überzeugend. Ein solches könnte allenfalls darin gesehen werden, daß die Beitragserstattung für Ausländer, die in ihr Herkunftsland zurückkehren, bei der Berechnung ihrer vorzeitig kapitalisierten Rente nicht besser gestellt werden sollen als die, die ihre Rente exportieren. Die für einen derartigen Vergleich möglicherweise heranzuziehende Vorschrift des 1323 RVO geht davon aus, daß ein berechtigter Ausländer 70% des Rentenbetra ges erhält, der sich nach Anwendung der 1318-1321 RVO ergibt (bestehende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit selbst dieser Vorschrift sollen nicht uner wähnt bleiben). Wegen des bei der Beitragserstattung nicht geleisteten Äquivalents und erst recht aufgrund der Verfassungsrechtsprechung zum Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen stellt sich die Frage, ob man heute den Anspruch auf Beitragser stattung noch als eine Billigkeitsregel verstehen kann. Auf dem Hintergrund der historischen Gegebenheiten, einschließlich dem der ausländerpolitischen Ent wicklung seit den 60er Jahren, hätte der deutsche Gesetzgeber eine wie ich es nennen möchte "interkulturelle Verantwortlichkeit" gehabt, spätestens bei der Gesetzgebung zur Rückkehrförderung eine angemessene Beitragserstattung fest zulegen, die der renten- und eigentumsrechtlichen Entwicklung entspricht. Sowohl das Sozialstaatsgebot als auch die internationalrechtliche Entwicklung (Menschenrechtspakte, Europäische Sozialcharta) hätten ein "geschärftes Weltso zialgewissen" (Wannagat) des deutschen Gesetzgebers wirksam werden lassen müssen. Im Rahmen einer entsprechenden Gesetzesnovellierung hätte es sich an geboten, bei der Berechnung von Beitragserstattungssummen die den Eigentums schutz berücksichtigenden versicherungsmathematischen Modelle zugrundezule gen, die auch in anderen Bereichen der Rentenversicherung üblich sind. Der Kammerbeschluß bedeutet auch auf dem Hintergrund der Auslands rentenentscheidung file:///d /Sieveking%20HTML/PDF%20ohne%20Fußnoten/habil29.htm (5 von 6)12.02.2004 11:08:00
des BVerfG7 eine Abkehr von der Rechtsprechung zum verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen, soweit diese auch die Arbeitgeberanteile des Rentenversicherungsbeitrags als vom Eigentums schutz des Art. 14 GG mit umfaßt ansieht. Der Beschluß hat zur Folge, daß man gels erforderlicher Nachzahlungen die deutschen Rentenversicherungsträger fi nanziell entlastet werden; auch die Politiker sind bei den Verhandlungen mit der Türkei keinen weiteren Forderungen ausgesetzt. Alle zukünftigen Anspruchsbe rechtigten werden in ihren berechtigten Hoffnungen auf eine angemessene Beitragserstattung durch eine äquivalente Berechnung ihrer Eigenleistungen ent täuscht. * Veröffentlicht in: Neue Juristische Wochenschrift 1988, S. 246-248. [1] BVerfG NJW 1988, S. 250. 2 Gesetz vom 11.12.1986, BGBl. 1986 II S. 1038. [2] Vgl. BVerfGE 69, S. 272 ff. (300 ff.) = NJW 1986, S. 39 ff. [2] BVerfG NJW 1986, S. 1159. 5 So jetzt auch H.-J.v. Einem, Die Verfassungswidrigkeit der Beitragserstattungsvorschriften ( 1303 RVO), ZfS 1986, S. 328 ff. 6 Ausführlich dazu K. Sieveking, Die Erstattung von Rentenversicherungsbeiträgen an Auslän der, Baden-Baden 1987. [3] BVerfGE 51, S. 1 ff. = NJW 1979, S. 2295 ff. file:///d /Sieveking%20HTML/PDF%20ohne%20Fußnoten/habil29.htm (6 von 6)12.02.2004 11:08:00