DOSSIER. Polysystemtheorie



Ähnliche Dokumente
Dossier: Polysystemtheorie

Medienrecht und Persönlichkeitsrecht

Pädagogik. Sandra Steinbrock. Wege in die Sucht. Studienarbeit

Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die Werbung (German Edition)

Gliederung. Stil als Wahrscheinlichkeitsbegriff

Killy Literaturlexikon: Autoren Und Werke Des Deutschsprachigen Kulturraumes 2., Vollstandig Uberarbeitete Auflage (German Edition)

Englische Schule und Konstruktivismus im Vergleich

Analyse und Interpretation der Kurzgeschichte "Die Tochter" von Peter Bichsel mit Unterrichtsentwurf für eine 10. Klassenstufe (German Edition)

Indien: Postkoloniale Demokratie

Frauenrechte im Islam

INTERKULTURALITÄT VS. TRANSKULTURALITÄT. ein Versuch der Standortbestimmung

Instabilität und Kapitalismus

Wie man heute die Liebe fürs Leben findet

Risikogovernance: politikwissenschaftliche Perspektiven auf den Umgang mit Risiken

Was können wir wissen?

TEIL 13: DIE EINFACHE LINEARE REGRESSION

Schöpfung als Thema des Religionsunterrichts in der Sekundarstufe II (German Edition)

Modellvorstellungen zur Gruppenentwicklung

Sinn und Aufgabe eines Wissenschaftlers: Textvergleich zweier klassischer Autoren (German Edition)

ELEMENTE / TEILE EINER VWA Empfehlungen zur formalen Gestaltung

Warum nehme ich nicht ab?: Die 100 größten Irrtümer über Essen, Schlanksein und Diäten - Der Bestseller jetzt neu!

ARBEITEN MIT LITERATUR. Warum Literaturarbeit?

Ausführliche Unterrichtsvorbereitung: Der tropische Regenwald und seine Bedeutung als wichtiger Natur- und Lebensraum (German Edition)

vcdm im Wandel Vorstellung des neuen User Interfaces und Austausch zur Funktionalität V

Die Erlebnisgesellschaft von Gerhard Schulze und das Sinus-Milieu-Modell: Eine vergleichende Betrachtung (German Edition)

Sprachstatistik: Das Zipf sche Gesetz

Design-based research in music education

Praktikum Experience Design From Experience Story to Scheme

Mathematik für Wirtschaftswissenschaftler: Basiswissen mit Praxisbezug (Pearson Studium - Economic BWL) (German Edition)

German translation: technology

Killy Literaturlexikon: Autoren Und Werke Des Deutschsprachigen Kulturraumes 2., Vollstandig Uberarbeitete Auflage (German Edition)

Elemente der Narratologie

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Leseübungen: Über mich. Das komplette Material finden Sie hier:

參 考 書 目 現 象 學 及 其 效 應, 北 京 : 三 聯,1994 現 象 學 概 念 通 釋, 北 京 : 三 聯,1999

The verbose-note style

Duell auf offener Straße: Wenn sich Hunde an der Leine aggressiv verhalten (Cadmos Hundebuch) (German Edition)

Einführung in die Phonetik und Phonologie. Allgemeiner Überblick

Methoden des Wissenschaftlichen Arbeitens Vorlesung im SS VL 5: Strategien der Forschung 1: Korrelative Forschung

Seminar: Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft oder der Wille zum Sozialen

Max und Moritz: Eine Bubengeschichte in Sieben Streichen (German Edition)

DIBELS TM. German Translations of Administration Directions

Social Innovation and Transition

Die UN-Kinderrechtskonvention. Darstellung der Bedeutung (German Edition)

Die einfachste Diät der Welt: Das Plus-Minus- Prinzip (GU Reihe Einzeltitel)

Wer bin ich - und wenn ja wie viele?: Eine philosophische Reise. Click here if your download doesn"t start automatically

Im Fluss der Zeit: Gedanken beim Älterwerden (HERDER spektrum) (German Edition)

Wissenschaftliches Arbeiten

Ein Stern in dunkler Nacht Die schoensten Weihnachtsgeschichten. Click here if your download doesn"t start automatically

PONS DIE DREI??? FRAGEZEICHEN, ARCTIC ADVENTURE: ENGLISCH LERNEN MIT JUSTUS, PETER UND BOB

SURFEN WIE IM FILM? - ZUR QUASI-LINEAREN BEDEUTUNGSKONSTRUKTION IN ONLINE-DISKURSEN

Hochschule Esslingen. Modulbeschreibung TBB Internationale Technische Betriebswirtschaft. Inhaltsverzeichnis. Kanalstr Esslingen

Bele Marx & Gilles Mussard. Transposition und künstlerische Interpretation der Forschungsarbeiten des CNRC zur Mona Lisa.

Interkulturalität in der alternden Gesellschaft

Geschichte der Philosophie im Überblick: Band 3: Neuzeit (German Edition)

Flow - der Weg zum Glück: Der Entdecker des Flow-Prinzips erklärt seine Lebensphilosophie (HERDER spektrum) (German Edition)

10. Versuch: Schiefe Ebene

Handbuch der therapeutischen Seelsorge: Die Seelsorge-Praxis / Gesprächsführung in der Seelsorge (German Edition)

CNC ZUR STEUERUNG VON WERKZEUGMASCHINEN (GERMAN EDITION) BY TIM ROHR

A Classification of Partial Boolean Clones

Abschlusstest der Unterrichtseinheit Astronomische Entfernungsbestimmung

GOLDENER SCHNITT UND FIBONACCI-FOLGE

EU nimmt neues Programm Mehr Sicherheit im Internet in Höhe von 55 Millionen für mehr Sicherheit für Kinder im Internet an

Burnout bei Beschäftigten und Führungskräften im Personalbereich

L e s e p r o b e V e r l a g L u d w i g saskia heber Das Buch im Buch Selbstreferenz, Intertextualität und Mythenadaption

Deskriptive Statistik Kapitel IX - Kontingenzkoeffizient

Mathematik: Mag. Schmid Wolfgang & LehrerInnenteam Arbeitsblatt Semester ARBEITSBLATT 7-9. Was ist Wahrscheinlichkeit

Kursbuch Naturheilverfahren: Curriculum der Weiterbildung zur Erlangung der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren (German Edition)

Martin Luther. Click here if your download doesn"t start automatically

Interaktion mit Schülern mit Behinderung. Inklusion

Raoua Allaoui (Autor) Dolmetschen im Krankenhaus Rollenerwartungen und Rollenverständnisse

Was heißt Denken?: Vorlesung Wintersemester 1951/52. [Was bedeutet das alles?] (Reclams Universal-Bibliothek) (German Edition)

VGM. VGM information. HAMBURG SÜD VGM WEB PORTAL USER GUIDE June 2016

Funktion der Mindestreserve im Bezug auf die Schlüsselzinssätze der EZB (German Edition)

Pensionskasse: Vorsorge, Finanzierung, Sicherheit, Leistung (German Edition)

Benjamin Whorf, Die Sumerer Und Der Einfluss Der Sprache Auf Das Denken (Philippika) (German Edition)

Aus FanLiebe zu Tokio Hotel: von Fans fã¼r Fans und ihre Band

Rules Of Play Game Design Fundamentals Was sind Spiele?

Der Wandel der Jugendkultur und die Techno-Bewegung

Sagen und Geschichten aus dem oberen Flöhatal im Erzgebirge: Pfaffroda - Neuhausen - Olbernhau - Seiffen (German Edition)

Makroökonomie I/Grundlagen der Makroökonomie

APPENDICES, VOCABULARY, INDEX

Inequality Utilitarian and Capabilities Perspectives (and what they may imply for public health)

42 Zitate großer Philosophen: Über das Leben, das Universum und den ganzen Rest (German Edition)

DAS ERSTE MAL UND IMMER WIEDER. ERWEITERTE SONDERAUSGABE BY LISA MOOS

Unit 5. General Certificate of Education January 2003 Advanced Level Examination. Wednesday 29 January 2003 Afternoon Session. Time allowed: 2 hours

4.1 Grundlagen der psychologischen Diagnostik. Wintersemester 2008/ 2009 Hochschule Magdeburg-Stendal (FH) Frau Prof. Dr. Gabriele Helga Franke

Guidance Notes for the eservice 'Marketing Authorisation & Lifecycle Management of Medicines' Contents

EMBEDDED READING NYSAFLT COLLOQUIUM/ROCHESTER REGIONAL

Diversifikation und Kernkompetenzen

MATHEMATIK - MODERNE - IDEOLOGIE. EINE KRITISCHE STUDIE ZUR LEGITIMITAT UND PRAXIS DER MODERNEN MATHEMATIK (THEORIE UND METHODE) FROM UVK

Volksgenossinnen: Frauen in der NS- Volksgemeinschaft (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus) (German Edition)

Die Intrige: Historischer Roman (German Edition)

Spagate in der Spirale und ihre Anerkennung als Schwierigkeitsteile Difficulty recognition of splits in spiral

6 Zusammenfassung und Ausblick

VIRGINIA CODE 159. Interkulturelle und landeskundliche Aspekte. Schreibmaterial

Der Topos Mütterlichkeit am Beispiel Bertolt Brechts "Der kaukasische Kreidekreis" und "Mutter Courage und ihre Kinder" (German Edition)

Fußballtraining für jeden Tag: Die 365 besten Übungen (German Edition)

Unit 1. Motivation and Basics of Classical Logic. Fuzzy Logic I 6

How to get Veränderung: Krisen meistern, Ängste loslassen, das Leben lieben! (German Edition)

Musterwandel Sortenwandel. Sp r a che in Kom m unik a t ion

Transkript:

Universität Leipzig Philologische Fakultät Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie Seminar: Probleme und Methoden der Übersetzungswissenschaft Sommersemester 2014 Dozent: Prof. Dr. Carsten Sinner Verfasserinnen: Franziska Patzer und Nadja Schaffner Datum: 03. Juli 2014 DOSSIER Polysystemtheorie INHALTSVERZEICHNIS 1. Einleitung 2 2. Die Polysystemtheorie 2 2.1 Geschichte und Entwicklung der Polysystemtheorie nach Even-Zohar 2 2.2 Das Polysystem 3 2.2.1 Stratifikation 3 2.2.2 Stabilität und Instabilität des Systems 4 3. Die Rolle der Übersetzung in der Polysystemtheorie 5 4. Kritik 6 Literaturverzeichnis

1. Einleitung Itamar Even-Zohar, ein israelischer Literaturwissenschaftler an der Universität in Tel Aviv, entwickelte in den 1970er Jahren auf Grundlage der Erkenntnisse des Russischen Formalismus die Polysystemtheorie (PST). Er selbst weist darauf hin, dass seine Theorie noch nicht vollständig ist, sondern lediglich einen Ausgangspunkt darstellt, der weitere Interpretation und Entwicklung möglich macht. Dieses Dossier soll einen kurzen Überblick über den Aufbau und die verschiedenen Komponenten des Polysystems nach Even-Zohar geben. Zunächst soll auf die Entwicklung und den geschichtlichen Hintergrund der Polysystemtheorie eingegangen werden. Weiterhin wird der Begriff des Polysystems im Detail dargestellt und die einzelnen Komponenten erläutert. Auch wird betrachtet, welche Rolle die Übersetzung in der PST einnimmt. Abschließend wird die an Even-Zohars Theorie geübte Kritik angeführt. 2. Die Polysystemtheorie 2. 1 Geschichte und Entwicklung der Polysystemtheorie nach Even-Zohar Die Polysystemtheorie wurde in den 1970er Jahren von dem israelischen Literarturwissenschaftler Itamar Even-Zohar entwickelt. Weiterführende Forschungsarbeit leisteten Gideon Toury, Zohar Shavit und Rakefet Sheffy an der Universität in Tel Aviv. Den Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Theorie stellten für Even-Zohar die Erkenntnisse des Russischen Formalismus (1915-1930) nach Roman Jakobson, Boris Ejkhenbaum und dem Modell der literarischen Evolution von Jurij Tynjanov dar. Den wohl wichtigsten Beitrag leisteten die russischen Formalisten durch die Prägung des Systembegriffs (vgl. Shuttleworth 2009: 176). Diese Vorstellung nahm Even-Zohar in seiner Theorie wieder auf und betrachtet Literatur als dynamisches System (vgl. Even-Zohar 1990: 41). Literarische Texte als Repräsentation einer Kultur existieren nicht zufällig und ohne Bezug auf diese Kultur und zueinander. Vielmehr formieren sie sich ebenso wie die Kultur, die in ihnen repräsentiert ist, zu einem System. (Greiner 2004: 58) Hierbei handelt es sich aber nicht um ein statisches System wie bei Saussure (vgl ebd.:58). Vielmehr, so sagt Even-Zohar, handelt es sich hierbei um semiotic phenomena, i.e. sign-governed human patterns of communication (e.g., culture, language, literature, society) [that] should be regarded as systems rather than conglomerates (Even-Zohar 1979: 288). 2

2.2 Das Polysystem Even-Zohar wählte den Begriff des Polysystems im Gegensatz zu dem von ihm als statisch betrachteten Systembegriff nach Saussure, der von den russischen Formalisten aufgenommen wurde. Er selbst beschreibt das Polysystem folgendermaßen (1979: 290): A semiotic system can be conceived of as a heterogeneous, open structure. It is, therefore, very rarely a unisystem but is, necessarily, a polysystem a multiple system, a system of various systems which intersect with each other and partly overlap, using concurrently different options, yet functioning as one structured whole, whose members are interdependent. Das Polysystem ist also ein offenes, dynamisches und hierarchisches System, das aus verschiedenen Schichten und Systemen besteht und mit anderen (Poly-)Systemen interagiert. Dabei besteht jedes System aus einem Zentrum und einer Peripherie, innerhalb eines Polysystems gibt es also nicht nur jeweils ein Zentrum und eine Peripherie. Even-Zohar untersucht insbesondere das Polysystem Literatur, das dem größeren Polysystem Kultur angehört. Die Voraussetzung für die semiotische Forschung ist dabei, die Systeme immer in ihrem Zusammenhang im Polysystem, also gemeinsam mit ihren benachbarten Systemen, zu untersuchen. Als Beispiel führt Even-Zohar an, dass man Standardsprache nicht erforschen kann, [ ] ohne sie in den Kontext der nicht standardisierten Varietäten zu stellen (2009: 43). 2.2.1 Stratifikation des Polysystems Die einzelnen Systeme bzw. Schichten des Polysystems sind hierarchisch angeordnet und stehen in ständigem Konflikt zueinander. Einzelne Komponenten des Systems drängen von der Peripherie ins Zentrum (zentripetal), wodurch andere Komponenten vom Zentrum an den Rand getrieben werden (zentrifugal). Diese Bewegungen können sich auch zwischen verschiedenen Polysystemen vollziehen, so können einzelne Phänomene auch über die Peripherie eines Polysystems in das Zentrum eines anderen Polysystems gelangen. Diese Transferbewegungen nennt Even-Zohar Konversionen (vgl. Greiner 2004: 58). Man muss zwischen kanonisierten und nicht kanonisierten Schichten unterscheiden, zwischen denen immer Spannungen herrschen. In der Literatur werden bestimmte Texte und Modelle kanonisiert, die [ ] von den dominanten Kreisen einer Kultur als legitim akzeptiert werden und deren sichtbarste Produkte Teil des historischen Erbes der Gemeinschaft werden (Even-Zohar 2009: 46). Demgegenüber werden die nicht kanonisierten Normen und Werke von diesen Kreisen als illegitim betrachtet und geraten langfristig meist in Vergessenheit. Die Spannung zwischen kanonisierten und nicht kanonisierten Repertoires reguliert die Systeme: Kanonisierte Repertoires würden sich ohne die 3

Konkurrenz durch die nicht kanonisierten Herausforderer wahrscheinlich nicht weiterentwickeln und stagnieren. Even-Zohar betont jedoch, dass man zwischen zwei Arten von Kanonizität unterscheiden muss: eine bezieht sich auf Texte, die andere auf Modelle. Er bezeichnet es als statische Kanonizität, wenn ein einzelner Text einer Literatur zugefügt wird, der von der Kultur bewahrt wird. Demgegenüber steht die dynamische Kanonizität, bei der einem Systemrepertoire ein literarisches Modell zugefügt wird, welches sich als produktives Prinzip etablieren kann. Dieser Vorgang ist wichtig für die Dynamik des Systems. Die renommiertesten kanonisierten Repertoires stellen meist das Zentrum des Polysystems dar. Über die Kanonizität der Repertoires entscheidet die dominante Gruppe eines Polysystems. Somit kann diese Gruppe die Kontrolle über das Zentrum des Polysystems behalten. Sie kann allerdings auch von einer anderen Gruppe aus dem Zentrum verdrängt werden (vgl. Even-Zohar 2009: 48). Des Weiteren unterscheidet Even-Zohar zwischen innovativen und konservativen Repertoires. Ein innovatives Repertoire nimmt ständig neue Ideen und Modelle auf und entwickelt sich dadurch. Demgegenüber behält ein konservatives Repertoire die bereits etablierten Modelle bei. Die Produkte, also die Texte, eines innovativen Repertoires bezeichnet er als primär, während die Produkte eines konservativen Repertoires sekundär sind. Die logische Konsequenz ist, dass primäre Modelle, die sich ins Zentrum des kanonisierten Systems drängen, automatisch sekundär werden, da sie nur noch erhalten und nicht mehr weiterentwickelt werden. Sie können also von neuen primären Modellen verdrängt werden. Dadurch wird die Evolution des Systems gewährleistet, wobei Even-Zohar postuliert, dass diese Evolution nicht Ziel des Systems, sondern eine Konsequenz des Wettbewerbs ist, der durch die Heterogenität des Systems entsteht (vgl. Even-Zohar 2009: 52). 2.2.2 Stabilität und Instabilität des Systems Damit ein soziokulturelles System unabhängig von anderen Systemen operieren kann, benötigt es ein ausreichend großes Inventar alternativer Optionen. Wenn es zu keinen fundamentalen Änderungen der Gegebenheiten kommt, ist der Fortbestand des Systems so gesichert. Dabei gibt es allerdings noch keine Daten, wie groß ein ausreichendes Inventar ist. Reicht dieses Inventar nicht aus, werden intersystemische Transfers (Übernahme von Ideen von einem System ins andere, z. B. durch Übersetzung) durchgeführt. Even-Zohar weist allerdings darauf hin, dass Stabilität bzw. Instabilität eines Repertoires nicht mit der Stabilität bzw. Instabilität des Systems gleichgesetzt werden sollten. Ein System, das ständig im kontrollierten Wandel ist und sich somit selbst erhält, ist dabei stabil, während ein System, das sich nicht langfristig selbst erhalten kann, instabil ist (vgl. Even-Zohar 2009: 58 f.). 4

3. Rolle der Übersetzung in der PST Even-Zohar zufolge stellt übersetzte Literatur ein eigenes (Poly-) System im literarischen Polysystem dar. Zwischen den Übersetzungen bestehen Korrelationen zweierlei Arten: einerseits durch die Auswahl der Ausgangstexte in der Zielkultur (dem Zielsystem), die von den Faktoren und Prinzipien der Systeme der Zielliteratur abhängig ist sowie andererseits der Verwendung des Repertoires in Beziehung zu anderen Systemen (vgl. Even-Zohar 2000: 192 f.). Übersetzte Literatur hat in starken Systemen in den meisten Fällen eine sekundäre, konservative Rolle und erhält hauptsächlich traditionelle Modelle. Es gibt allerdings 3 Fälle, in denen übersetzte Literatur eine zentrale Rolle einnehmen kann: (1) In einer jungen Literatur, die sich noch entwickelt, ist übersetzte Literatur von zentraler Bedeutung, da auf diesem Weg Modelle/Textsorten aus anderen Systemen übernommen werden können. (2) Wenn die Literatur in einem System nur eine periphere bzw. schwache Rolle einnimmt, z. B. im Falle einer kleinen Nation, die von der Literatur eines größeren Landes überschattet wird. (3) Im Fall einer Krise, wenn die alten Modelle einer Literatur nicht mehr vertretbar sind, können neue Ideen über die Übersetzung einfließen. (vgl. Even-Zohar 2000: 193 f.) Allerdings stellt Even-Zohar heraus, dass übersetzte Literatur in einem System keine komplett zentrale oder periphere Rolle einnehmen muss. Auch das System Übersetzte Literatur besteht aus verschiedenen Schichten und es ist durchaus möglich, dass ein Teilbereich eine zentrale Position einnimmt, während ein anderer Bereich nur peripher bleibt (vgl. Even-Zohar 2000:195). Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Position der Übersetzung im Polysystem von dessen Konstellation abhängt. Even-Zohar postuliert des Weiteren, dass Translationsforscher sich bisher die falschen Fragen gestellt haben. Seiner Meinung zufolge sollte man die Übersetzung als eine Form des intersemiotischen Transfers betrachten. Somit kann sie in einem weiteren Kontext untersucht und ihre spezifischen Merkmale hervorgehoben werden. Die Übersetzung sollte zudem nicht nur vom Standpunkt der Äquivalenz aus, sondern als eigenständige Einheit im Polysystem betrachtet werden. Da eine Übersetzung durch die systemischen Einschränkungen geformt wird, ist es möglich, Erklärungen für spezifische Übersetzungsprobleme zu finden, z. B. Textfunktionen, die nur in der Ausgangskultur heimisch sind (vgl. Shuttleworth 2009:199). 5

4.Kritik Even-Zohar selbst äußert Kritik an seiner Theorie, indem er klar sagt, dass es sich hierbei um keine in sich abgeschlossene und vollständige Darstellung handelt. Anknüpfend an die Kritik anderer Autoren sollen hier einige Aspekte angeführt werden. Andringa beschreibt den Begriff des Repertoires als gemeinsame[s] Instrumentarium, dessen sich die Aktanten in einem System bei der Produktion und Rezeption literarischer Werke bedienen (2009: 410). Sie weist darauf hin, dass Even-Zohar den Repertoire-Begriff nicht eindeutig bestimmt, sondern meist nur mithilfe von Beispielen darauf Bezug nimmt. In seiner Arbeit verwendet er drei unterschiedliche Definitionen: 1. [R]epertoires are sets of options invented by humans for conducting their lives 2. R. is conceived of here as the aggregate of laws and elements 3. [C]ulture is a repertoire, or toolkit of habits, skills, and styles from which people construct strategies of action Sie weist darauf hin, dass die einzelnen Begriffe, durch die Even-Zohar versucht sein Repertoire zu definieren, zu abstrakt seien und eine Messbarmachung dadurch nicht möglich wird (vgl. Andringa 2009: 460). Even-Zohar erschwert die Lektüre seiner Theorie, da er keine Definitionen für die von ihm verwendete Terminologie gibt und somit Platz für Interpretation lässt. Des Weiteren verwendet er bestimmte Begriffe synonym, ohne diese explizit voneinander abzugrenzen oder im Voraus zu erklären. Dies betrifft z. B. die Verwendung von Schicht und System. Leider wird nicht deutlich, inwieweit die PST Hilfestellung für den praktischen Alltag eines Übersetzers bietet. 6

Literaturverzeichnis Andringa, Els (2009) Grenzübergänge. Das Niederländische Polysystem im Spiegel der Rezeption ausländischer Literatur. In Simone Winko/ Fotis Jannidis/ Gerhard Lauer (Hrsg.): Revision 2. Grenzen der Literatur. Berlin: Walter de Gruyter GmbH & Co.KG Even-Zohar, Itamar (1979) Polysystem Theory In: Poetics Today, Vol. 1, ½, Special Issue: Literature, Interpretation, Communication (1979). Duke University Press, 287-310. Even-Zohar, Itamar (1979/1990) Polysystemtheorie In: Hagemann, Susanne (Hrsg.): Deskriptive Übersetzungsforschung. Berlin: SAXA, 39-61. Even-Zohar, Itamar (2000): "The position of translated literature within the literary polysystem". In: Venuti, Lawrence (Hrsg.) 2000: The Translation Studies Reader. London: Routledge, 192-197. Greiner, Norbert (2004) Grundlagen der Übersetzungsforschung. Übersetzung und Literaturwissenschaft. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 55-60. Shuttleworth, Mark (2009) "Polysystem theory". In: Baker, Mona (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Translation Studies.2. Auflage. London, New York: Routledge, Taylor and Francis Group, 176-179. 7